von
Gideon Levy, Haaretz 10.8.2007
Totgeschlagen
Das Taxi
nach Bethlehem hatte sich verspätet und Jihad Sha'ar wartete weiter an der
staubigen Haltestelle in der Nähe seines Dorfes Tekoa. Woran hat er gedacht,
dort unter dem glühend heißen Blechdach? Er war unterwegs zur Offenen
Universität in Bethlehem, um sich für das kommende Studienjahr einzuschreiben.
Sein Vater sagt, er habe sich noch nicht entschieden, was genau er studieren
wollte. Vielleicht dachte er darüber nach, als er dort an der Haltestelle
wartete, Schutz suchend vor der brennende Wüstensonne.
Und woran
dachten die Soldaten, die in schlugen, totschlugen, mit Schlagstöcken,
Gewehrkolben, und Tritten auf seinen Kopf, so die Augenzeugen, bis er seine
Seele aushauchte? Kann es sein, dass er versuchte, sie mit einem Messer zu
attackieren, das die beiden Augenzeugen nicht gesehen haben? Auch wenn es so
war, warum fuhren sie fort, wütend auf ihn einzuschlagen, nachdem er schon
bewusstlos auf dem Boden lag, vielleicht schon gefesselt, wie eine Augenzeugin
uns erzählte? Und nach all dem, warum beeilte sich die israelische Armee,
diesen schwerwiegenden Vorfall zu den Akten zu legen, "nach einer ersten
Untersuchung", in der keiner der Augenzeugen befragt wurde, mit dem Kommentar: "Die Soldaten verhielten sich
korrekt." ? Welche Korrektheit ist gemeint, wenn Soldaten einen jungen
Mann totschlagen und die Armee sie ohne ernsthafte Untersuchung von jeder
Verantwortung losspricht? Und welch monströses Verhalten ist es, das einen
bewegt, den Vater dieses jungen Mannes im Angesicht seines geschlagenen, sterbenden
Sohnes mit Handschellen zu fesseln, und ihn so wie ein gebundenes Tier auf dem
Boden liegen zu lassen?
Der
Computerbildschirm zeigt Bilder vom Tod. Am Todestag wurde behauptet, Jihad sei
durch einen Schlag mit dem Schlagstock zu Tode gekommen. Wer die Bilder aus dem
Krankenhaus gesehen hat, weiß, dass das so nicht sein kann: Das ruhige,
zerschlagene Gesicht des jungen Mannes und sein Hinterkopf weisen drei Löcher
auf. Keine tiefen Wunden. Auf einem anderen Bild sieht man den verwaisten
Vater, Mitarbeiter in einem Betrieb für Olivenholz-Schnitzereien in Bethlehem,
wie er mit nach hinten gefesselten Händen auf dem Boden kniet. In seinem
Gesicht spiegeln sich verhaltener Schmerz und Demütigung; neben ihm steht ein
Soldat mit gezückter Waffe. Die Aufnahme eines Passanten. Alles im Computer
gespeichert. Das Haus steht im Dorf Tekoa am Rande der Wüste, einem Dorf mit
Steinhäusern am Berg gegenüber der Ausgrabungsstätte Herodeion und der
[jüdischen] Siedlung Tekoa.
Khalil,
der Olivenkreuz-Schnitzer mit dem von Trauer gezeichneten Gesicht, ist ein
sanfter, ruhiger Mann. Die Leute sagen, sein Sohn sei genau so gewesen. Einen
Tag nach dem Vorfall stand in der israelischen Presse zu lesen, dieser selbe
Sohn sei seelisch zerrüttet, vielleicht sogar geistig zurück geblieben. Weit
gefehlt - schlecht fabriziert. Im vergangenen Schuljahr hatte Jihad sich hinter
die Verbesserung seiner Abschlussnoten geklemmt, sein Abitur gemacht und wollte
sich jetzt in der Offenen Universität Jerusalem in Bethlehem einschreiben.
