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Werde ich die Flagge hissen?
Gideon Levy, 22.4.07
Es war vor langer Zeit. Während
meiner ersten Auslandreise mit einer Jugenddelegation nach Europa, zwei Jahre
nach dem 6-Tage-Krieg ließen wir unsere Fahne vorne am Bus flattern. Wir
reisten durch Frankreich und Italien. Man applaudierte uns. Wie stolz waren wir
doch als Israelis! In den vergangenen Jahren blieb mein Fahnenmast leer.
Ich erinnere mich sehr wohl
daran, als ich aufhörte, die Flagge zu hissen. Es war damals, als ich sah, wie
jüdische Siedler durch palästinensische
Dörfer rasten und dabei die Fahne aus ihrem Wagen schwenkten, um die Bewohner
des Landes, dass sie überfielen, zu provozieren. Ich sagte mir, dass eine
Fahne, die für Konfrontationen und
Provokationen bestimmt ist, nicht meine Fahne ist. Später sah ich, wie die
Fahne als Markierung auf Land diente, um
den (neuen) Besitz anzuzeigen. In jeder
Siedlung und jedem Außenposten hing
diese Fahne, die einmal meine Fahne war, um neue Fakten vor Ort zu schaffen.
Wie kann ich an meiner
Wohnung dieselbe Flagge hissen, die über den Häusern der jüdischen Siedlungen
mitten in Hebron flattert, aus dem 20 000 Bewohner aus ihren Häusern vertrieben
wurden? Wie kann ich diese Fahne hissen, die über den Häusern von Yitzhar und Itamar und an Dutzenden von Kontrollpunkten
hängt, die das Leben unserer Nachbarn abwürgen? Wie kann ich eine Fahne hissen,
die an den Jeeps flattert, die mitten in der Nacht in Orte einbrechen und Angst
und Schrecken in die Herzen kleiner Kinder jagen. Ich distanziere mich immer
mehr von dieser Flagge; die Nationalflagge wird immer mehr eine Fahne des extremen
Nationalismus.
Es ist nicht einfach, sich
von seiner eigenen Fahne zu distanzieren. Es ist viel einfacher, sie zu lieben,
sie hochzuziehen, auf sie stolz zu sein. Die USA ertrinkt in einem Meer von
Fahnen; jeder Parkplatz ist voller Sternenbanner. Kanadische, Schweizer und
japanische Rucksacktouristen haben ihre Flagge auf dem Rucksack – diese Banner
sehen so unschuldig aus. Das ist mit meiner Flagge nicht so, die schon lange
aufgehört hat, unschuldig zu sein. Seit sie die Flagge der Besetzung wurde,
blieb ich ohne Flagge.
Die extrem nationalistische
Rechte hat mir meine Flagge gestohlen und damit mir auch den Stolz genommen,
ein Israeli zu sein. Dieser Akt des Diebstahls ist nicht zu vergeben. Aus
emotionaler Perspektive ist dies vielleicht der tödlichste Schlag gegen die, die
stolz auf ihre Flagge sein wollen. Ein Staat, der in unsrer Kindheit als ein
Staat dargestellt wurde, der
rechtschaffener ist als andere Staaten – der Staat der Juden wurde der
Staat der Besatzung und seine Flagge wurde für kriminelle Zwecke enteignet. Wir
reisen nicht mehr mit der flatternden Fahne vor uns ins Ausland. Nur noch beim
Marsch der Lebenden in Auschwitz und bei Auswärtsspielen von Maccabi Tel Aviv
hüllen wir uns in die Fahne ein, die den jüdischen Stern trägt. Nur dort kann
man noch stolz sein. In Europa verbrennt man israelische Flaggen, so wie wir
symbolisch die Bilder des „ägyptischen Tyrannen“ in unserer Kindheit bei Lag B’Omer-Feuern
verbrannten. Mit unsern eigenen Händen lieferten wir die Gründe für
jene, die nach Jahren Israelhasser wurden. Sie verbrannten nicht immer diese
Flagge.
Importeure von Israelflaggen,
die in China hergestellt werden, berichten von einem Rückgang des Verkaufes.
Trotzdem sind eine beträchtliche Menge
Autos und Häuser wieder mit Fahnen geschmückt. Dies ist vielleicht die Macht
der Gewohnheit. Vielleicht ist es auch Blindheit, die verhindert, die Ziele
jenes drohenden Schwingens der Fahnen zu sehen. Werde ich dieses Jahr die Fahne
an meinem Fahnenmast hochziehen? Ich brauche mich nicht zu entscheiden. Wie jedes
Jahr werden meine Nachbarn den Garten mit
den Fahnen der IDF-Einheiten und der
Nationalflagge bedecken: ein farbenreiches und rauschendes Meer von Flaggen,
die sie seit ihrer Kindheit aufbewahrt haben. Auf jeden Fall gibt es keinen
Platz mehr für meine Fahne.
(dt. Ellen Rohlfs)