Älterwerden Sterne der Jugend
wohin seid ihr hinabgefallen? Keinen mehr von
euch allen seh in Gewölk ich ziehen. Ihr meiner Jugend
Genossen, Ach wie früh mit
der Welt habt ihr Frieden geschlossen! Dennoch kämpfe ich
weiter. Steh entgegen der
Welt! Kann ich nicht
siegen als Held, will ich doch fallen als Streiter. (Hermann Hesse)
Reuven Moskovitz, Zeev-Vilnai-Str.4, Hotel Migdalei Kedem Zimmer 721
Postfach 3686 Jerusalem, Tel.00972/2/6535103;e-mail: vardamos@hotmail.com
Ich schreibe meinen
Jahresbrief zum jüdischen Neujahr, weil ich Euch mitteilen möchte, dass es
unsere Adresse Lloyd-George-Straße nicht mehr gibt. Wir mussten die Wohnung
verkaufen. Es war für uns kein leichter Abschied, mehr als ein Drittel unseres
Lebens haben wir dort gelebt. Hunderte von Freunden, Bekannten und Mitstreitern
haben uns dort besucht und uns dorthin geschrieben. Beim Ausräumen habe ich
viele der Briefe wieder gelesen, sehr gerührt und mit viel schlechtem Gewissen,
weil ich sehr selten antworten konnte. Ich habe große Hemmungen, insbesondere,
wenn ich Deutsch schreiben muss, denn ich habe nie Deutsch schreiben gelernt.
Nun kommen die Herbstfeste und der Tag der Versöhnung, Jom
Kipur. Vor diesem Tag ist jeder verpflichtet, seine
Freunde und Bekannten um Verzeihung zu bitten für Ärgernisse, Versäumnisse oder
mangelnde Achtsamkeit. Die Sünden zwischen Mensch und Gott verzeiht Gott am Jom Kipur, nicht aber die Sünden
zwischen Mensch und Mensch. Also jetzt eine gute Gelegenheit, um Verzeihung zu
bitten bei den vielen, vielen Menschen, die uns freundliche und dankbare Briefe
geschrieben haben.
Unsere neue Adresse ist:
Zeev-Vilnai-Str.4, Hotel Migdalei
Kedem Zimmer 721 Postfach 3686 Jerusalem.
Nun jährt sich der Beschluss der Vereinten Nationen,
Palästina zwischen Juden und Palästinensern zu teilen, zum 60.Mal. Wenige in
Israel und in der Welt wissen, dass die damals vereinbarte Teilung 54 % des
Landes für die Juden bedeutete und 44 % für die Palästinenser. Jerusalem, eine
für drei Religionen bestimmte heilige Stadt, sollte von der UNO verwaltet
werden. Da die Palästinenser die Teilung unglücklicherweise nicht akzeptierten, folgte der sogenannte Unabhängigkeitskrieg
Israels, der erst 1949 endete. Durch - u.a.- seine bessere kriegerische
Ausstattung gelang es Israel, eine ethnische Säuberung durchzuführen, die schon
vor der Staatsgründung begann. So konnte es fast die Hälfte des den
Palästinensern zugeteilten Gebietes annektieren. Die übrigen 22 % wurden nicht
den Palästinensern zugeschlagen, sondern blieben unter der Herrschaft von
Jordanien und Ägypten.
In den folgenden Jahren
unternahm Israel jede Anstrengung, mehr Land zu nehmen und die Grenzen auszuweiten,
angeblich, um sie besser verteidigen zu können.
Heute bleiben durch die
dichte Besiedlung durch Juden und durch den Mauerbau auf palästinensischem Land
nur noch etwa 11-12 % des eigentlich palästinensischen Landes für die Palästinenser
übrig. Auf diese 11-12% verzichten zu müssen, nennt Israel, und das ist auch
eine in Deutschland wiederholte Behauptung, einen ‚schmerzhaften Kompromiss‘.
Für die Palästinenser aber bedeutet
es - kompromisslos! - eingesperrt zu sein hinter Zäunen und Mauern, in drei
getrennten Zonen leben zu müssen, in denen sie weiterhin der israelischen
Machtwillkür ausgesetzt sind: inner-palästinensischen Checkpoints,
Hinrichtungen, Festnahmen, Enteignungen, nächtliche Durchsuchungen, etc, etc.
Trotz des wagemutigen Besuchs Sadats in
Jerusalem in den 70-er Jahren, der zum Frieden zwischen Israel und Ägypten führte, und trotz des gelungenen Friedens mit Jordanien in den 90-er Jahren, wurden aber die hoffnungsvollen Abkommen
von Oslo systematisch durch Israel mit ihrer Siedlungspolitik unterlaufen; das
gilt auch, wenn die Palästinenser ihre Verpflichtungen nicht immer gehalten
haben.
Noch sieht es so aus, als ob
auch einem weiteren wichtigen Friedensplan dieses Schicksal beschieden ist: Das Angebot der 22 arabischen Länder und der
Hamas in diesem Jahr wird von Israel, dem „Quartett" und der
westeuropäischen Welt einfach ignoriert!
