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Zurück zur Mauer
oder palästinensische Billiglohnarbeit im israelischen
Industriegebiet
Simone
Kurkos, Haaretz, 18.04.07
Es
ist 6 Uhr morgens an einem kalten Wintermorgen in Tulkarem.
Vor einer schmalen Stahltür in der langen Betonmauer, die entlang der Taybehstraße führt,
stehen Hunderte von Palästinensern
in Mänteln und Pullis mit einem Frühstücksbeutel und warten darauf, dass
das Tor geöffnet wird. Hinter dieser Stahltür liegt der israelische
Industriekomplex mit dem poetischen Namen Nitzanei Hashalom – Friedensknospe. Für viele Palästinenser ist dies
die letzte Möglichkeit, Arbeit zu finden.
Nitzanei Hashalom, das zwischen Tulkarem
und der Trennungsmauer liegt, wurde 1995 als einer der neun Industrieparks
gebaut, die für die Westbank geplant waren. Es hat sieben Fabriken, die 700
Palästinenser in verschiedenen Industrien beschäftigen, einschließlich der
Produktion von Kartons, Plastikteilen, Pestizide und Gift.
„Es
ist besser als gar keine Arbeit,“ sagt M., 35, zu
seiner Arbeit in der Kartonfabrik. Der Vater von fünf Kindern kommt täglich
hierher – 6 mal in der Woche für neun Stunden am Tag
für 11 Schekel die Stunde. Das ist mehr als sieben Schekel weniger als der
israelische Mindestlohn. Und für diesen Lohn arbeitet sich M. buchstäblich zu
Tode. Warum? Weil er ein privilegierter Mann sei, sagt er.
„Natürlich,
ich weiß, die Situation ist schlecht, aber ich habe wenigstens einen Job und
ich kann meine Familie ernähren und meine Kinder zur Schule schicken,“ sagt er.
Aber
manchmal überkommt M. große Angst. Wird ihn sein Boss entlassen, wenn er um
eine Lohnerhöhung bittet oder zu spät
kommt oder krank ist. Das ist schon einmal geschehen. Zu spät Kommende werden bestraft. Ihnen wird die Arbeit genommen und der Lohn
für eine Woche gestrichen. Rebellen, Kranke oder Schwache werden auf der Stelle
entlassen.
„Mein
Boss kann sofort 10 andere finden, die meinen Arbeitsplatz einnehmen,“ sagt M. Deshalb verlässt er sein Zuhause etwa um 5 Uhr
früh und bittet nicht um den
Mindestlohn, arbeitet auch wenn er krank ist und während muslimischer Feiertage
und macht niemals Urlaub.
Sein
Kollege J., zehn Jahre älter, weiß, was geschieht, wenn man protestiert.
„Ich
hatte 10 Jahre lang hier in der Holzfabrik gearbeitet. Die Gesellschaft hat
keinen Namen und ich bezweifle, ob sie überhaupt registriert ist. Ich erhielt
100 Schekel am Tag für neun Stunden Arbeit. Es sind 30 Arbeiter. Es gibt keinen
Schutz gegen Sonne oder Regen und die Fabrik hat keinen Bodenbelag. Im Winter
standen wir im Schlamm. Es gab keine Toilette und es war uns nicht erlaubt,
wegzugehen, weil die Stahltür erst um 16 Uhr geöffnet wird. Kann man sich
vorstellen, wie schmutzig es wird, wenn
hier 30 Männer arbeiten? Vor zwei Jahren
wagte ich schließlich, mich zu beklagen. Und was geschah danach? Ich
wurde auf der Stelle entlassen und nach Hause geschickt – ohne Lohn. Zwei
Wochen später klingelte das Telefon. Es war mein Boss. Er sagte, er würde mir
eine letzte Chance geben, aber ich müsste den Mund halten.
Und
das war es denn, was J. tat. Er beklagte sich nicht über fehlende
Schutzkleidung und er war still, als der Junge Namer
sich aus Versehen mit dem elektrischen
Stapler in den Unterleib schnitt und
ohne Lohn nach Hause geschickt wurde.
Aber
er gibt zu, dass er wütend ist. „Das Schlimmste ist, dass sich der Manager
tatsächlich um nichts kümmert. Es ist nicht so, dass er uns wie Tiere behandelt
– wir sind Luft für ihn.
