Zwischen staatlicher
Vernachlässigung und fehlendem Bewusstsein
Die
Araber und das israelische Gesundheitssystem
Von
Michal Schwartz
Challenge
In den letzten Jahren ist die Kindersterblichkeit aufgrund des insgesamt hohen
Standards der israelischen Gesundheitsversorgung gesunken, doch der Unterschied
zwischen Juden und Arabern blieb. 2006 starben 3,23 von 1000
jüdisch-israelischen Kindern, von den arabisch-israelischen waren es 7,96 und
bei Beduinen 15,8. Auch Kluft blieb auch bei zwei weiteren Indikatoren: der
Sterblichkeitsrate insgesamt und der Lebenserwartung.
Zur ethnischen Diskriminierung kommt die soziale hinzu. Die Araber in Israel
sind der ärmste Teil der Gesellschaft. Dementsprechend leiden sie am meisten
unter der Privatisierung des Gesundheitswesens.
Arabische
Wohngegend in Adjamee, einem Stadteil
von Jaffa, Israel
Das neue Gesundheitsgesetz
Trotzdem sagen 91 % der Araber in Israel, sie seien mit der
Gesundheitsversorgung des Landes zufrieden.. Der Grund
liegt möglicherweise darin, dass das neue Gesundheitsgesetz von 1994 die
gesamte Bevölkerung unter Strafandrohung verpflichtet hat, sich bei einer
Krankenkasse registrieren zu lassen; die Beiträge sind niedriger als früher bei
der freiwilligen Versicherung und werden direkt vom Gehalt abgeführt. Zuvor
hatten ca. 190.000 Bürger des Landes – meist Araber – überhaupt keine
Krankenversicherung.
Das neue Gesundheitsgesetz teilt den vier Krankenkassen die Gelder entsprechend
der Zahl ihrer Mitglieder zu. Also begannen die Kassen mit der Werbung um
Mitglieder, Sie fanden sie in entlegenen Regionen des Landes und unter den
Arabern, die umgekehrt vom Bau neuer Praxen und damit leichterem Zugang zur
ärztlichen Grundversorgung profitierten.
Den Ärzten für Menschenrechte zu Folge, schien das neue Gesetz zunächst eine
„sehr fortschrittliche Integrationsmaßnahme (…). Doch bald wurde
offensichtlich, dass das Gesetz nur ein weiteres Mittel zur Privatisierung der
Gesundheitsversorgung war.“ Wie sie sagen, gestattete ein Ergänzungsgesetz zum
Haushaltsplan von 1998 den Krankenkassen, „die Preise für Medikamente und
medizinische Versorgung zu erhöhen und neue Beiträge für zusätzliche
Dienstleistungen zu verlangen.“ 15 % aller Israelis berichteten 2005, sie
könnten sich verordnete Medikamente nicht leisten. 2003 erklärten 39 % der
Araber Israels diese entbehren zu müssen.
Die Verbindung zwischen Armut und
Krankheit
Für den schlechten Gesundheitszustand der Araber in Israel sind auch die
fehlende Infrastruktur, die beengten Wohnverhältnisse und die Sprachbarriere,
die ihnen im Gesundheitssystem begegnet, verantwortlich (so findet man z.B. auf
den Websites der Krankenkasse kein einziges arabisches Wort).
Doch der entscheidende Faktor ist die Armut. Zu diesem Schluss kam eine Studie
mit dem Titel „Gleichheit und das israelische Gesundheitssystem: Relative Armut
als Gesundheitsrisiko“ des Taub Center für Sozialpolitische Studien in Israel.
Die Studie stellt fest „das gesundheitliche Niveau in Israel“ gehöre „zu den
höchsten der Welt“. Gleichwohl weist sie darauf hin, dass es extreme
Unterschiede gibt, die in Zusammenhang mit der unterschiedlichen
wirtschaftlichen Lage, Besonderheiten bestimmter Gruppen und der Verfügbarkeit
medizinischer Dienstleistungen stehen. Es gibt Anzeichen dafür, dass diese
Unterschiede zunehmen, wenn sich die derzeitige Entwicklung hinsichtlich der
Einkommensunterschiede, der Subventionierung des Gesundheitssystems und der
Verwendung der Mittel fortsetzt.“ Die Studie besagt, die zunehmende Ungleichheit
verursache „eine Abnahme der Fähigkeit schwacher Bevölkerungsgruppen,
gesundheitlich problematische Situationen zu meistern. (…) Dies gilt (…)
insbesondere für die Randgebiete des Landes und den arabischen
Bevölkerungsteil. Zusätzlich zum negativen Einfluss des Verteilungsmechanismus
leiden sie auch darunter, dass es im Vergleich zu den zentralen Landesteilen
weniger Krankenhäuser und Praxen gibt – obwohl der Gesundheitszustand dieser
Teile der Bevölkerung schlechter ist.“
Sperrmüll in Jaffa, Israel
Die Taub Studie entdeckte sowohl bei Juden als auch bei Arabern einen
Zusammenhang zwischen Sterblichkeitsrate und sozioökonomischem Index. Sie
stellte fest, dass „das Problem unter der arabischen Bevölkerung akuter ist,
weil dort die Armut verbreiteter ist.“ Sie konstatierte auch, dass „schwache
Bevölkerungsgruppen, die unter (relativem) Mangel leiden, besonderen
Risikofaktoren wie Tabak und Alkohol ausgesetzt sind. … Es gibt Hinweise
darauf, dass Gesundheit auch durch psychologische Drucksituationen beeinträchtigt
wird, wie soziale Isolation, niedriger sozialer Status, Druck am Arbeitsplatz
und Arbeitsplatzunsicherheit.“ All dies passt auf die arabische Bevölkerung. Es
schließt sich der Kreis, wenn der Verlust der Gesundheit des Verlust des
Arbeitseinkommen nach sich zieht, ein Ansteigen der Arztkosten und folglich
eine Zunahme der Armut.
