Andrew Lee Butters, Gaza-Stadt, für Time Magazine, 2.August 2007
Im problematischsten
Stadtteil von Gaza entdeckt Leutnant Naim Ashraf Mushtaha,
31, ein Offizier der Hamastruppe, einen Mann in Zivil, der ein M-16-Gewehr trägt und damit
am hellerlichten Tag durch die Einkaufsstraße geht. Seine Offiziere
kreisen den Verdächtigen schnell ein, fordern ihn auf, seinen Namen zu nennen
und seine Waffe abzugeben. Es stellt sich heraus, dass er ein Mitglied des
mächtigsten Clans ist. Er weigert sich, seine Waffe abzugeben. “Wie heiße ich,
Leute?“ schreit er in die Menge Neugieriger, die sich angesammelt haben. „Mohassi Abbas!“ schreien sie zurück „Seht, alle kennen mich
hier“, sagte er. „Es ist mir egal, wer du bist“ sagt Mushtabah
ruhig, ohne seine Stimme oder seine Waffe zu erheben. „Hier steht keiner über
dem Gesetz.“
Das Gesetz ist nach Gaza
zurückgekehrt. Gerade erst vor zwei Monaten war dieser Küstenstreifen von
Sanddünen und einer Betonwüste Heimat
für 1,5 Millionen Palästinenser, einer der gefährlichsten Orte auf der Welt. Im
Juni übernahm nach ein paar Tagen Bruderkrieg die Hamas, die militante
palästinensische Gruppe, die Kontrolle über den Gazastreifen. Seitdem steht der
Gazastreifen unter israelischer Belagerung. Fast alle Transporte – abgesehen
von Grundnahrungsmitteln – werden nicht hineingelassen und fast nichts kommt
heraus. Die Blockade ist ein Teil der israelischen und amerikanischen
Strategie, um die Hamas in der Hoffnung zu isolieren, dass die Palästinenser sich von den islamistischen Führern abwenden, die Israel nie anerkannten,
und sich der Fatah zuwenden, die bereit
ist, den Friedensprozess neu zu beginnen. Bis jetzt funktioniert der Plan
nicht. Hamas regiert mit freier Hand, wie es ihr gefällt und baut die
Unterstützung des Volkes und die militärischen Fähigkeiten aus, die die
internationale Blockade aushalten kann..
Sicherheit ist der Schlüssel,
um die Hamas zu unterstützen. Innerhalb einer Woche nach der Übernahme sind
Verbrechen, Drogenschmuggel, Stammesfehden und Kidnappings zum größten Teil
verschwunden. Nach Menschenrechtsgruppen war solch ein gutes Ergebnis
gleichzeitig eine Anklage über Korruption und kriminelle geheime Absprachen an
der Spitze der von Fatah beherrschten
Sicherheitskräfte, die bis vor kurzem den Gazastreifen kontrollierten. „Während
der letzten anderthalb Jahre gab es eine orchestrierte Eskalation von Chaos
durch einige bananenrepublikanische Offiziere, um zu belegen, dass die Hamas
keine Kontrolle über den Gazastreifen hat“, sagte Raji
El-Sourani, Direktor des palästinensischen Zentrums
für Menschenrechte. „Gaza wurde wie Somalia, Afghanistan und der Irak. Schläger
und Gangster herrschten hier und einige wurden sogar von unsern eigenen
Sicherheitskräften beschützt“.
Es gab seit der Übernahme ein
paar einzelne Fälle von Verletzungen der Bürgerrechte durch die Hamaskräfte.
Aber Hamas hat keine Scharia-Gerichte
eingesetzt. Ohne irgendeine Hilfe von regulärer Polizei, Anklägern und Richtern – alle waren von der
palästinensischen Regierung an der Rückkehr zu ihrer Arbeitstelle gehindert
worden – versucht Hamas, langsam sich selbst in der Ausübung des
palästinensischen Gesetzes zu üben. Mushtaha und
seine Offiziere verbringen ihre meiste Zeit damit, Strafandrohungen zu
verteilen und den Familien von gesuchten Personen zusagen, die
Verdächtigen mögen sich doch der Polizei stellen. In den Gazaer
Stadtteilen kennt jeder jeden, und es gibt keinen Ort, an dem man sich
verstecken könnte. Gauner können auch nicht nach Israel fliehen.