Am
Donnerstag, den 27.Juli, ging bei ihm zu Hause alles wie gewöhnlich zu. Bruder
Hussein machte sich auf zum Innenministerium in Bethlehem, um dort etwas zu
erledigen, die Mutter der Familie brach auf zu einem Familienbesuch, und Jihad
machte sich auf den Weg zur Universität, um dort die nötigen Formalitäten zu
erledigen. Nichts wies darauf hin, was
sich kurze Zeit später ereignen sollte. Jihad ist - wie alle anderen Mitglieder
seiner Familie - nie festgenommen worden. In dieser Gegend ist es überhaupt verhältnismäßig
ruhig, wenn man von den lästigen Patrouillen der israelischen Armee absieht.
Um 9:30
Uhr morgens verließ Jihad das Haus und ging zur wenige hundert Meter entfernten
Sammeltaxi-Haltestelle an der Straße nach Bethlehem. Sein Vater, der zu Hause
war, meint, Jihad habe nichts bei sich gehabt. Am Wegesrand, wenige Dutzend
Meter von der Haltestelle wartete schon das gepanzerte Militärfahrzeug. Dort
steht fast immer ein "Hummer-Jeep" , als eine Art mobil einsetzbarer
Checkpoint für das relativ ruhige Dorf. Personalausweise werden geprüft, man
wird geärgert und gedemütigt, die Ordnung der Besatzung wird aufrecht erhalten.
Jihad
stand allein an der Haltestelle. Anscheinend riefen ihn die Soldaten, zu ihnen
zu kommen. Der palästinensische Polizist Moussa Sliman aus dem Dorf fuhr gerade
im Sammeltaxi nach Bethlehem, das sich der Haltestelle näherte. Sliman sah, wie
Jihad "vollkommen normal, in einer Haltung, die keinerlei Verdacht
erregte", auf die Soldaten zu ging. Seiner Aussage nach hielt Jihad nichts
in den Händen.
Ein
Soldat stand neben der Fahrer-Tür des Jeeps, drei weitere Soldaten saßen im
Jeep, berichtet Sliman. Als Jihad beim Jeep ankam, sah er den einen Soldaten
Jihad am Hemd packen, und ihn hinter das Jeep ziehen. Sliman, der zu diesem Zeitpunkt
etwa 20 Meter entfernt war, erzählt, anscheinend sei zwischen Jihad und dem
Soldaten, der ihn am Hemd gepackt hielt, ein Streit entstanden, der sich zu
Handgreiflichkeiten entwickelte. Nach einigen Sekunden sah er beide, Jihad und
den Soldaten, auf dem Boden liegen.
In diesem
Moment stiegen die anderen drei Soldaten aus dem Jeep, um ihrem Kollegen zu
helfen. Sliman hörte zwei Schüsse. Die vier Soldaten, so Sliman, fingen jetzt
an, auf Jihad, der auf dem Boden lag, einzuschlagen. Er sah sie mit hölzernen
Schlagstöcken und Gewehrkolben auf Jihad schlagen, der versuchte, seinen Kopf
mit den Händen zu schützen. Von diesem Moment an sah Sliman nichts mehr, da
sein langsam fahrendes Taxi den Jeep überholt hatte, und der Jeep die Sicht
verdeckte.
Nachdem
das Taxi sich etwas entfernt hatte, drehte es, um zu sehen, was sich hinter dem
"Hummer"-Jeep abspielte. Sliman berichtet, die Soldaten hätten weiter
auf Jihad eingeschlagen. Er sah mindestens zwei Mal einen Schlagstock auf
Jihads Kopf niedergehen. "Ich hatte das Gefühl, diese Schläge sind
tödlich" sagt der Polizist Sliman. Jihad sei bereits bewegungslos auf dem
Boden gelegen. Sliman fuhr schnell zu Jihads Familie, um den Vater zu
alarmieren. "Komm schnell, die Soldaten schlagen deinen Sohn." Der
aufgeregte Vater bat noch Jihads Großmutter, zur Haltestelle mit zu kommen,
"vielleicht hätte man mit ihr Mitleid und die Soldaten hören auf
sie". Aber Khalil wartete nicht auf die Großmutter; er lief mit Sliman zur
Haltestelle.
