Israel-Palästina
Nahost Konflikt Infos
Am vergangenen Dienstag (8.5.2007)
veranstaltete Gush Shalom eine öffentliche Debatte zwischen Uri Avnery und Ilan
Pappe zu dem Thema „zwei Staaten oder ein Staat“. Die Veranstaltung fand in
einer Halle in Tel Aviv statt und stieß auf großes Interesse. Der vollständige
Text der zweistündigen Debatte wird so bald als möglich veröffentlicht werden.
Nachfolgend der Text von Uri Avnerys einleitenden
Bemerkungen.
Uri Avnery
12.5.2007
Ein Staat – Lösung oder Utopie
Dies ist kein Duell zweier Gladiatoren in einer römischen Arena um Leben und
Tod.
Ilan Pappe und ich kämpfen gemeinsam gegen die
Besatzung. Ich schätze seinen Mut. Wir stehen Seite an Seite in einem
gemeinsamen Kampf, aber wir verfolgen scharf gegensätzliche Ziele.
WORÜBER geht es bei der Meinungsverschiedenheit ?
Wir sind nicht unterschiedlicher Meinung über die
Vergangenheit. Wir stimmen darin überein, dass der Zionismus historisches
vollbracht hat und den Staat Israel schuf, aber auch eine historische Ungerechtigkeit
am palästinensischen Volk beging. Die Besatzung ist abscheulich, , und sie muss beendet werden. Keine Debatte darüber!
Vielleicht haben wir auch keine Meinungsverschiedenheit über die ferne Zukunft.
Darüber, was in 100 Jahren geschehen soll. Das werden wir später an diesem
Abend noch ansprechen.
Aber wir haben eine scharfe Meinungsverschiedenheit bezüglich der absehbaren
Zukunft – die Lösung des blutigen Konflikts während der nächsten 20, 30, 50
Jahre.
Dieses ist keine theoretische Debatte. Wir können nicht sagen, wie der
hebräische Ausdruck lautet: „Möge jeder in seinem eigenen Glauben leben“, und
Friede sei mit der Friedensbewegung. Zwischen diesen beiden Alternativen kann
es keinen Kompromiss geben – wir müssen entscheiden, wir haben zu wählen, weil
sie ganz unterschiedliche Strategien und Taktiken diktieren – nicht morgen
sondern heute, hier und jetzt. Der Unterschied ist schicksalshaft.
Zum Beispiel: Sollten wir unsere Anstrengungen auf den Kampf um die öffentliche
Meinung in Israel konzentrieren, oder sollten wir im Kampf in Israel aufgeben
und uns auf den Kampf im Ausland konzentrieren.
ICH BIN ein Israeli, ich stehe mit beiden Füßen auf dem Grund der israelischen
Wirklichkeit. Ich möchte diese Wirklichkeit radikal verändern. Aber ich will,
dass der Staat Israel besteht.
Wer immer sich der Existenz Israels als Staat entgegenstellte, die unsere
israelische Identität ausdrückt, nähme sich selbst jede Möglichkeit
, hier zu agieren. Alle seine Aktivitäten in Israel wären von vorne
herein zum Fehlschlag verdammt.
Man kann verzweifeln und sagen: Da kann man nichts machen. Alles ist verloren.
Wir sind über den ‚Punkt ohne Wiederkehr’ hinausgegangen. Die Situation ist
„unumkehrbar“. Wir können nichts mehr tun in diesem Land.
Jedermann kann zuweilen für einen Moment verzweifeln. Vielleicht verzweifeln
wir alle hie und da. Aber die Verzweiflung sollte nicht zur Ideologie erhoben
werden. Verzweiflung zerstört die Fähigkeit zu agieren.
Ich sage: Es gibt überhaupt keinen Grund zu verzweifeln. Nichts ist verloren.
Nichts im Leben ist „unumkehrbar“, außer das Leben
selbst. Etwas wie einen „Punkt ohne Wiederkehr“ gibt es nicht.