Auf der Straße herrscht
Friede. Die zivile Gesellschaft kehrt wieder zurück. In der Altstadt von Gaza
sind die Straßen verstopft von Fahrzeugen, die Neuvermählte und ihre Familien
zur Küste zum Festsaal bringen. Nur eines fehlt: die Freudenschüsse. Hamas hat Waffen beim
Feiern verboten. Aber es gibt kein kulturelles Durchgreifen, seitdem die Hamas
den Gazastreifen übernommen hat. Im Gazastreifen war man immer ein
bisschen religiöser und konservativer
als in der übrigen palästinensischen Gesellschaft. Der Alkohol ist hier schon
vor langer Zeit verschwunden. Aber säkulare Frauen, die ohne Kopftuch oder
Schleier durch die Straßen von Gaza gehen, sagen , sie
wurden eher von Kriminellen im alten
Gaza schikaniert als von religiösen Konservativen heute. Gerüchte, dass Hamas
den Barbieren verboten hätte, den Bart zu scheren sind nur Gerüchte. Der
meinige wurde von Hossein Hussuna,
dem Barbier des Hamasführers Ismail Haniya,
abrasiert. Er erzählte mir, dass alle acht Söhne Haniyas
sauber rasiert seien.
Nur wenn Geschäftsleute wie
mein Barbier Erfolg hat, wird Normalität in den Gazastreifen zurückkehren.
Mohamed Telbani besitzt die größte Fabrik in Gaza.
Dort werden Kuchen und Eiskrem hergestellt. Aber er kann auf Grund des
israelischen Embargos weder Roh- und Verpackungsmaterial bekommen noch seine Fertigwaren in die Westbank schicken. „Seit 30 Jahren
habe ich mir diesen Markt aufgebaut – und nun ist alles futsch“ sagte Telbani.
Gaza Strände mögen jetzt voll sein und seine Straßen
sicher, aber seine Industriebetriebe sind geschlossen, und die Läden haben
keine Kunden. Der durch die Belagerung verursachte Schaden ist immens. Die
Arbeitslosigkeit beträgt ca. 44 %; etwa 80% der Bevölkerung erhält
Lebensmittelhilfe von der UN. Nasser El-Helou, ein
Hotelbesitzer und ein Sprecher der Handelskammer, sagte, die
Wirtschaft würde innerhalb von
Wochen zusammenbrechen, wenn die Belagerung anhält.
Doch Gazas Geschäftsleute wie
Telbani und el-Helou –
praktische und unpolitische Männer - sind, was die wirtschaftlichen Probleme
betreffen in ihrer Kritik gegenüber Israel einmütig. „Wenn wir frei sind, sollten
wir auch unsere eigenen Grenzen kontrollieren,“ sagt el-Helou. „Aber wir sind es nicht, so trägt also die
israelische Seite die volle Verantwortung.“ Und die Geschäftsleute weisen auf
ein Paradox des Embargos hin. Es zerstört die einzige Klasse der Palästinenser,
die gegenüber Israel noch eine positive Einstellung hatte. Die meisten in der
Handelsbranche sprechen hebräisch und haben – bzw. hatten - israelische Kunden
und Freunde. Sie haben sich einmal auf den Tag gefreut, an dem es keine
Handelsbarrieren mehr gibt zwischen dem unabhängigen Palästina und Israel, mit
dem es in Frieden leben würde. „Die Mehrheit der Bewohner des Gazastreifens mag
Israel nicht,“ sagte Amassi Ghazi, der Vorsitzende einer Importgesellschaft für
Baumaterial. „Bis jetzt hat nur der private Sektor gute Beziehungen mit Israel.
Es wäre also gut, wenn man die Grenze wieder öffnen würde, bevor ganz Gaza zu
Feinden Israels wird“.
Einige Gazabewohner nehmen es
damit ernst, Israels Feinde zu sein. Um Mitternacht versammeln sich ein paar Dutzend Männer dort,
wo sonst die palästinensische Küstenpolizei exerziert, um mit
Kleinkalibergewehren zu üben. Es ist die Izzedine al-Qassam-Brigade, der militärische Flügel der Hamas. Wenn
es eine Warnung vor israelischen Flugzeugen gibt, ist sie im Nu verschwunden.
Aber seitdem die Fatah aus dem Gazastreifen vertrieben wurde, sagte Abu Ahmed,
der Kommandeur der Einheit, gibt es weniger Kollaborateure, die die Hamas für
Israel ausspionieren. Und israelische Angriffe sind weniger geworden. Qassam-Brigadesoldaten können relativ ungestraft operieren.
Später nahm
mich Abu Ahmed zu einer Stellung der Qassam-Brigaden
ein paar hundert Meter vom Erez-Grenzübergang entfernt mit.
Bald begann eine israelische Überwachungsdrone am Himmel zu surren, und wir verschwanden
schnell über die Sanddünen nach Gazastadt.
Auf den Straßen patrouillierte Mushtaha und
seine Männer. Alles schien friedlich. Aber in der Nacht geht der Krieg zwischen
der Hamas und Israel weiter.
(dt. Ellen Rohlfs)