Als sich
die beiden dem Ort des Geschehens näherten, richteten die Soldaten die Gewehre
auf sie und befahlen ihnen, zu verschwinden. Ein Dorfbewohner, der Hebräisch
sprach, traf ein. Er versuchte, den Soldaten zu erklären, Khalil sei der Vater
des geschlagenen jungen Mannes, er wolle nur wissen, was mit seinem Sohn
passiert sei. Einer der Soldaten habe geantwortet: "Sag ihm, sein Sohn sei
schon tot."
Dann
packten die Soldaten den seines Sohnes beraubten Vater, fesselten seine Hände
hinter dem Rücken, und ließen ihn so mitten auf der Straße, während das
Fahrzeug noch immer zwischen ihm und der Leiche seines Sohnes stand. Die beiden
anderen Männer aus dem Dorf wurden weggejagt. Inzwischen kamen mehr Jeeps und
Soldaten an, auch ein Krankenwagen des Militärs. Anscheinend versuchte die Belegschaft
des Krankenwagens, Jihads Leben zu retten - diese Woche lagen neben der Straße
noch weggeworfene Schläuche und Materialien, die das vermuten lassen.
Nachdem
er etwa vierzig Minuten gefesselt auf der Straße gesessen hatte, so erzählt
Khalil, sei ein Offizier der Zivil-Verwaltung eingetroffen, Taissir mit Namen,
der den Soldaten bedeutete, Khalil die Fesseln abzunehmen. Er sagte ihm, sein
Sohn sei ins Krankenhaus ins nahe Beit Jala transportiert worden. Khalil
erzählt, in der Zeit, in der er gefesselt auf der Straße verbrachte, sei es ihm
nicht gelungen, einen Blick auf seinen Sohn zu erhaschen. Der Jeep stand
dazwischen. Er sah nur eine Sekunde lang sein Hemd, als man ihn in den
Militär-Krankenwagen hob. Stellt euch das vor: Der Vater gefesselt und der Sohn
im Sterben liegend, beide getrennt durch ein Militärfahrzeug.
Der
Offizier der Zivil-Verwaltung fragte Khalil: "Warum hat Ihr Sohn das
getan?" Der Vater: "Mein Sohn war unterwegs zur Universität."
Der Offizier: "Ihr Sohn hat den Soldaten Ärger gemacht und ein
Küchenmesser gezogen." Der Vater: "Mein Sohn hat das Haus ohne
Küchenmesser verlassen. Zeigen Sie mir das Messer. Ich kenne die Messer in
unserer Küche." "Sie wollen
das Messer sehen?" fragte der Offizier und verbesserte sich sofort:
"Die Militärpolizei hat das Messer schon mitgenommen." Khalil hat das Messer nie gesehen.
Taissir
berichtete Khalil, sein Sohn sei schwer verletzt. "Was haben Sie mit ihm
getan? Haben Sie ihm in den Kopf geschossen?" fragte der Vater, und der
Offizier schlug vor, den Vater nach Hause zu bringen. Khalil alarmierte dann
seinen Bruder, und machte sich mit ihm auf den Weg ins Krankenhaus Beit Jala.
Unterwegs wurden sie an der selben Stelle, an der Jihad getötet wurde, wieder
aufgehalten. Nach nochmals zehn Minuten wurden sie weiter gelassen, nach
Intervention eines Soldaten, der Khalil vorher gesehen hatte.
Ungefähr
um 11:15 Uhr war Jihad abtransportiert worden. Nicht viel später traf Khalil im
Krankenhaus ein. Die Leiche seines Sohnes kam erst ungefähr um 15:00 Uhr an.
(Der Armeesprecher diese Woche: "Um die Todesumstände sofort zu
untersuchen, wurde das Aufhalten der Leiche von allen relevanten Stellen
genehmigt." ) Der Offizier der Zivil-Verwaltung hatte dem Vater gesagt,
sein Sohn sei "schwer verletzt" gewesen, einer der Soldaten hatte ihm
aber schon davor gesagt, sein Sohn sei tot, deshalb hatte Khalil keine Hoffnung
mehr, seinen Sohn je lebend wieder zu sehen. Er erzählt das alles mit
erstaunlicher Zurückhaltung und Gefasstheit.