Ich bin 83 Jahre alt. Ich habe im Laufe meines Lebens den Aufstieg der Nazis
gesehen und ihren Fall. Ich habe die Sowjetunion auf ihrem Höhepunkt beobachtet
und ihren Zusammenbruch verfolgt. Einen Tag vor dem Fall der Berliner Mauer hat
kein Deutscher geglaubt, dass er diesen Augenblick noch erleben würde. Die
gescheitesten Experten haben das nicht vorausgesehen. Denn in der Geschichte
gibt es unterirdische Strömungen, die niemand so wahrnimmt wie sie tatsächlich
fließen. Deswegen bestätigen sich theoretische Analysen so selten.
Nichts ist verloren, solange die Kämpfer nicht aufgeben und sagen, alles ist
verloren. Aufgeben ist keine Lösung. Und es ist auch nicht moralisch.
In unserer Situation hat ein Mensch, der verzweifelt, drei Möglichkeiten: 1.
Emigration, 2. innere Emigration, das heißt, zu Hause bleiben und nichts tun,
oder 3. entweichen in die Welt der idealen Lösungen in den Tagen des Messias.
Die dritte Lösung ist die gefährlichste, denn die Situation ist kritisch, vor
allem für die Palästinenser. Wir haben keine Zeit für eine Lösung in 100
Jahren. Wir brauchen dringend eine Lösung, eine Lösung, die innerhalb weniger
Jahre realisiert werden kann.
Man hat gesagt, der Avnery ist alt, er hält fest an alten Ideen
, er ist nicht fähig, eine neue Idee aufzunehmen. Und ich frage mich:
eine neue Idee ?
Die Idee „Eines Gemeinsamen Staates“ war alt, als ich noch ein Junge war. Sie
florierte in den 30erjahren des vergangenen Jahrhunderts. Aber sie schlug fehl.
Die Idee der Zwei-Staaten-Lösung wuchs auf dem Boden der neuen Realität.
Wenn man mir erlaubt, eine persönliche Bemerkung zu machen: Ich bin kein
Historiker. Ich habe diese Ereignisse gelebt. Ich bin Augenzeuge, Ohrenzeuge,
ein Zeuge, der es am eigenen Leibe mitbekommen hat. Als Soldat im 1948-Krieg,
40 Jahre lang als der Herausgeber eines Nachrichtenmagazins, 10 Jahre lang als
Angehöriger der Knesset, als Aktivist in Gush Shalom – befinde ich mich inmitten des Geschehens und sehe
es aus verschiedenen Blickwinkeln. Mein Finger ist am Puls der Öffentlichkeit.
ES GIBT drei Fragen, die Idee von Einem Staat betreffend:
A. Ist dieser überhaupt möglich ?
B. Und wenn er möglich ist – ist er gut ?
C. Wird er einen gerechten Frieden bringen ?
BEZÜGLICH der ersten Frage ist meine Antwort eindeutig: Nein, er ist nicht
möglich.
Jeder, der mit der israelisch-jüdischen Öffentlichkeit irgendwie zusammenhängt,
weiß, dass ihr innerster Wunsch die Existenz eines Staates mit einer jüdischen
Mehrheit ist. Eines Staates, in dem die Juden Meister ihres Schicksals sind.
Dieser Wunsch übertrumpft alle anderen Ziele, sogar den Wunsch nach einem Staat
im ganzen Eretz Israel.
Man kann reden über den „Einen Staat“ vom Mittelmeer bis zum Jordan, einen bi-nationalen oder einen nicht nationalen Staat – in der
Praxis bedeutet dieses die Demontierung des Staates Israel. Die Negierung des
ganzen Aufbaus einer Nation, der durch fünf Generationen geleistet wurde. Das
muss klar gesagt werden, ohne Gemauschel und ohne Zweideutigkeiten, und das ist
was die Öffentlichkeit – die Juden und gewiss auch die Palästinenser – ganz
richtig denkt, dass es so ist. Wovon wir sprechen, ist die Demontage des
Staates Israel.
Wir wollen viele Dinge in diesem Staat verändern, seine
historischen Narrative, seine akzeptierte Definition als ein „jüdischer
und demokratischer“ Staat. Wir wollen die Besatzung draußen und die
Diskriminierung drinnen beenden. Wir wollen eine neue Basis für die Beziehung
zwischen dem Staat und seinen arabisch-palästinensischen Bürgern herstellen.
Aber es ist unmöglich, das Grundethos der überwiegenden Mehrheit der
Staatsbürger zu ignorieren.
99,99 Prozent der jüdischen Bevölkerung wollen den Staat nicht demontieren. Und
das ist ganz natürlich.
