Israel-Palästina Nahost Konflikt Infos
2.Jahres-Konferenz des gewaltfreien Volkswiderstandes
in Bilin am 18/19. April 2007
Rede von Sam Bahour
Zunächst erlauben Sie mir,
die Bewohner von Bilin zu grüßen:
Eure Standhaftigkeit wird in
die Annalen der Geschichte im Zusammenhang mit jedem Meter des Mauerbaus, mit jedem zerstörten Olivenbaum durch diese
beklagenswerte Besatzung eingehen.
Ich bin darum gebeten worden,
kurz über den Aufbau wirtschaftlicher
Unabhängigkeit zu sprechen. Das ist ein kompliziertes Thema. Aber lassen Sie
mich mit einer Frage beginnen.
Wie integrieren wir eine
zukünftige palästinensische Wirtschaft in eine von der USA beherrschten
globalisierten Welt von heute, während wir noch unter fremder militärischer
Besatzung sind – eine Besatzung, die direkt vor den Augen der internationalen
Gemeinschaft operiert? Ja, ich spreche von den drei Parteien, die Unterzeichner
der 4. Genfer Konvention sind, die das letzte Jahr – und die Mehrheit bis heute
- die wirtschaftlichen Boykotts und
Sanktionen gegen das besetzte Volk entschieden haben und uns so in eine Nation
von Armut, Verbrechen und Gesetzlosigkeit getrieben haben. Wie tun wir das,
während unsere eigene Führung alle zwei Monate mit genau demselben
Besatzer teetrinkend
zusammensitzt , der durch tägliche Aktionen vor Ort
die Möglichkeit einer erwähnenswerten palästinensischen Unabhängigkeit
verhindert.
Seit 40 Jahren verknüpft
Israel die Wirtschaft des besetzten palästinensischen Gebietes mit seiner
eigenen. Mit Absicht wurde jeder unserer Sektoren mit einer wirtschaftlichen Nabelschnur verbunden.
Aus Zeitgründen ist es notwendig zu bemerken, dass das Osloabkommen an dieser Nabelschnur vollständig festhielt,
während gleichzeitig auf die palästinensische Seite die kolossale Bürde gelegt
wurde, sich den Herausforderungen wirtschaftlicher Entwicklung zu stellen, ohne
den Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen zu haben.
Geberstaaten betraten die Bühne. Doch statt sich an die
Verpflichtungen nach der Vierten Genfer Konvention zu halten und sich zu
versichern, dass dem besetzten Volk, dem
„beschützten Volk“, wie wir nach dem Völkerrecht klassifiziert werden,
kein Leid angetan wird, begann diese 3.Partei, uns mit Fisch zu füttern, statt
uns zu helfen, wie wir selbst Fische fangen können. Kurz gesagt: die
Geberstaaten wurden Komplizen der
wirtschaftlichen Unterdrückung und
hielten den Status Quo aufrecht, der uns zu Tode kocht. So stehen wir heute hier und kämpfen.
Die Geberstaaten sind nicht
die einzigen Faktoren in diesem Gesamtkomplex . Eine dauerhafte Entwicklung kann nicht
auf der Agenda und auf politischen
Stimmungen ausländischer Geber gegründet werden. Palästinensisches Geschäft und
palästinensische Konsumenten sind – oder sollte ich besser „sollte“ sagen ? – die Grundlage, auf der wir unsere Wirtschaft
aufbauen. Es würde unfair sein zu sagen, dass die palästinensische
Geschäftswelt fehlgeschlagen ist – das ist sie nicht. Viele Geschäftsleute sind
standhaft geblieben trotz unvorstellbarer Nachteile. Viele andere sind
außerordentlich erfolgreich. Doch die
Erfolgskriterien von vielen innerhalb
unserer Geschäftswelt, die Macht und Einfluss haben, müssen untersucht werden.