Die Gesundheitsausgaben der Familien seien von 3,8 % auf 4,9 % gestiegen. Dies
gehe auf Kosten anderer Ausgaben, wie der Zahnbehandlung, die in den Krankenkasse nicht inbegriffen ist, und verhinderr, dass die Leute die zusätzlichen Ausgaben für
die ergänzende Gesundheitsversorgung auf sich nähmen. 2005 besaßen nur 47 % der
arabischen Bevölkerung eine zusätzliche Krankenversicherung, verglichen mit 79
% der Gesamtbevölkerung.
Fehlender Zugang zu medizinischen
Dienstleistungen
Obwohl die Zahl der Arztpraxen in arabischen Dörfern zunimmt, bleibt der
Unterschied zwischen der jüdischen und arabischen Bevölkerung Israels bestehen.
In einem Artikel des Mossawa Centers im Juli 2007
heißt es, das Entwicklungsbudget des Gesundheitsministeriums belaufe sich auf
225 Millionen Schekel (NIS) – 55 Millionen US-$ – von denen 1,3 Millionen, etwa
0,4 %, für arabische Ortschaften gedacht seien, in erster Linie für den Bau von
Familien-Gesundheitszentren. Dieser Art der Zuteilung ist typisch, jedoch sind
fast 20 % der Gesamtbevölkerung Israels Araber.
2007 veröffentlichte das Mossawa Center Berichte über
die Gesundheitsversorgung während des Libanonkriegs. Diese stellten fest, dass
viele der Probleme, unter denen Araber während und nach dem Krieg litten, ihre
Ursache in fehlender psychologischer Behandlung hatten. Den Schulen z.B. fehle
es in beklagenswertem Maße an Arabisch sprechenden Psychologen. Ebenso fehle es
an Notdiensten, wie Ambulanzen. Die drei Krankenhäuser in Nazareth, die
einzigen arabischen Krankenhäuser in Israel übrigens, seien unzureichend
ausgestattet.
Arabische
Wohngegend im Süden Jaffas
Alle Fotos: Martina Schwarz
Versorgung zweiter Klasse
Seit der Ratifizierung des Gesundheitsgesetzes 1994 können sich Ärzte, die für
dieselbe Krankenkasse arbeiten, zusammentun und eine eigene Praxis eröffnen -
vorausgesetzt jeder von ihnen hat mindestens tausend Patienten in der Kartei.
Die Ärzte arbeiten einen Teil ihrer Zeit in den normalen Praxen und danach
arbeiten sie auf eigene Kosten. Die Krankenkassen weisen ihnen Patienten zu.
Diese Praxen haben den Vorteil der Erreichbarkeit, denn viele von ihnen liegen
in Dorfteilen ohne öffentliche Verkehrsanbindung, und sie bieten die Möglichkeit
einer persönlichen Beziehung zwischen Arzt und Patient. Andererseits entheben
sie die Krankenkassen von der Verantwortung reguläre Polikliniken aufzubauen,
ausgestattet mit Fachärzten und neuester Technik. 40 % der arabischen Patienten
in Israel werden heute in solchen Praxen behandelt.
Patienten, die unter chronischen Erkrankungen, wie Diabetes, Bluthochdruck,
Herzleiden und Krebs leiden, werden an die Polikliniken oder Krankenhäuser
überwiesen, doch die freien Praxen mit ihrem wenigen Personal und ihrer oft
ungenügenden Ausstattung sind nicht in der Lage, die notwendige
Weiterbehandlung durchzuführen. Den Patienten selbst ist im Allgemeinen der
Notwendigkeit von Folgebehandlungen nicht klar. Diese Nachteile, sowie die
weite Entfernung von Fachärzten und einer auf aktuellem Stand befindlichen
Technik, machen einen Großteil der freien Praxen problematisch.
Umfassende Maßnahmen sind notwendig
Shulamit Avni wies auf den
Kern des Problems hin: „Um die fortgesetzte Diskriminierung der palästinensischen
Minderheit in Israel zu beenden, müssen der Staat – und seine diversen Behörden
– eine langfristige Strategie entwickeln und die Verbesserung der Infrastruktur
aktiv fördern. Eine solche Politik darf sich nicht nur darauf aus sein, die
Unterschiede bei der Gesundheit auszugleichen, sondern muss eine erhebliche
Verbesserung der sozioökonomischen Bedingungen im Auge haben (…). Dazu gehören
Einkommens- und Bildungsunterschiede ebenso wie der Zugang zum Arbeitsmarkt.“
(YH)
Michal Schwartz,
eine israelische Journalistin, schreibt u.a. für die
israelische Zeitschrift ,Challenge', in der auch dieser Artikel im englischen
Original entschieden ist. Frau Schwartz forscht und
schreibt u.a. zur Lage der arabischen Bürger Israels
und gilt als Expertin für die Situation der dort lebenden arabischen Frauen.
Aus dem Englischen von Endy Hagen
Online-Flyer Nr.
116 vom 10.10.2007