Es ist eine Illusion, dass das durch Druck von außen geändert werden kann. Will
dieser Druck von außen dieses Volk zwingen, seinen Staat aufzugeben
?
Ich schlage Ihnen einen einfachen Test vor: Denken Sie einen Augenblick an Ihre
Nachbarn zu Hause, in der Arbeit oder in der Universität. Würde irgendjemand
von diesen seinen Staat aufgeben, weil jemand im Ausland das von ihm wünscht ? Wegen des Drucks aus Europa ?
Sogar wegen des Drucks vom Weißen Haus ? Nein, nur eine vernichtende
militärische Niederlage auf dem Schlachtfeld wird die Israelis zwingen, ihren
Staat aufzugeben. Und wenn das der Fall ist, wäre unsere Debatte sowieso
irrelevant.
Die Mehrheit des palästinensischen Volkes will auch einen eigenen Staat. Er
wird gebraucht, um ihre grundlegensden Bestrebungen
zufrieden zu stellen, ihren Nationalstolz wieder herzustellen und ihr Trauma zu
heilen. Das wollen auch die Führer der Hamas, mit
denen wir gesprochen haben. Jeder, der anders denkt, leidet unter einer
Illusion. Es gibt Palästinenser, die von „Einem Staat“ reden, aber für die
meisten darunter ist das nur ein Codewort für die Demontage des Staates Israel.
Auch sie wissen, dass das utopisch ist.
Es gibt auch Palästinenser, die sich vormachen, sie könnten die Israelis so
ängstigen, wenn sie über „Einen Staat“ reden, dass diese der Errichtung eines
palästinensischen Staates neben Israel zustimmen. Aber das Ergebnis dieser
Methode nach Machiavelli führt genau zum Gegenteil: Sie ängstigt die Israelis und
treibt sie in die Arme der Rechten. Es weckt den fürchterlichen Hund der
ethnischen Säuberung, der in der Ecke schläft. Diesen Hund darf man nicht einen
Augenblick vergessen !
AUF DER GANZEN WELT geht die Tendenz in die andere Richtung: Nicht die Schaffung
neuer Vielvölkerstaaten sondern im Gegenteil das Aufbrechen der Staaten in
nationale Komponenten. In Schottland hat in dieser Woche eine Partei den Sieg
davongetragen, die sich von England abspalten möchte. Die frankophone Minorität
in Kanada balanciert immer an der Grenze zur Sezession. Kosovo ist dabei, die
Unabhängigkeit von Serbien zu erlangen. Die Sowjetunion ist zerbrochen in ihre
Teile, Tschetschenien möchte sich von Russland trennen, Jugoslawien ist
auseinandergebrochen, Zypern ist auseinandergebrochen, die Basken wollen
unabhängig werden, Korsen wollen ihre Unabhängigkeit, in Sri Lanka wütet der
Bürgerkrieg, ebenso wie im Sudan. In Indonesien lockern sich die
Verbindungsnähte an einem Dutzend verschiedener Orte. Belgien hat endlose
Probleme.
Auf der ganzen Welt gibt es kein Beispiel, wo zwei verschiedene Nationen sich
aus ihrem eigenen freien Willen heraus entscheiden, in einem Staat zusammen zu
leben. Es gibt kein Beispiel – außer der Schweiz – für einen bi-nationalen oder Vielvölker- Staat, der wirklich
funktioniert. (Und die Schweiz, die in einem einmaligen Prozess über die
Jahrhunderte zusammengewachsen ist, ist die sprichwörtliche Ausnahme von der
Regel.)
Zu hoffen, dass nach 120 Jahren Konflikt, in den inzwischen eine fünfte
Generation hinein geboren wurde, ein Übergang vom totalen Krieg zum totalen
Frieden in einem gemeinsamen Staat unter Aufgabe aller Sehnsüchte nach
Unabhängigkeit möglich sein könnte, ist eine vollständige Illusion.
WIE SOLL diese Idee realisiert werden? Die Befürworter des „Einen Staates“
erklären dies niemals im Detail.
