Treffer bestätigt
von Gideon Levy, Haaretz 18.10.07
Plötzlich schoss
der Panzer los.
Die Nachricht am Tag nach den Succot-Feiertagen
war trocken wie gewöhnlich: "Im Laufe der Feiertage wurden 12 Palästinenser
durch Feuer der israelichen Verteidigungsarmee
getötet. Mehr als 30 wurden verletzt." Am Vortag der Feiertage waren
Dutzende von Kassam- und anderen Raketen in den Negev geschossen worden, als Reaktion darauf fielen
Dutzende von israelischen Panzern in Khan Younis ein.
Israelischen Journalisten ist es seit fast einem Jahr per israelischem
Gesetz verboten, den Gazastreifen zu betreten, und der Bericht des Sprechers
der israelischen Armee war, wie gewöhnlich, die einzige Nachrichtenquelle für
israelische Leser. "Ein Treffer auf eine Einheit von Raketen-Schützen
wurde bestätigt" , meldete der Armee-Sprecher
über die vielen Toten und Verletzten.
Drei Wochen danach liegen die Überlebenden dieses Ereignisses, die "Einheit von Raketen-Schützen", noch immer im Shifa-Krankenhaus. Es ist eine Gruppe von Buben, die nach dem Schulbesuch auf die Straße gingen und dann sahen, wie die Panzer näher kamen. Schwer zu glauben, dass zum Beispiel Assad Mahmoud Mitglied einer Einheit von Raketen-Schützen ist. Er ist in der 9. Klasse, 15 Jahre alt. Vom Körper dieses mageren Jungen ist nicht mehr so viel übrig geblieben. Zwei Beine und ein Arm wurden von einer Granate abgetrennt, die die Soldaten auf eine Gruppe Jugendlicher, die sich auf der Straße neben ihrem Haus aufhielten, schoss, auch sein Bauch ist von der Granate aufgerissen. Assad liegt im Krankenhausbett, starrt auf seine Umgebung, und sein Vater bittet die Welt, seinem Sohn zwei neue Beine und einen neuen Arm zu geben.
Fast ein Jahr lang dürfen wir schon nicht mehr nach Gaza, deshalb baten
wir unsere Kollegin, die schwedische Journalistin Katrin Ormstad,
die in Israel lebt, sie möge für uns über die Folgen des Beschusses dieser
Gruppe von Kindern durch die israelische Armee an den Succot-Feiertagen
berichten. Das war einen Tag nachdem Israel den Gazastreifen zum
"feindlichen Gebiet" erklärte. Ormstad hat
ein Buch über das Leben in Gaza und Tel Aviv geschrieben, das demnächst in
Schweden bei NORSTEDTS herauskommen wird. Munir und Sa
Das Shifa-Krankenhaus, die einzige
medizinische Einrichtung im Gazastreifen, die den Namen Krankenhaus verdient,
stand diese Woche ruhig da. Auch an der Baustelle für die neue chirurgische
Abteilung herrschte Grabesstille: Es gibt in ganz Gaza wegen der von Israel
verhängten Sperre keine Baumaterialien mehr. Auch im Krankenhaus ist die Arbeit
seit Monaten blockiert. Nur verwaiste Baumstümpfe stehen hier. Es herrscht kein
Mangel an Medikamenten. Brennstoff für die Generatoren zur Stromerzeugung wird
von der Europäischen Union gespendet. Die Löcher in den Wänden des Gebäudes
zeugen von den Kämpfen zwischen Hamas und Fatah, die auch hier, im Krankenhaus,
stattfanden. Die Aufzüge fahren nicht. Das ist im Shifa-Krankenhaus
fast die Regel.
In der Chirurgie, oben im vierten Stock, liegt Assad
Mahmoud. Wer das Zimmer betritt, bleibt für einen Moment sprachlos. Was ist das
in diesem Bett? Es vergeht eine Weile bis das Auge den unerträglichen Anblick
erfasst. Ein Kind, ein halbes Kind. Was von seinem Oberkörper geblieben ist,
liegt unbedeckt, auf dem Bauch haftet ein Verband, daneben ein Auffangbeutel,
die Beinstümpfe und der Armstumpf sind verbunden, auf dem Rest des
Rumpfes liegt ein hellblaues Laken. Der Junge starrt vor sich hin, sein
Blick ist stumpf, tot. Sein Vater Jihad hält die
verletzte, einzige Hand seines Sohnes warm umfasst, aus seinen schlaflos roten
Augen spricht tiefe Trauer. Seit drei Wochen sitzt der 40jährige Jaber neben dem Bett seines Sohnes. Nach Hause geht er nur,
um sich umzuziehen. Er schläft im Krankenhaus auf dem Fußboden. Das linke Bein
des Jungen wurde über dem Knie abgetrennt, das rechte unter dem Knie, und der
linke Arm fehlt bis zur Schulter, weg. Die Panzergranate hat bei Assad ganze
Arbeit geleistet.