Die
Trennungsmauer hat Nitzanei Hashalom,
wie auch andere israelische Siedlungen
und Grundstücke in der Nähe der Mauer attraktiver für israelische
Geschäftsleute gemacht, sagt Shabiye Yacub, der Vertreter des palästinensischen
Arbeitsministeriums in Tulkarem.
Die
Mauer/ der Zaun hat die chronische palästinensische Arbeitslosigkeit
verschlechtert; 150 000 Palästinenser, die vor 2000 in Israel arbeiteten –
legal oder illegal – können dies nun nicht mehr. Und Zehntausende von Bauern
sind von ihrem Land abgeschnitten worden. Heute können nur 10 000 Leute in
Israel arbeiten – es hängt von der Sicherheitslage ab. Deswegen steigt der
Anteil an Billiglohnarbeit. Diese Menschen sind verzweifelt und nehmen
praktisch jede Arbeit zu jedem Lohn an. Inzwischen fühlen sich israelische
Geschäftsleute zuversichtlich, was den Grundbesitz nahe der Mauer betrifft,
weil es dort sicher ist.
Nach
dem palästinensischen Büro für Statistik
ist die Arbeitslosenrate im 4. Quartal von 2006 28,4 %. Wenn man aber bedenkt, dass die
Hälfte der pal. Bevölkerung aus Kindern besteht, dann
muss jeder Arbeiter manchmal 10
Angehörige ernähren.
„Offiziell
arbeiten 18 000 Palästinenser in israelischen Fabriken und Siedlungen in der
Westbank. Aber ich kann nicht einmal
schätzen, wie viele dort illegal arbeiten, besonders im landwirtschaftlichen
Bereich,“ sagte Jacub.
Mittlerweile
haben sich 15 Arbeiter rund um uns am Stahltor bei Tulkarem
versammelt und flüstern und nicken.
A
ein junger Mann mit leuchtend blauen Augen, sagt mir, er habe vor ein paar
Monaten seine Hand mit einer Schneidemaschine in der Kartonfabrik aus einander geschnitten. Nach dem Unfall
schickte ihn sein Arbeitgeber nach Hause und
sperrte die Lohnzahlung. Der Unfall ließ ihn halbseitig gelähmt. Das
Krankenhaus in Tulkarem konnte die Operation nicht
durchführen, um seine Hand zu retten, und ein israelisches Krankenhaus, das ihm
hätte helfen können, konnte er nicht erreichen.
Mein
Arbeitgeber zahlte mir keine Entschädigung und wegen meiner Verletzung kann ich
nirgendwo Arbeit finden. Meine Magnetausweiskarte – die Genehmigung, um in
Israel zu arbeiten – wurde ungültig. Ich sprach mit einem Anwalt, der einen
Prozess vor einem israelischen Gericht
begann, aber ich kann ihn nicht mal treffen, weil es mir nicht erlaubt ist, den
Checkpoint zu überqueren,“ sagte A.
Ein
anderer Arbeiter, M. wurde vor fünf Jahren gefragt, ob er einen Zaun rund um
die Rational-System-Fabrik in Nitzani Hashalom bauen könnte, erinnerte sich sein Sohn Majed.
„
Sie verwendeten auch Plastiktonnen, die mit Chemieabfall gefüllt waren, um den
Zaun zu verstärken. Eine dieser Tonnen
explodierte und mein Vater wurde am Kopf verletzt. Vier Tage später
starb er und hinterließ meine Mutter mit acht Kindern. Wir erhielten nie irgend eine Pension oder Entschädigung.“
Majed,
damals 22, musste mit seinem Studium
aufhören und die Familie unterhalten. „Wir sind mit Vaters Arbeitgeber jahrelang vor Gericht
gewesen, aber die Richter kamen zu keinem Ergebnis.“
Andere
erzählten von amputierten Fingern, Verletzungen und Atembeschwerden, die mit
der Fabrikarbeit zusammenhängen. Solche Geschichten über Arbeitsunfälle .. zu
hören, scheint ganz normal zu sein.
Pünktlich
um 6 Uhr 30 öffnete das Tor und die Menge verschwand. Um 7 Uhr wurde es wieder
geschlossen, um die nächsten neun Stunden geschlossen zu sein.