Anscheinend soll es so vor sich gehen: Die Palästinenser geben ihren
Unabhängigkeits-Kampf auf, verzichten auf alle Bemühungen nach einem eigenen
Nationalstaat. Sie werden verkünden, dass sie in einem gemeinsamen Staat mit
den Israelis leben wollen. Nach der Errichtung dieses Staates werden sie um
ihre Bürgerrechte zu kämpfen haben. Menschen guten Willens rund um die Erde
werden ihren Kampf unterstützen, wie sie es einst in Südafrika getan haben. Sie
werden einen Boykott auferlegen. Sie werden den Staat isolieren. Millionen
Flüchtlinge werden in das Land zurückkehren. Bis das Blatt sich wendet und eine
palästinensische Mehrheit die Regierung stellt. Wie lange wird das dauern? Zwei
Generationen ? Drei Generationen ? Vier Generationen ?
Kann sich irgendjemand vorstellen, wie solch ein Staat in der Praxis
funktionieren soll ? Ein Mann in Bil
Ist das realistisch ?
Manche sagen: Aber diese Situation gibt es ja schon. Israel beherrscht bereits
einen Staat vom Meer bis zum Jordan- Fluss. Man muss nur das Regime ändern.
Dazu erstmal: Nichts dergleichen gibt es. Es gibt einen Staat, der Land
besetzt, und es gibt besetztes Gebiet.
Es ist viel, viel leichter, Siedlungen zu demontieren als sechs Millionen
jüdische Israelis zu zwingen, den Staat zu demontieren.
NEIN, DER EINE STAAT wird nicht entstehen. Aber fragen wir uns selbst – wenn er
entstünde, wäre das gut ?
Meine Antwort ist: Bestimmt nicht.
Lassen Sie uns diesen Staat ausmalen, nicht als eine imaginäre Schöpfung, als
eine perfekte Utopie, sondern wie er Wirklichkeit sein würde.
In diesem Staat werden die Israelis dominieren. Sie verfügen über eine totale
Überlegenheit in praktisch allen Bereichen: Lebensqualität, militärische Macht,
technologische Kapazitäten. Das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Israeli
ist 25 Mal (fünfundzwanzigmal!) höher als das eines
Durchschnitts-Palästinensers. $ 20.000 gegenüber $ 800. Die Israelis werden
dafür sorgen, dass die Palästinenser für eine lange, lange Zeit Holzhauer und
Wasserschöpfer bleiben.
Es wird eine Besatzung anderer Art sein. Eine verdeckte Besatzung. Das wird den
Konflikt nicht beenden, er wird nur in eine neue Phase treten.
WIRD DIESE Lösung einen gerechten Frieden bringen ?
Kaum.
Dieser Staat wird ein Schlachtfeld sein. Jede Seite wird versuchen, so viel
Land als möglich zu ergattern und so viele Menschen als möglich herein zu
bringen. Die Juden werden mit allen Mitteln kämpfen, um die Araber daran zu
hindern, zur Mehrheit zu werden und Macht zu gewinnen. In der Praxis wird dieses ein Apartheidstaat sein. Wenn die Araber zur Mehrheit
werden und auf demokratischem Wege an die Regierung zu kommen versuchen, wird
ein Kampf entbrennen, der zu einem Bürgerkrieg zu werden droht. Eine Neuauflage
von 1948.
Selbst ein Verfechter der Ein-Staat-Lösung muss zugeben, dass der Kampf einige
Generationen lang weitergehen wird. Viel Blut wird wahrscheinlich fließen, und
wer weiß, was dabei heraus kommt.
Es ist eine Utopie. Um sie zu relisieren, muss man
das Volk auswechseln, vielleicht beide Völker. Man müsste einen neuen Menschen
schaffen. Das war es, was die Kommunisten am Anfang der Sowjetunion zu tun
versuchten. Das war es, was die Gründer der Kibbutzim
zu tun versuchten. Zu unserem Leidewesen ist der Mensch der
selbe geblieben.
Gerade schöne Utopien können schlimme Konsequenzen mit sich bringen. In der
Vision vom „Wolf, der beim Lamm wohnt“ braucht man jeden Tag ein neues Lamm.
Es gibt Leute, die zitieren das Modell Südafrika. Ein wunderschönes und ermutigendes
Beispiel. Unglücklicherweise gibt es kaum eine Ähnlichkeit zwischen dem Problem
dort und dem Problem hier.