Ist es Erfolg, wenn eine einzige Firma einen jährlichen 100 Millionen
Profit aus dem besetzten Volk für Grundversorgung herausholt? Ist es Erfolg, wenn überlegt wird, dass
Industriezonen zwischen die Apartheidmauer und die Grüne Linie gebaut werden? Ist
es Erfolg, wenn verschiedene Sektoren monopolisiert werden und so neue
Investments und die Schaffung neuer
Arbeitsplätze blockiert werden? Wie ich schon bemerkte, tun Tausende von
Geschäftsleuten bewundernswerte Dinge, um ihre Türen offen zu halten, aber ein
paar mit Macht und Einfluss haben nicht die Absicht, die Besatzung aus unserm
Leben zu entfernen. Es sind diese Elemente unserer eigenen Gesellschaft, die
wir zur Verantwortung ziehen müssen.
Verantwortlichkeit kann aber
nicht von einer kaum mehr bestehenden
Behörde kommen, die zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Der
palästinensische Bürger, der palästinensische Konsument und die in Solidarität mit den Palästinensern sind,
tragen die Last.
Ich kann nicht begreifen, wie
wir damit einverstanden sein können, wenn
Produkte aus israelischen Siedlungen in unsern Regalen stehen.
Ich kann nicht begreifen, wie
wir israelischen Firmen erlauben können, ihre Waren auf unsern Märkten zu
Dumpingpreisen anzubieten, ohne dass
darauf reagiert wird.
Ich kann nicht begreifen, wie
Drittparteistaaten sich weigern, ihre Verpflichtungen nach der Vierten Genfer
Konvention aufzunehmen, wenn sie die
wirtschaftlichen Straßensperren, Checkpoints, Mauern und Zäune sehen, die Israel
gebaut hat.
Uns wird stündlich Land
geraubt. Unser guter Freund Jeff Halper nennt dies
eine „Matrix der Kontrolle“….
Die Besatzung kontrolliert
das Land, das wir kultivieren können und bestimmt die Bäume, die wir pflanzen.
Wir werden gezwungen, unser
Wasser von einer israelischen Wassergesellschaft zu kaufen und mehr zu zahlen
als die Israelis, obwohl es aus derselben Quelle stammt, wir aber weniger pro Kopf verbrauchen. Die
Hand der Besatzung kontrolliert unsere Wasserhähne.
Alle Elektrizität der
Westbank wird von der israelischen Elektrizitätsgesellschaft
gekauft und an uns zurückverkauft. Die Hand der Besatzung kontrolliert also
auch unsere Lichtschalter.
Jeder Telefonanruf, der ins
Ausland geht, geht über israelische Telefonisten. Die Besatzung
kontrolliert so auch unsere Gespräche
ins Ausland.
Jeder Arbeiter, der in Israel
arbeiten möchte oder auf seinem Land
westlich der Mauer, muss eine israelische Genehmigung erhalten. Die Besatzung
kontrolliert sogar den Schweiß unserer Arbeiter.
Es ist das erste Mal in
unserer Geschichte, dass mehr als ein Drittel der Palästinenser in der
Westbank, im Gazastreifen und in Ostjerusalem freiwillig emigrieren wollen.
Mehr als ein Drittel! Ich sollte hier bemerken, dass das Völkerrecht ganz klar sich über Kriegsverbrechen
ausspricht. Die blutigen Ereignisse von 1948, 1967 und 2002 waren zweifellos
Kriegsverbrechen – eine militärische Besatzung, machttrunken und noch
immer macht- besessen, darauf versessen, die palästinensische
Gesellschaft zu zerstören, deren Folgen uns allen sehr wohl bekannt sind. Aber
es ist gleichfalls nach den Gesetzen der „Besatzungsmacht“ – nämlich Israel
- ein Kriegsverbrechen
. Es schafft die Bedingungen für das besetzte Volk, dass ihm keine andere Option mehr bleibt, als freiwillig
seine Häuser zu verlassen, um in Sicherheit leben zu können. Ich füge dem die
neue israelische Politik hinzu, mit der
denjenigen von uns der Zugang
total verweigert wird, deren Wohnrecht
von Israel nicht anerkannt wird. Diese Politik des verweigerten Zutritts
trennt Familien und beschleunigt die
Abwanderung unserer Wissenschaftler. Ich möchte dies eine sterile ethnische
Säuberung nennen, die immer nur eine Familie trifft – weit entfernt von Medien
und ohne Blutvergießen.
Dies ist unsere Realität,
eine Realität, die viele beiseite wischen oder unter den Teppich kehren wollen,
während sie vorgeben, einen lebensfähigen Staat aufzubauen. Solch eine Realität
steht im Widerspruch mit
Lebensfähigkeit. Solch eine Realität fördert keine wirtschaftliche Unabhängigkeit.