Es
war schon etwas seltsam, diesen
Industriepark später von der anderen Seite zu betreten. Hier gab es keine
verschlossenen Stahltüren, keine langen Schlangen wartender Arbeiter, keine
Barriere. An der Kreuzung zur Schnellstraße 6 wendet man sich nach rechts und
fährt an einem schläfrigen Wächter am Tor vorbei. Die hohen Mauern rund um den
Komplex verbergen den Blick auf Tulkarem, und man hat das Gefühl, in Israel zu sein.
Gil
Letterman, der Besitzer von Rational Systems -
einer Gesellschaft, die Polyurethane-Teile für
Drucker und medizinische Apparate herstellt – ist bereit, mit uns zu reden. Er
lädt uns ein, seine Fabrik zu betreten. Er fing mit seiner Gesellschaft vor 25
Jahren in Netanya ein, aber als die Intifada begann, wurde es immer schwieriger für seine
palästinensischen Arbeiter, zur Arbeit zu kommen. Deshalb verlagerte er einen
Teil der Aktivitäten in dieses Gebiet.
Rational
Systems sieht gut organisiert aus. Die Arbeiter tragen
Schutzkleidung. Letterman besteht darauf, dass es keine Probleme mit den Löhnen
und den Sicherheitsbedingungen gibt.
Aber
wie war das mit dem Unfall von Abu Harma?
Letterman
gibt zu, er habe Probleme mit einem
Leiharbeiter wie Abu Harma gehabt. Aber das
sei juristisch gelöst worden, sagte er.
Wir
haben palästinensische Arbeiter, die seit Beginn unserer Gesellschaft bei uns
arbeiten; ja, ich beschäftige inzwischen die 2. Generation, ihre Söhne. Ich
kenne ihre Familien, ich war bei ihren Hochzeiten. Es sind verlässliche Leute,
die gut bezahlt werden. Man sollte verstehen, dass die Palästinenser von den
Fabriken hier Nutzen ziehen. Ich wette, dass sie hier mehr verdienen als bei
einem palästinensischen Arbeitgeber in Tulkarem.“
Wenn
50% der palästinensischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt mit 2,10$ am Tag ( nach
internationalen Organisationen) mag Letterman recht haben. Und die
Palästinenser mögen froh sein, hier zu arbeiten und ihre Familien zu ernähren.
Aber unter welchen Bedingungen und zu welchem Preis?
Salwa
Alinat, eine Vertreterin von Kav La’Ovet
begann mit einem Informations- und Hilfsprogramm für palästinensische Arbeiter,
die von Israelis in der Westbank beschäftigt werden. Sie hat noch schlimmere
Geschichten gehört.
„Ich
sprach mit Dattelpflückern aus Jericho in einer jüdischen Siedlung während der
Ernte im April und Mai: sie mussten neun Stunden bei brennender Sonne auf der Palme sitzen – ohne eine
Toilettenpause. Und sie erhielten nicht einmal den Mindestlohn.
„Eine
palästinensische Frau, die Siedlerhäuser reinigt, erduldet die Schikanen der
Wächter am Eingang der Siedlung. Ich begegnete Fabrikarbeitern, die ohne
genügend Schutz gegen Unfälle stundenlang arbeiten und nur 10 Schekel oder
weniger bekommen. Das Schlimmste sind die Geschichten über Kinderarbeit.
Während des Sommers arbeiten Kinder zwischen 12 und 13 in Schichten von zwölf Stunden. Ich traf
einen zehnjährigen Jungen, der in einem Warenhaus im Jordantal
während der Sommerferien und nach dem Schulunterricht arbeitet, weil sein Vater
arbeitslos ist und seine Familie Geld braucht“, sagte sie .
Es
ist kaum zu glauben, dass dieses fast koloniale System sich direkt vor unsern
Augen abspielt – und keiner scheint
davon zu wissen. Mit unserm palästinensischen Mitarbeiter Zakaria Sadea entschieden wir
uns, eine Untersuchung vor Ort zu machen. Unser erster Halt wir die
Industriezone in Karnei Shomrom.
Wir zählten dort 10 Fabriken.