In Südafrika gab es keine zwei Nationen, jede mit einer Tradition, einer
Sprache und einer Religion, die mehr als tausend Jahre zurück reicht. Weder die
Weißen noch die Schwarzen wollten einen getrennten
Staat für sich, noch haben sie je in zwei getrennten Staaten gelebt. Der eine
Staat hatte schon lange existiert, und bei dem Kampf ging es um die Macht in
diesem einen Staat.
Die Herren von Südafrika waren Rassisten, die die Nazis bewunderten und
deswegen während den Zweiten Weltkrieges eingekerkert
waren. Es war nicht schwer, diesen Staat in allen möglichen Bereichen zu
boykottieren. Israel dagegen wird von der Welt akzeptiert als der Staat der
Holocaust-Überlebenden, und abgesehen von kleinen Gruppierungen wird niemand
über Israel Boykott verhängen. Es wird genügen, wenn die Juden an den
Nazi-Slogan erinnern, der am Anfang des Weges nach Auschwitz stand: "Kauft
nicht bei Juden".
Darüber hinaus wird ein weltweiter Boykott in den Herzen vieler Juden in der
ganzen Welt die tiefsten Ängste vor dem Antisemitismus schüren und wird sie in
die Arme der extremen Rechten treiben.
Ein ganz anderes Ding ist ein gezielter Boykott gegen spezifische Erscheinungen
der Besatzung. Wir waren Pioniere dieser Auffassung, als wir vor mehr als zehn
Jahren zum Boykott der Produkte der Siedlungen aufriefen und die Europäische
Union mit zogen.
Nebenbei: Experten für Südafrika erzählen mir, dass die Auswirkungen des Boykott stark überbewertet werden. Nicht der Boykott war der
Hauptauslöser, der das Apartheidregime zu Fall brachte, sondern die
internationale Situation. Die Vereinigten Staaten unterstützten das Regime als
Bollwerk im Kampf gegen den Kommunismus. Als die Sowjetunion zusammengebrochen
war, ließen die Amerikaner Südafrika einfach fallen.
Die Beziehungen zwischen den USA und Israel sind sehr viel tiefer und
komplexer. Es gibt hier tiefe ideologische Schichten - ein ähnliches nationales
Narrativ, die christlich evangelikale Theologie, und anderes mehr.
DIE ZWEI-STAATEN-LÖSUNG ist die einzige praktische Lösung im realisierbaren
Bereich.
Es ist lächerlich, zu behaupten, sie wäre fehlgeschlagen. Genau das Gegenteil
passiert: auf dem wichtigsten Gebiet, dem kollektiven Bewusstsein, gwinnt sie an Boden.
Kurz nach dem Krieg 1948, als wir die Fahne dieser Idee hissten, waren wir eine
Hand voll Leute. Man konnte uns an den Fingern zweier Hände aufzählen.
Jedermann behauptete damals, ein palästinensisches Volk existiere gar nicht.
Noch in den sechziger Jahren lief ich in Washington herum und sprach mit Leuten
im Weißen Haus, im Außenministerium, dem National Security
Council und mit der US-Delegation an der UNO – keiner
dort wollte von solch einer Idee hören.
Jetzt gibt es einen weltweiten Konsens, dass dies die einzige Lösung darstellt.
Die USA, Russland, Europa, die öffentliche Meinung in Israel, die öffentliche
Meinung in Palästina, die Arabische Liga. Man begreife, was das bedeutet: Die
gesamte arabische Welt befürwortet jetzt diese Lösung. Das ist für die Zukunft
von enormer Wichtigkeit.
Wie ist das geschehen? Wohl nicht, weil wir so begabt sind,
die ganze Welt zu überzeugen. Nein, die innere Logik dieser Lösung hat die Welt
erobert. Obwohl ein Teil ihrer neuen Befürworter ihr nur ein Lippenbekenntnis
ablegen. Es kann gut sein, dass diese damit nur von ihren wirklichen Absichten
ablenken wollen. Gestalten wie Arie Sharon und Ehud Olmert treten als Befürworter dieser Idee auf, während sie
in Wirklichkeit die Aufhebung der Besatzung verhindern wollen. Gerade das weist
darauf hin, dass auch sie begriffen haben, dass sie nicht mehr offen gegen die
Zwei-Staaten-Lösung antreten können. Wenn die ganze Welt diese Lösung als die
einzig machbare anerkannt hat – wird sie am Ende realisiert werden.