Dieses Angebot beinhaltet:
Frieden mit Israel aufgrund gegenseitiger Anerkennung in den Grenzen von 1967,
diplomatische, kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen und die Lösung der
palästinensischen Flüchtlingstragödie, ohne die Stabilität und die Sicherheit
Israels zu gefährden.
Israel müsste im Gegenzug
einen gefährlichen und schmerzhaften Schritt tun:
Alle Siedlungen in der
Westbank aufzulösen oder eine Alternative zu finden, wie den Siedlern die Wahl lassen, als
gleichberechtigte palästinensische Bürger dort zu leben und gleichzeitig die
Palästinenser mit der ihnen weggenommen Fläche Land kompensieren.
Jetzt rufe ich als
überlebender Jude und Israeli und Träger des Internationalen Aachener
Friedenspreises Euch Deutsche zu einem Gedenken auf:
29. November 2007: 60. Jahrestag des
Teilungsbeschlusses der Vereinten Nationen
Gedenkt und macht aufmerksam, dass von all dem, was
damals beschlossen wurde, für die Palästinenser nichts umgesetzt wurde und ruft die Bundesregierung auf, das Angebot
der 22 arabischen Länder zum Frieden mit Israel ernst zu nehmen, zu prüfen und
schnellstens mit der Umsetzung zu beginnen.
Der
Versuch, das "Quartett" einzusetzen, führt nur
noch weiter in die Sackgasse.
Europa ist an diesem Konflikt
mitverantwortlich – umso mehr ist es
Deutschland, wegen seiner schrecklichen NS-Vergangenheit.
Deutschland stände es wohl
an, die Aufgabe des Friedens- und Versöhnungsbotschafters zu übernehmen und den
Friedensprozess in Israel/Palästina voranzutreiben.
Was mich
anbelangt, bin ich fest entschlossen, trotz meines fortgeschrittenen Alters,
dieses Datum nicht ohne Aufschrei oder ein Erinnern über die Gefahr eines
weiteren Schweigens, vorbeigehen zu lassen und an Mahnwachen oder anderen Aktionen mitzuwirken. Gemeinsam müssen wir
die Medien bewegen, über diese Aktionen und über das arabische Angebot zu
berichten!
Auch in diesem Jahr habe ich
sehr befriedigende und erfüllende Aufenthalte in Deutschland erlebt, wieder
stärkte mich die Freundlichkeit, die Solidarität und die Bereitschaft zuzuhören
meiner Freunde im ganzen Land und gab mir die Kraft, gesundheitlich und
seelisch durchzuhalten - auch in diesen widrigen Zeiten.
Zwei Sorgen bewegen mich
jedoch:
- Das Schreiben meines
zweiten Buches hat sich verzögert. Der wesentliche Inhalt des Buches sollte die
Vergangenheit sein, die ich nicht nur
zornig, sondern auch mit Nachsicht betrachten wollte. Die maßlose Reaktion auf
den 11.September, die den Krieg wieder legitimierte als Fortsetzung der
Politik, und auf diesen wilden Tiger die israelische und z.T. die westliche
Politik aufgesprungen ist, um weiter ihr Gewaltkonzept zu rechtfertigen, hat
mich in meinem Schreiben gehemmt, aber auch auf eine neue Fährte gebracht. Ich
werde jetzt schreiben über die zornige Sorge um die Gefahren der Gegenwart und Zukunft.
- Das Projekt „Friedensräume
und Friedenswege in Neve Shalom/Wahat
al Salam" geht nur langsam voran. Gerührt und ermutigt bin ich jedoch von
der Reaktion auf dieses Projekt. Noch vor Jahresende werden Schilder
aufgestellt, die NS/WaS und Umgebung in einem
Zeitabriß darstellen, um so auf die Ergebnisse
von Krieg und Hass aufmerksam zu machen.
Meine Grundidee des Projektes
ist der Ausstieg aus dem unsinnigen nationalistischen Erinnerungskult hin zu
einer universellen Solidarität sowohl mit allen Leidenden als auch mit „
Mutmachenden" und Widerständlern, unter Betonung der Juden, Palästinenser
und Deutschen.
Selbstverständlich ist diese
Idee nicht zu verwirklichen mit einer kleinen Schar von Freunden und
Unterstützern - ich bitte deshalb alle meine Freunde, die diesen Traum ernst
nehmen, zu überlegen, wie man die deutsche Bundesrepublik bewegen kann, nicht
hauptsächlich militärische Projekte Israels, sondern diese Art Friedensarbeit
mit viel bescheideneren Ansprüchen zu fördern.
In der Hoffnung, dass
Deutschland und die neue, ausgeweitete Europäische Union, zu der jetzt auch
mein Geburtsland Rumänien gehört, festhalten werden an der Gemeinschaftsidee
des Sozialstaates und an dem einmaligen 60 jährigen Frieden,
grüße ich Euch alle
herzlich.
Euer Reuven
(verfasst während der
jüdischen Feiertage, September 2007)