Auf
dem Parkplatz von einem dieser Fabriken ereignete sich folgendes: ein junger
Palästinenser näherte sich unserm Wagen und flüsterte uns zu, während seine
Augen unruhig umherblickten: Ich verdiene 9 Schekel in der Stunde, aber ich
kann es nicht belegen, weil ich keine Quittung habe und keine andern
Dokumente.“
Dann
kam ein älterer Mann auf uns zu – der
Oberaufseher, wie wir später erfuhren -
und zischte: „Redet nicht mit ihm!“
und schon war er zwischen den parkenden Autos verschwunden. Faleh aber, der palästinensische Vorarbeiter bestand
darauf, dass die Arbeitsbedingungen perfekt seien. „Die Palästinenser sollten
froh sein, dass sie hier einen Job haben. Jeder verdient einen gerechten Lohn,
ich z.B. erhalte 11 000 Schekel im Monat.“
Verwirrt
von der Diskrepanz verließen wir die Fabrikanlage. Erzählen all diese Arbeiter
nur Geschichten oder ist dies ein Anzeichen eines Phänomens, das Alinat
beschreibt: eine Art von kolonialem Teile-und-herrsche-Systems, bei dem gewisse „gute“
Palästinenser Vergünstigungen – höheren Lohn und bessere Bedingungen – erhalten
im Austausch für Informationen über die
anderen Arbeiter?
Wir
wurden noch verwirrter, als wir versuchten, herauszubekommen, welches Gesetz
die Beziehungen zwischen israelischen
Gesellschaften und palästinensischen Arbeitern auf palästinensischem
Boden regelte. Ist es das israelische Arbeitsgesetz, das Kriegsgesetz oder gar
das palästinensische Gesetz?
Nach
dem Anwalt von Kav La’Oved Yuval Livnat gibt es keine klare
Antwort.
„Die
Industrieanlagen und die Siedlungen liegen gewöhnlich in der Zone C, das heißt,
sie fallen unter israelische Jurisdiktion. Da würde man erwarten, es würde das
israelische Arbeitsgesetz gelten; aber das Arbeitsgericht entschied, dass hier
das jordanische Gesetz für palästinensische Arbeiter angewendet wird, wenn es
nicht das öffentliche Interesse verletzt. Diese Entscheidung kann vielseitig
gedeutet werden. Außerdem datieren die jordanischen Gesetze in die Zeit vor dem
Krieg 1967 zurück. Sie gaben den Arbeitern sehr begrenzte Rechte und Schutz,
was die Arbeitszeit, die Sicherheitsbestimmungen und den Urlaub betreffen. Die
Folge davon ist, dass die palästinensischen Arbeiter unter rechtlicher
Diskriminierung leiden, verglichen mit ihren israelischen Kollegen am selben
Arbeitsplatz – und das ist unannehmbar.“
Die
Palästinenser scheinen ein Recht auf den israelischen Mindestlohn zu haben –
nach einer früheren Zivilverwaltungsorder, die aber nicht durchgesetzt wurde.
Ich
klagte gegenüber der Zivilverwaltung wegen gefälschter
Zahlstreifen – z.B. gab der Arbeitgeber weniger Tage an, als der Arbeiter
gearbeitet hat ….
In
einem demokratischen Staat scheint die
Lösung naheliegend zu sein. Warum
verklagen diese Palästinenser ihre Arbeitgeber nicht vor dem israelischen
Arbeitsgericht? Sollten sie genügend Mut haben, stehen sie vor einer anderen
Barriere. Sie werden als ausländische Bewohner in Israel angesehen und als
solche müssten sie große Summen hinterlegen, damit die Gerichtskosten
garantiert sind.
Juristischer Chaos, unsichere Rechte und
eingeschüchterte Arbeiter scheinen die Westbank in ein juristisches
Niemandsland verwandelt zu haben, in dem nichts verboten ist. Wir wenden uns
mit unsern Fragen an die Zivilverwaltung.
Aber
der verantwortliche Vertreter für Arbeitsfälle – Itzhak
Levi – ist nicht autorisiert, uns irgendwelche Informationen zu geben z.B. wie viele israelische Fabriken in der
Westbank operieren und wie viele Arbeiter sie beschäftigen und was angesichts
von Klagen getan worden ist. Er weist uns an
Captain Tzidki Maman
weiter, der uns verspricht, schnell zu antworten. Das war am 18.Februar. Wir
haben seitdem nichts von ihm gehört.
Die Autorin ist eine freischaffende Journalistin, die in Israel lebt, und für belgische, holländische und britische Zeitungen schreibt.
(dt.
Ellen Rohlfs)