DIE PARAMETER sind bekannt, und auch sie genießen weltweit Zustimmung:
1. Ein palästinensischer Staat wird neben Israel entstehen.
2. Die Grenze zwischen den beiden wird auf der Grünen Linie (der
Demarkationslinie von 1967) basieren, evtl. mit übereingekommenem Tausch
gleichwertiger Gebiete.
3. Jerusalem wird Hauptstadt beider Staaten.
4. Es wird eine Übereinkunft zum Flüchtlingsproblem geben, das heißt, in der
Praxis wird eine übereingekommene Anzahl nach Israel zurückkehren, alle anderen
werden sich entweder im Staat Palästina ansiedeln, oder sie werden in ihren
jetzigen Domizilen bleiben, wobei großzügige Entschädigung ihnen helfen wird,
willkommene Gäste zu sein. Wenn es ein Übereinkomme gibt, das jedem Flüchtling
die Möglichkeiten aufzeigt, die sich ihm bieten, muss es ihm vorgelegt werden,
wo auch immer er sich befindet; die entgültige Entscheidung muss von ihm
mitgetragen werden.
5. Es wird eine Wirtschafts-Partnerschaft geben, die es der palästinensischen
Regierung ermöglicht, die Interesse des
palästinensischen Volkes wahrzunehmen und zu verteidigen, im deutlichen
Gegensatz zur jetzigen Situation. Die bloße Existenz beider Staaten wird den
gewaltigen Unterschied der Macht der beiden Staaten, zumindest in bescheidenem
Ausmaß, verringern.
6. In der ferneren Zukunft – eine Nahost-Union nach europäischem Modell , die
vielleicht auch die Türkei und Iran miteinschließt.
Die Hindernisse sind bekannt, und sie sind groß genug. Man kann sie nicht mit
Hilfe eines Wunder-Dopingmittels überspringen. Man muss sich mit ihnen
auseinandersetzen und sie überwinden. Bei uns in Israel müssen wir die
Befürchtungen und Ängste bekämpfen und die Vorteile und den Gewinn
hervorkehren, die uns die Bildung eines Staates Palästina an unserer Seite
bieten.
Wir müssen an der Änderung des Bewusstseins arbeiten. Einen guten Teil des
Weges haben wir schon zurückgelegt, seit den Tagen, als die Öffentlichkeit
insgesamt die bloße Existenz des palästinensischen Volkes leugnete, die Idee
von der Bildung eines Staates Palästina, von der Teilung Jerusalems zurückwies,
Gespräche mit der PLO und Verträge mit Arafat verweigerte. Bei all diesen
Themen hat sich unsere Haltung langsam aber sicher durchgesetzt und ist, in
unterschiedlichem Maß, doch akzeptiert worden.
Natürlich sind wir noch weit von dem entfernt was Not tut. Aber die Richtung
stimmt. – Es gibt hunderte von Meinungsumfragen, die das beweisen.
REALE HINDERNISSE für die Zwei-Staaten-Lösung können überwunden werden.
Gegenüber den Hindernissen auf dem Weg zu "einem Staat" sind sie
verschwindend klein. Ich würde sagen 1:1000. Etwa wie ein Boxer, der den
Opponenten im Fliegengewicht nicht überwinden kann und dann einen Gegner im
Schwergewicht besiegen will. Oder ein Leichtathlet, der im 100-Meter-Lauf
versagt und sich deshalb zum Marathon anmeldet. Oder ein Bergsteiger, der den
Mont Blanc nicht bezwingt und beschließt, den Gipfel
des Mount Everest zu stürmen.
Zweifellos gewährt die Idee vom einen Staat denen, die sie hegen, moralische
Befriedigung. Jemand hat mir gesagt: O.K., es ist vielleicht nicht ganz
realistisch, aber es ist moralisch, und das ist der Standpunkt, auf dem ich
stehen will. Ich sage: Das ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können.
Wenn das Schicksal so vieler Menschen auf dem Spiel steht, ist ein
unrealistischer moralischer Standpunkt unmoralisch. Ich wiederhole: Ein
unrealistischer moralischer Standpunkt ist unmoralisch.