Er ist ein Junge aus Beit Hanoun mit fünf
Geschwistern. Seine Mutter Miriam ist 32 Jahre alt, auch sie weicht nicht vom
Bett ihres Sohnes. Assad spricht mit monotoner, schwacher Stimme. Er schildert
mit einfachen Worten, was ihm am 26.September, dem Vorabend unserer Succot-Feiertage, geschah: "Morgens bin ich
aufgestanden und in die Schule gegangen. Ich kam aus der Schule heim und machte
meine Hausaufgaben. Dann hörte ich, dass die Armee kommt. Ich bin auf die
Straße, um zu sehen, was los ist. Viele Kinder gingen in Richtung Panzer, sehr
viele Panzer waren da. Es gab einen Schusswechsel zwischen den Bewaffneten und
den Panzern. Ich hatte Angst, bin aber geblieben, um zu sehen, was passiert.
Die Kinder gingen in Richtung Panzer, plötzlich schoss der Panzer los. Die
Panzergranate fiel mitten auf die Straße. Es gab fünf Tote und zwanzig
Verletzte... Ich kann mich erinnern, dass die Israelis schossen, dann flog ich
in den Himmel und fiel auf den Boden."
Assad krümmt sich vor Schmerzen. Sein Vater eilt zu Hilfe. Er ist
arbeitslos, vorher hat er Jahre lang in Israel gearbeitet. Als die Panzer in
die Stadt eindrangen, schlief er gerade zu Hause. "Als ich aufwachte,
hörte ich Krach und lief, um die Kinder nach Hause zu holen. Ich wollte sie
nach Hause holen, und später zu den Großeltern nach Gaza Stadt schicken, bis
die Panzer wieder weg wären", erzählt er.
Es gelang ihm, die Kinder nach Hause zu holen, dann eilte er zum Haus
seines Bruders und dessen Sohn, beide sind Ärzte. Dort wurde eine Notaufnahme
improvisiert für die Verletzten, die schon eintrafen. Plötzlich kamen Nachbarn
und berichteten, Assad sei verletzt worden. Erst hieß es, er sei getötet
worden, dann kam die Berichtigung, er sei verletzt worden. Ihm wurde klar, dass
Assad wieder auf die Straße gegangen war, nachdem er selbst das Haus verlassen
hatte. Jaber erzählt, als er das hörte, habe er den
Verstand verloren. "Ich bin wie ein Wahnsinniger auf die Straße gelaufen.
Durchgedreht. Alles brach über mir zusammen. Ich bin auf die Straße gelaufen,
weiß aber nicht, was ich getan habe."
Inzwischen transportierte Assads Bruder, der 18jährige Mohammed, seinen
verletzten Bruder zur Krankenstation von Khan Younis.
Dort hin kam dann auch der Vater. Assad war noch bei Bewusstsein. Seine Beine
und sein Arm waren abgerissen und blieben auf der Straße zurück. Er wurde zur
Krankenstation Kamal Raduan
überstellt, dann ins Krankenhaus Shifa. Jaber: "Warum können die Kinder in Palästina nicht draussen spielen? Es sind Kinder. Ich rufe die Welt auf,
Assad neue Beine zu besorgen, vielleicht auch einen neuen Arm." Er
erzählt, Assad habe gern im Viertel Fussball
gespielt, Dabka getanzt und im Meer geschwommen.
Im Nebenzimmer liegt Mohammed Zaqariah Al Bassyouni, sechzehn Jahre alt. Er sieht jünger aus. Auf der
Stirn Pubertäts-Pickel, hellblaues Unterhemd, schwarze Shorts, darunter der
Stumpf. Sein rechtes Bein wurde über dem Knie abgetrennt, ebenso einige Finger
seiner rechten Hand. Am linken Bein, das ihm geblieben ist, Wunden und Schorf.
