Situation im Gazastreifen - zu viele Behörden
Amira
Hass, 23-8-07
Die 1,5 Millionen Bewohner des Gazastreifen leben nicht nur wie Gefangene im größten
Gefängnis der Welt, sondern müssen noch
mit den täglichen militärischen Angriffen Israels fertig werden. Täglich müssen
sie Tote begraben. Zwei Kinder wurden am Dienstag getötet und nicht nur die,
die unter dem Verdacht stehen, Qassam-Raketen
abgefeuert zu haben. Und selbst wenn es dieses Abfeuern nicht gäbe, dann gibt
es trotzdem die kurzfristigen Überfälle und Dutzende von Verhafteten, die einen
ganzen Tag lang Demütigungen erdulden
müssen.
Es gibt auch Morde durch die
eigenen Landsleute, wenn auch weniger als während der Fatahperiode. Doch die
Rachegewaltspirale bleibt auch weiterhin eine Bedrohung. Fatahmitglieder werden
verhaftet und gefoltert, und die Hochzeit eines Fatahanhängers wurde von
Hamasbewaffneten überfallen.
Die Wirtschaft ist seit zwei Monaten völlig gelähmt.
Zehntausende Arbeiter im Privatsektor haben in zwei Monaten nicht mal 100 NIS
verdient. Der Export ist gleich Null, weil der Karni-Grenzübergang
geschlossen ist. Die Situation wird noch lange so bleiben, wenn Israels Haltung
gegenüber der Hamas so wie jetzt bleibt.
Wenn die Ersatzteile für
die defekte Pumpe der Abwässeranlage
nicht nach Gaza gebracht werden, wird es noch eine Abwässerüberschwemmungskatastrophe
geben. Es gab keinen Strom, weil die EU darum besorgt ist, dass die Hamas Geld
abzweigt, das für das private Elektrizitätswerk
in Gaza bestimmt ist – und zahlte
darum nicht. Abfallhaufen liegen überall in den dicht bevölkerten Gebieten von
Khan Yunis, Gaza-Stadt und Jabalya.
Die Bewohner verbrennen sie, wenn sie nicht abgeholt werden. Schlecht riechender Rauch verpestet die Luft.
Die Arbeiter der Stadtwerke
wurden seit Januar nicht bezahlt – sie streiken. Auf der andern Seite sind
Zehntausende von Polizisten und Angestellte im öffentlichen Dienst, die nicht
zur Arbeit gehen - auf Befehl der Regierung in Ramallah,
die aber noch immer ihr mageres Gehalt bekommen. Da gibt es Leute, die
arbeiten, aber nicht bezahlt werden, weil sie während der Hamaszeit ihre
Arbeitsstelle erhielten. Wenn jemand seinen Nachbarn der Regierung in Ramallah anzeigt, weil er als Polizist arbeitet, wird
diesem auf der Stelle gekündigt. Das Anzeigen und die Angst davor zerbrechen
die Gesellschaft von innen.
Große Angst kommt nun auf:
was wird geschehen, wenn das Schuljahr beginnt. Die Ramallah
Regierung hat eine Order herausgegeben, dass das Wochenende am Freitag und
Samstag sei, die Gaza-Regierung dagegen dass
es der Donnerstag und Freitag sei. Jedem, der am Samstag arbeitet, wird
das Gehalt eingefroren und jeder der am Donnerstag arbeitet, fürchtet, dass
Hamas ihn belästigen werde. In den meisten Regierungsministerien wird das
Problem so gelöst: es wird ein Drei-Tage-Wochenende geben. Aber die Schulen
können dies nicht durchführen. Einige fürchten nun, dass die Schlacht zwischen
Hamas und Fatah sich auf neue Art und Weise artikulieren wird, nämlich auf dem
Rücken der Schüler und Lehrer.
Die Bewohner des
Gazastreifens sind von zu vielen „zuständigen Behörden“ abhängig: von Israel,
dem Besatzer, der sich vor seiner Verantwortung als Besatzungsmacht
drückt; von der Palästinensischen
Behörde in Ramallah,
die ihre Bürger im Stich lässt, während sie weiter versucht, die
Mehrheitsbewegung zu ächten und sie
fehlschlagen lässt; Hamas, die sich rühmt, Gaza „befreit“ zu haben und
weiter Qassam-Raketen abfeuert und
Widerstandserklärungen abgibt, um ihre politischen und wirtschaftlichen
Fehlschläge zu vertuschen; die sog. Geberstaaten, die „großzügige“ Geldsummen
zur Verfügung stellen, um ihre politische Machtlosigkeit zuzudecken; und die
USA, die die Boykottkampagne anführen und Israel unterstützen.
Diese Vielzahl ( an Autoritäten) ist
verwirrend und gleichzeitig lähmend. Es ist also kein Wunder, dass Gaza in der
Zwischenzeit für den nächsten Schlag reif wird.
(dt. Ellen Rohlfs)