Es gibt Menschen, die verzweifeln, weil es den Friedenskräften nicht gelungen
ist, die Besatzung zu beenden. Wir sind ja eine kleine Minderheit geblieben.
Die Regierung und die Medien ignorieren uns. Stimmt. Wir sind aber auch mit
verantwortlich dafür. Wir haben nicht genügend nachgedacht, die Gründe für
dieses Scheitern nicht erforscht. Wann hat zum letzten Mal eine gründliche
Besprechung der Strategie und Taktik im Kampf für den Frieden stattgefunden?
Es ist uns nicht gelungen, die orientalisch-jüdische Gemeinde zu erreichen. Wir
sind den russischen Neueinwanderern fremd geblieben. Sogar mit der arabisch-palästinensischen
Gemeinde in Israel haben wir keine wirkliche Partnerschaft aufgebaut. Wir haben
noch keinen Zugang zum Herzen der allgemeinen Öffentlichkeit gefunden. Wir
haben es nicht geschafft, eine vereinte effiziente politische Kraft auf die
Beine zu stellen, die in der Lage wäre, Einfluss auf Knesseth und Regierung
auszuüben. Wir müssen uns gründlich prüfen.
NICHT GENUG, dass die Ein-Staat-Lösung nicht umsetzbar ist. Sie birgt auch
große Gefahren.
1. Sie lenkt die Bemühungen in eine falsche Richtung. Wir können das in der
Realität schon sehen. Sie ist das Ergebnis von Verzweiflung und wird mehr
Verzweiflung mit sich bringen. Sie bewegt Friedenskämpfer, ihren Einsatzort im
Land zu verlassen, in der Illusion, der wahre Kampf fände im Ausland statt. Das
ist Eskapismus.
2. Sie lässt uns unwiederbringlich Zeit verlieren. Jahrzehnte, in denen den
Palästinensern wie uns Schreckliches passieren kann. Gerade wer (mit Recht!)
ethnische Säuberungen befürchtet, muss sich dieser Gefahr in ihrer Dringlichkeit
bewusst sein.
3. Sie teilt das Friedens-Lager und trennt es endgültig von der Öffentlichkeit.Damit werden die Rechten gestärkt, da die
Normalbürger mit gesundem Menschenverstand verängstigt werden und eine
annehmbare Lösung aus dem Auge verlieren.
4. Sie zieht dem Kampf gegen die Besatzung und gegen die Siedlungen den Boden
unter den Füßen weg. Wenn das ganze Land vom Meer bis zum Jordan ein Staat
wird, werden die Siedler sich überall breit machen.
5. Sie bestärkt das Argument, es gäbe für diesen Konflikt "keine
Lösung". Wenn die Zwei-Staaten-Lösung verkehrt ist, die Ein-Staat-Lösung
sich als nicht praktikabel herausstellt, dann haben die Rechten recht mit ihrer
Behauptung: Es gibt gar keine Lösung – eine Behauptung, mit der jedwede
Bosheit, jede Abscheulichkeit gerechtfertigt werden kann, von der unendlichen
Besatzung bis zur ethnischen Säuberung. "Keine Lösung" bedeutet:
ewige Besatzung.
Das muss klar sein: Die Besatzung wird kein Ende finden solange es keinen
Friedensvertrag gibt.
WAS DIE FERNE ZUKUNFT BETRIFFT, werden wir uns wahrscheinlich an vielen Punkten
unerwartet treffen.
Wenn wir den Punkt erreichen, der Friede zwischen zwei Staaten heißt, wird
jeder in der Lage sein, den Punkt zu wählen, den er als nächstes erreichen
will.
Einer will die Vereinigung beider Staaten in einen betreiben? Bitte schön.
Einer hält die Zwei-Staaten-Lösung für gut für alle Zeiten? Warum nicht. Ein
anderer meint, wie ich, die beiden Staaten werden sich langsam aber sicher, in
beiderseitigem Einverständnis Schritt für Schritt, auf eine Föderation oder
Konföderation zu bewegen? Herzlich willkommen und haltet Euch ran. (Auf unserem
ersten Treffen 1982 sprach Arafat mit mir über eine Benelux-Lösung, ähnlich der
für Belgien, die Niederlande und Luxemburg für Israel, Palästina und Jordanien,
vielleicht sogar Libanon. Er sprach darüber bis zum Ende.)