Mohammed lächelt verlegen. Im Hintergrund steht ein Strauß Plastikblumen. Auch
er erzählt: "Ich bin in die Schule gegangen, dann bin ich von der Schule
nach Hause gekommen. Ich saß neben dem Haus auf der Straße mit meinen Freunden,
dann hörten wir die Panzer und sahen sie am Ende der Straße näher kommen."
Viele Kinder bekamen Angst und flohen ins Haus, nicht so Mohammed. Er blieb neben dem Haus stehen. "Der Panzer fing an zu schießen, einige Kinder wurden getötet, einige verloren Arme und Beine, einige wurden verletzt. Mein Vetter stand neben mir, er wurde getötet. Jemand nahm mich im Auto mit und brachte mich in die Krankenstation, dann ins Shifa-Krankenhaus. Dort hat man mir das Bein amputiert." Auf dem Weg ins Krankenhaus verlor Mohammed das Bewusstsein. Er ist ein guter Freund von Assad im Nebenzimmer. Ein paar Minuten vor der Explosion, so erinnert er sich, hatten sie sich noch unterhalten. Er sah Assad auf dem Boden liegen, die Beine waren abgetrennt. Auch Mohammed krümmt sich vor Schmerzen. Hast Du schon einmal einen Israeli getroffen? "Es sind Tiere", antwortet er. Seine Mutter Hanan, 36 Jahre alt, erzählt, sie habe gerade das Mittagessen für die Kleinen zubereitet, die noch nicht am Ramadan fasten, als sie die Explosion auf der Straße hörte. Sie lief hinaus und sah viel Blut. Jemand sagte ihr, Mohammed sei zum Krankenhaus gefahren worden.
In einem Zimmer im ersten Stock in diesem Krankenhaus liegt Bilal Ahmad Zaydan, 19 Jahre alt.
Ein Bein und ein Arm sind mit einem Metallgestell verschraubt. Einige Finger
sind abgetrennt, andere verletzt. Ein saurer Geruch steigt aus dem Bett; es
fällt schwer, näher zu treten. An der Wand über seinem Kopf hängen Bilder von
Gefallenen.
Er arbeitet nicht, lernt nicht, sitzt den ganzen Tag zu Hause. Als er
die Panzer hörte, ging er nach draußen. Morgens waren Qasssam-Raketen
geschossen worden, aber das war 60 Meter entfernt von dem Ort, auf den die
Panzer schossen, sagt er. Der Panzer stand seiner Schätzung nach etwa 300 Meter
entfernt von den Kindern und Jugendlichen, als er schoss. Seinen Worten nach
war kein Bewaffneter unter den Getöteten und Verletzten.
Im selben Zimmer, ein Bett weiter: Magdi Diab, 14 Jahre alt. Das
blutbefleckte Laken bedeckt die Wunde an Magdis
Schulter, auch sein Bauch ist großflächig verletzt. Die selbe
Geschichte: Schule, nach Hause, auf die Straße, um für den Vater etwas
einzukaufen, kam nicht mehr ins Haus, weil dort die Panzer standen. Die Eltern
machten sich Sorgen, konnten ihn aber nicht erreichen. Zwischen ihnen und dem
Kind standen die Panzer. Seine Tante berichtet, anfangs habe man erzählt, sein
Bein sei abgetrennt worden, jetzt seien sie froh, dass es nicht passiert sei.
Der Sprecher der israelischen Armee diese Woche auf Anfrage von "Haaretz": "Am betreffenden Datum operierte die
Israelische Verteidigungsarmee im Gebiet, aus dem die Flugkörper
abgeschossen worden waren, im nördlichen Gazastreifen. Im Verlauf der Operation
wurden unsere Kräfte in mehreren Fällen mit Mörsergeschossen beschossen. In
einem der Fälle griff die Armee eine Einheit von Raketen-Schützen an, die im
Begriff war, unsere Kräfte unter Beschuss zu nehmen. Ein Treffer auf die
Einheit wurde bestätigt.
"Es muss betont werden, dass die Terroreinheiten und Terroristen in
den meisten Fällen aus zivil bevölkerten Zentren heraus operieren und zu ihrer
Deckung Kinder und unbeteiligte Zivilisten benützen. Durch den Kampf in diesen
dicht bevölkerten Gegenden und den Beschuss aus bewohnten Flächen kann es zur
Verletzung unbeteiligter Zivilisten kommen, dafür sind allein die
Terrororganisationen verantwortlich zu machen."
(dt.Weichenhan-Mer)