Forderungen eines Diebes
Gideon Levy, 25.11.07
Der öffentliche Diskurs in Israel ist gerade mal aus seinem Schlummer aufgewacht. „Geben oder nicht-geben?“ ist die Shakespeare’sche Frage – „Konzessionen machen“ oder „keine Konzessionen machen“ . Es ist gut, wenn in der israelischen Öffentlichkeit wieder Lebenszeichen auftauchen. Es lohnt sich, allein aus diesem Grund nach Annapolis zu gehen - aber dieser eben angedeutete Diskurs ist grundlos und verzerrt. Israel wird nicht aufgefordert, den Palästinensern etwas zu „geben“ – es wird nur aufgefordert, „zurückzugeben“ - nämlich ihr gestohlenes Land und ihre demolierte Selbstachtung , zusammen mit ihren fundamentalen Menschenrechten und zur Wiedergewinnung ihrer Menschlichkeit. Dies ist das Kernproblem, das einzige, das den Titel verdienen würde – aber darüber spricht keiner.
Keiner sprich mehr über Moral. Gerechtigkeit ist auch ein archaisches Konzept, ein Tabu, das bewusst aus allen Verhandlungen außen vor gelassen wird. Zwei und eine halbe Million Menschen - Bauern, Kaufleute, Anwälte, Fahrer, tag träumende Teenager, verliebte Männer, alte Leute, Frauen, Kinder und Kämpfer, die um einer gerechten Sache Gewalt angewendet, haben alle 40 Jahre lang unter dem brutalen Stiefel der Gewalt gelebt. Doch in unsern Cafes und Wohnzimmern wird über „Geben oder Nicht-geben“ geredet.
Anwälte, Philosophen, Schriftsteller, Dozenten, Intellektuelle und Rabbiner, auf die man wegen ihres Grundhaltung moralischer Prinzipien schaut, beteiligen sich an diesem verzerrten Gespräch. Was werden sie ihren Kindern erzählen, - nachdem die Besatzung schließlich zu einem Alptraum der Vergangenheit geworden ist – über die Periode, in der sie Einfluss ausübten. Was werden sie ihnen über ihre Rolle in dieser Zeit sagen? Israelische Studenten standen an den Checkpointe neben ihnen, die ihren Reservedienst taten, und brutal über das Schicksal der Leute entschieden – und dann schnell zu ihren Vorlesungen über Ethik an der Universität eilten und vergaßen, was sie tags zuvor getan haben und was in ihrem Namen an jedem einzelnen Tag getan wird. Intellektuelle veröffentlichen Petitionen „Macht Konzessionen!“ oder „Macht keine Konzessionen!“ und lenken so vom Kernproblem ab. Da gibt es stürmische Debatten über Korruption – ob Ministerpräsident Ehud Olmert korrupt ist und wie der Oberste Gerichtshof unterwandert wird. Aber es gibt keine Diskussion über die letzte Frage: Ist nicht die Besatzung die größte und schrecklichste Korruption, die hier Wurzeln gefasst hat und alles andere überschattet?
Sicherheitsbeamte
erschrecken allein über dem Gedanken, dass Checkpoints abgebaut und Gefangene entlassen werden sollen, genau
wie die Weißen in Südafrika, die Furcht
über das „große Abschlachten“
verbreiteten, das geschehen würde, wenn den Schwarzen ihre Rechte gewährt
werden. Das sind aber keine legitime Fragen: Das Eingesperrtsein
muss beendet werden und die Myriaden politischer Gefangener sollten
bedingungslos frei gelassen werden. Genau wie ein Dieb keine Forderungen
stellen darf/Kann und auch keine Vorbedingungen gegenüber dem Besitzer, den er
beraubt hat, so kann auch Israel keine Forderungen an die andere Seite stellen
- so lange wie die Situation so ist, wie sie ist.
Sicherheit? Wir müssen uns mit Mitteln der Verteidigung verteidigen. Jene, die nicht glauben, dass die einzige Sicherheit, der wir uns erfreuen werden, vom Ende der Besatzung und von Frieden kommt, sollen zur Armee gehen und sich hinter Mauern und Zäunen verstecken. Wir haben kein Recht, das zu tun, was wir tun. Genau wie keiner auf die Idee kommt, die Bewohner eines ganzen Stadtteils zu töten, zu schikanieren und sie einzusperren, weil ein paar Kriminelle darin wohnen. Es ist keine Rechtfertigung, ein ganzes Volk im Namen unserer Sicherheit zu missbrauchen. Die Frage, ob das Ende der Besatzung Israels Sicherheit bedrohen oder stärken würde, ist irrelevant. Es gibt keine Vorbedingungen, um die Gerechtigkeit wieder herzustellen.
Keiner wird dies in Annapolis diskutieren. Selbst wenn die Kernprobleme angesprochen würden, werden sie sich auf zweitrangige Themen konzentrieren: Grenzen, Jerusalem und sogar die Flüchtlingsfrage. Aber so würde man das Hauptproblem umgehen. Nach 40 Jahren sollte man erwarten, dass endlich die Kernfragen für eine ehrliche und mutige Diskussion auf den Tisch gelegt werden: Hat Israel weiter das moralische Recht, die Besatzung fortzuführen? Die Welt hätte dies längst fragen sollen. Die Palästinenser hätten sich nur darauf konzentrieren sollen. Und vor allem wir, die wir die Schuld tragen, sollten bei der Antwort auf diese Frage sehr besorgt sein.
(dt. Ellen Rohlfs)