Die Erfahrung lehrt, dass der klassische Nationalstaat weiterhin formell
existiert, während in der Praxis viele seiner Funktionen wie in der
europäischen Union an über-nationale Strukturen übertragen werden. Dabei lebt
jeder unter seinem Dach , jeder unter seiner Flagge.
(Übrigens, als zum ersten Mal von der Vereinigung Europas die Rede war, wollten
viele die Nationalstaaten auflösen und die Vereinigten Staaten von Europa
gründen, nach dem Vorbild der USA. Charles De Gaulle warnte davor, die
nationalen Gefühle zu ignorieren. Er rief auf zum Europa der Vaterländer,
"L
Solch eine Entwicklung, nehme ich an, wird schließlich auch hier zustande
kommen. Im Moment müssen wir jedoch die unmittelbar anstehenden Probleme
behandeln. Vor uns liegt ein Verletzter, der zu verbluten droht. Wir müssen die
Blutung stillen und die Wunden versorgen, bevor wir die Krankheitsursachen in
Angriff nehmen.
ZUSAMMENGEFASST ist dies meine Meinung:
Trotzdem die Situation (wie immer) abscheulich aussieht, machen wir
Fortschritte.
Richtig, auf dem Boden der Tatsachen ist die Lage deprimierend und
erschütternd: Die Siedlungen werden mehr und größer, die Mauer wird länger und
länger, die Besatzung verursacht jeden Tag ungezählte unvorstellbare
Abscheulichkeiten.
Vielleicht ist es ein Vorteil, der mit dem Alter kommt: Heute, im Alter von 83
Jahren, kann ich vieles in der Perspektive sehr viel längerer Zeitspannen
sehen.
Denn unter der Oberfläche gibt es Strömungen in umgekehrter Richtung. Alle
Meinungsumfragen belegen, dass die eindeutige Mehrheit der israelischen
Öffentlichkeit sich mit der Existenz des palästinensischen Volkes abgefunden
hat, auch mit der Notwendigkeit der Bildung eines palästinensischen Staates.
Die Regierung hat gestern die PLO anerkannt und wird morgen die Hamas
anerkennen. Die Mehrheit hat sich mit Jerusalem als zukünftiger Hauptstadt
beider Staaten abgefunden. In weiter werdenden Kreisen der Gesellschaft hat
eine Entwicklung der Anerkennung des Narrativs des
anderen Volkes begonnen.
Es gibt einen weltweiten Konsensus zur Zwei-Staaten-Lösung. Er entstand auf dem
Wege der Eliminierung: In der Realität gibt es keine andere Lösung. Damit sie
Wirklichkeit werden kann, muss sie von innen unterstützt werden, von der
israelischen Öffentlichkeit. Diese Unterstützung müssen wir erreichen. Das ist
unsere Aufgabe.
Hier noch eine Warnung: Wir müssen uns vor Utopien hüten. Eine Utopie sieht aus
wie der Lichtschein in der Ferne am Ende des dunklen Tunnels. Einer, der die
Herzen wärmt. Es sind aber Irrlichter, die uns in falsche Abzweigungen führen,
aus denen wir keinen Ausweg mehr finden werden.
Auf die zwei entscheidenden Fragen bezüglich des Einen Staates haben wir nie
eine Antwort gehört: Wie wird er entstehen, und wie wird er in der Praxis
funktionieren? Wenn die Antworten auf diese Fragen ausbleiben, dann ist es kein
Plan sondern bestenfalls eine Vision.
Es ist wahr, 120 Jahre Konflikt haben in unserem Volk gewaltige Ausmaße an
Hass, Vorurteilen, unterdrückten Schuldgefühlen, Stereotypen, Angst
(hauptsächlich Angst!) und absolutem Misstrauen den Arabern gegenüber geschaffen.
Dagegen müssen wir kämpfen, die Öffentlichkeit überzeugen, dass sich der Friede
lohnt für die Zukunft Israels. Zusammen mit einer Änderung der internationalen
Situation und einer Partnerschaft mit dem palästinensischen Volk haben wir so
gute Chancen auf einen Frieden.
Ich habe jedenfalls beschlossen, am Leben zu bleiben, bis das geschieht.
(dt.G.Merz, Weichenhan-Mer
G., vom Verfasser autorisiert)