Was sollten wir also tun? Uns
unter einem Felsen verstecken und das Beste hoffen? Die ausländische
Militärmacht, die seit 40 Jahren ihre Stiefel auf unsern Nacken setzt und uns
seit 60 Jahren von unserm Volk getrennt
hat, akzeptieren und sich ruhig verhalten?
Nein, dieses Volk nicht! Wir wissen noch nicht, wie wir gewinnen und
diesen Alptraum beenden, aber ich kann euch versichern, wir werden nicht
verlieren.
Wenn wir als Gemeinschaft die
strukturellen Probleme unserer internen
Politik schlichten, wird eine neue Führung auftauchen.
Wenn wir mit den Instrumenten unserer
Unterdrücker umgehen lernen, dann wird
unsere gerechte Sache „online und offline“, rund um die Mauer und über die
Mauer hinweg artikuliert werden.
Wenn wir uns auf die Sachen
im Leben konzentrieren, auf
Familie, Gemeinde und unsere unveräußerlichen Rechte, dann wird man unsere
Fähigkeit, eine globale Entwicklungs-partnerschaft (Global Development
Partnership:GDP) zu schaffen, wahrnehmen. Unsere
eigene Art von GDP, statt den üblichen Maßnahmen der GDP der Weltbank nachzujagen. Unsere GDP
schließt alle mühsamen Stunden mit ein, die die Mütter zur vernünftigen Erziehung ihrer Kinder und zur
Erhaltung der Familie benötigen. Unsee GDP schließt die Bemühungen ein, die all
unsere politischen Gefangnen benötigen, um in den israelischen Gefängnissen
standhaft zu bleiben.
Unsere GDP ist global im Umfang, in substantieller Substanz und in
der Partnerschaft mit Menschen, die
Frieden und Gerechtigkeit lieben, ganz gleich, wo sie leben.
Es tut mir leid, wenn ich Sie
enttäusche, weil ich nicht über die vielen wirtschaftlichen Leistungen der
letzten zehn Jahre gesprochen habe – an einigen hatte ich die Ehre, beteiligt
zu sein. Nicht, dass ich nicht darauf stolz wäre - gegen Widrigkeiten gegen die
die meisten Gemeinden aufgegeben hätten, bauten wir produktive Gesellschaften
auf, eine Börse, ein Bankwesen, eine ICT-Industrie (?), eine Olivenölindustrie,
eine Möbelindustrie, eine pharmazeutische Industrie u.a.
Diese Dinge sind alle sehr
wichtig, aber sie sind im Grund nur das
Drum und Dran eines Status quo, der uns auf einen - bisher in unserm Kampfe
unbekannten - Stand der Verzweiflung führt. In einem normalen Umfeld würde ich
als privater „Sektorplayer“ nach der Rückkehr von Investments verlangen. In
Palästina fordere ich von meinen Kollegen, dass sie die Rückkehr folgendermaßen
umsetzen:
Die Rückkehr zum Völkerrecht,
Rückkehr zu den international
anerkannten Grenzen,
die Rückkehr unserer
politischen Gefangenen zu ihren Familien,
die Rückkehr unserer Flüchtlinge
und die Rückkehr des Gemeindeaufbaus.
Diese Rückkehr ist die
einzige Rückkehr,
die uns auf den Weg zu
wirtschaftlicher Unabhängigkeit führt.
Zum Schluss möchte ich ein
Zitat bringen, das ich von einem israelischen Freund in Jerusalem habe. Einer
der jüdischen Weisen, ein Berühmter aus dem Judentum des 17. Jahrhunderts,
Rabbi Nachman von Bratzlav
sagte einmal: „Es gibt nichts, das vollkommener ist als ein gebrochenes Herz.“.
Mein Freund sagte auch, es
sei nicht leicht, dies von innen her zu erkennen. Ich stimme ihm zu.
Sam Bahour ist ein palästinensisch-amerikanischer Geschäftsberater und Aktivist , Ramallah/ El Bireh und kann über folgende Mailadresse erreicht werden: sbahour@palnet.com
(dt. Ellen Rohlfs)