Als die
Leiche im Krankenhaus angekommen war, wurde sie von den Ärzten untersucht. Sie
kamen zu dem Ergebnis, Jihad sei nicht erschossen, sondern zu Tode geprügelt
worden. Sie fanden die drei flachen Löcher
in seinem Schädel und diverse Verletzungen am restlichen Körper,
hauptsächlich im Bereich der Hüften. Die Leiche wurde zur Obduktion nach Abu
Dis geschickt, danach brachte man sie zur Beerdigung ins Dorf Tekoa, an der
viele Menschen teilnahmen. Einige Dorfbewohner erzählen, als das Grab
ausgehoben wurde, sei ein Jeep der israelischen Grenzpolizei am Dorf vorbei
gefahren; seine Insassen haben über Lautsprecher ins Dorf gerufen: " Jihad
ist tot, Allah erbarme sich seiner und euch Arschlöchern" [im Original
werden die Mütter der Bewohner beschimpft].
Der
Armeesprecher diese Woche: "Am 26.July, im Rahmen einer Armeeoperation in
der Nähe des Dorfes Hirbet-A-Dir östlich von Bethlehem, näherte sich ein mit
einem Messer bewaffneter Palästinenser der Patrouille und versuchte, einen der
Soldaten anzugreifen. Daraufhin schoss der angegriffene Soldat den Terroristen
in die unteren Körperteile. Nachdem der Palästinenser fortfuhr, den Soldaten
mit dem Messer zu stechen, musste ein anderer Soldat, der sich vor Ort befand,
seinen Schlagstock benützen, um den Terroristen zu neutralisieren. Der palästinensische
Terrorist wurde im Verlauf der Vorkommnisse schwer verletzt, noch vor Ort von
der israelischen Armee medizinisch versorgt, schließlich wurde sein Tod
festgestellt."
Am Abhang
neben dem Ort, wo Jihad seinen Tod fand, stehen ein paar Zypressen. Man kann
auf der Erde noch verblichene Blutflecken sehen. Die Haltestelle ist leer. Ein
gepanzertes Hummer-Fahrzeug blickt auf uns herab von dem Hügel, von dem aus man
die Straße überblickt. Wir steigen den Hügel hinauf, am Jeep vorbei, dessen
Insassen, vier sonnenbebrillte Soldaten, drinnen heiter lachen. Sind es die
Soldaten, die Jihad getötet haben? Sind sie von der selben Einheit?
Im
schönen Steinhaus mit Blick auf den Ort des Tötens, Bienenstöcke hinten im
Garten, wohnt noch eine Augenzeugin, die etwa dreißigjährige Nur Harmas. Am
fraglichen Tag wachte sie vom Motorengeräusch des Jeeps auf, das den Hügel
hinab fuhr. Harmas erzählt, sie sei dann in die Küche gegangen, um Frühstück
für ihre Töchter vorzubereiten. Vom Küchenfenster aus sah sie einen jungen
Mann, der an der Haltestelle wartete. Dann war sie mit Haushaltsarbeiten
beschäftigt. Eine Viertelstunde später hörte sie ein dumpfes Geräusch. Sie sah
aus dem Küchenfenster und fand die Haltestelle leer. Jihad stand nicht mehr da.
Von hier aus verdeckte eine Zypresse den Blick auf den Jeep.
Harmas
eilte zum Schlafzimmer und öffnete die Balkontür, von der aus man den Jeep
sehen konnte. "Ich sah ihn auf dem
Boden liegen, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, um ihn herum standen drei
Soldaten, einer von ihnen trat ihm auf den Kopf. Als ich das gesehen hatte, bin
ich sofort zu den Nachbarn, um Hilfe zu holen. Sie schickte den Cousin ihres
Mannes hinunter, um nachzusehen, was mit Jihad passiert. Karim Jubran,
Feldforscher von B’tselem [israelisches Informationszentrum für Menschenrechte
in den besetzten Gebieten], zieht aus seiner Tasche ein paar zerschnittene
weiße Plastik-Handschellen, die er am Ort des Geschehens gefunden hatte. Wurde
Jihad gefesselt, als die Soldaten ihn zu Tode prügelten? Oder sind es die Fesseln, mit denen die
Soldaten den seines Sohnes beraubten Vater fesselten, neben der Leiche seines
Sohnes. Es macht keinen Unterschied mehr.
(dt.
Weichenhan-Mer)