Zwei Ritter
und ein Drachen
Uri Avnery, 6.Oktober 2007
ES GIBT BÜCHER, die das
Bewusstsein der Menschen und die
Geschichte verändern. Einige darunter
erzählen eine Geschichte, wie Harriet Beech Stowe’s 1851
erschienenes Buch „Onkel Toms Hütte“,
das der Kampagne für die Abschaffung der Sklaverei eine enorme Antriebskraft freisetzte. Sie können
auch die Form einer politischen
Abhandlung annehmen wie Theodor Herzls Buch „Der Judenstaat“, das die
zionistische Bewegung entstehen ließ. Oder sie können wissenschaftlicher
Natur sein wie Charles Darwins Buch
„Über den Ursprung der Arten“, das die Art und Weise, wie sich die Menschheit
selbst sieht, verändert hat. Und vielleicht auch die politische Satire, die die
Welt erschüttern kann, wie „1984“ von
George Orwell.
Die Wirkung dieser Bücher
ist durch den Zeitpunkt ihrer Erscheinung verstärkt worden. Sie erschienen
genau im richtigen Moment, als ein großes Publikum bereit war, ihre Botschaft
aufzunehmen.
Es kann sehr gut sein, dass
das Buch der beiden Professoren John Mearsheimer und
Stephen Walt „Die Israel-Lobby und die US-Außenpolitik“ genau so ein Buch ist.
Es ist eine trockene,
wissenschaftliche Forschungsarbeit mit einem Umfang von 355 Seiten und weiteren 106 Seiten mit ca. 1000 Quellenangaben.
Es ist kein streitsüchtiges
Buch. Im Gegenteil – sein Stil ist zurückhaltend und sachlich. Die Autoren
geben sich große Mühe, nicht einen einzigen negativen Kommentar über die
Legitimität der Lobby zu äußern. Tatsächlich betonen sie bei jeder Gelegenheit
ihre Unterstützung für die Existenz und Sicherheit Israels. Sie lassen die
Fakten für sich selbst sprechen. Mit der
Geschicklichkeit erfahrener Maurer legen sie systematisch einen Ziegel auf den
anderen, Reihe um Reihe. In ihrer Argumentation lassen sie keine Lücke.
Diese so entstandene Mauer kann nicht durch
vernünftige Argumente eingerissen werden. Keiner hat es versucht. Stattdessen werden die Autoren verunglimpft
und unlautere Motive werden ihnen untergeschoben. Wenn das Buch hätte ignoriert werden können, dann hätte man
es getan – wie es bereits mit anderen Büchern geschehen ist, die lebendig
begraben wurden.
(Vor ein paar Jahren
erschien in Russland ein dicker Band von
Alexander Solchenizin, dem bekannten
Literaturnobelpreisträger, über Russland
und seine Juden. Dieses Buch mit dem Titel „200 Jahre zusammen“ wurde
vollkommen ignoriert. So weit ich weiß, ist es in keine andere Sprache
übersetzt worden, ganz sicher nicht ins Hebräische. Ich fragte mehrere führende
Intellektuelle Israels, aber keiner hat je etwas von diesem Buch gehört. Es
erschien auch nicht auf der Liste von Amazon.com, die alle anderen
Bücher des Autors aufführt.)
DIE BEIDEN Professoren
packen den Stier bei den Hörnern. Sie
befassten sich mit einem Thema, das in den USA ein absolutes Tabu ist –
einem Thema, das keiner, der noch ganz bei Trost ist, auch nur erwähnt: den
immensen Einfluss der Pro-Israel-Lobby auf die
amerikanische Außenpolitik.
In einer erbarmungslos
systematischen Weise analysiert das Buch die Lobby, nimmt sie aus einander,
beschreibt ihren Modus operandi, enthüllt ihre
finanziellen Quellen und deckt ihre Beziehungen zum Weißen Haus, den beiden
Häusern des Kongresses, zu den Führern der beiden größeren Parteien und zu
führenden Medienleuten auf.
Die Autoren stellen die
Legitimität der Lobby nicht in Frage. Im Gegenteil, sie zeigen, dass Hunderte
von Lobbys dieser Art eine wesentliche Rolle im amerikanischen demokratischen
System spielen. Die Waffenlobby und die medizinische Lobby sind z.B. auch sehr
mächtige politische Kräfte. Aber die Pro-Israel-Lobby
ist überproportional angewachsen, ihre politische Macht ist ohnegleichen. Sie
kann im Kongress und in den Medien alle Kritik an Israel zum Schweigen bringen;
den politischen Niedergang von jedem veranlassen, der es wagt, das Tabu zu
brechen; und jede Handlung unterbinden, die nicht mit der israelischen
Regierung konform geht .
Im zweiten Teil zeigt das
Buch, wie die Lobby ihre gewaltige Macht in die Praxis umsetzt: wie sie jeden
Druck auf Israel, mit den Palästinensern Frieden zu machen, verhindert; wie sie
die USA in die Invasion in den Irak getrieben hat,; wie sie jetzt zu Kriegen
mit dem Iran und Syrien antreibt; wie sie die israelische Führung im letzten
Libanonkrieg unterstützte und Aufrufe
für eine Feuerpause blockierte, als sie dies nicht wollte.
Jede dieser Behauptungen ist
von so vielen unleugbaren Beweisen und
schriftlichen Zitaten gestützt – die
meisten aus israelischen Quellen – die nicht ignoriert werden können.
DIE MEISTEN dieser
Enthüllungen sind für die in Israel, die
sich mit dieser Materie (schon lange)
befassen, nichts Neues.
Ich könnte diesem Buch
selbst noch ein ganzes Kapitel auf Grund
eigener Erfahrungen hinzufügen.
In den späten 50ern besuchte
ich die USA das erste Mal. Eine bedeutende Radiostation in New York lud mich zu
einem Interview ein. Später warnten sie mich: „Sie können sehr wohl den Präsidenten (Dwight Eisenhower)
und den Außenminister (John Foster Dulles) nach Herzenslust kritisieren,
aber, bitte, keinen israelischen
Führer!“ Im letzten Augenblick wurde das Interview ganz gestrichen, und der
irakische Botschafter wurde stattdessen eingeladen. Anscheinend war Kritik
passabel, wenn sie von einem Araber kam, aber keineswegs, wenn sie von einem
Israeli stammte.
1970 lud mich die geachtete
amerikanische „Gesellschaft für Versöhnung“ ein, um an 30 Universitäten unter
der Schirmherrschaft von Hillel-Rabbinern
einen Vortrag zu halten. Als ich in New York ankam, wurde ich davon
unterrichtet, dass 29 der 30 Vorlesungen gestrichen wurden. Der einzige
Rabbiner, der den Vortrag nicht ausfallen ließ, Balfour
Brinkmann, zeigte mir eine geheime Mitteilung der „Anti-Defamation-Ligue“,
in der meine Vortragsreihe geächtet wurde. Darin hieß es: „Während
Knessetmitglied Avnery nicht als Verräter angesehen werden kann, würde sein
Erscheinen zu diesem Zeitpunkt Anlass zu Kontroversen geben …“ Schließlich
wurden alle Vorlesungen unter der Schirmherrschaft von christlichen Geistlichen
gehalten.
Ich erinnere mich besonders
an ein deprimierendes Erlebnis in Baltimore. Ein guter Jude, der freiwillig
mein Gastgeber war, war über die Streichung meines Vortrages in dieser Stadt
verärgert und bestand hartnäckig darauf,
dass er gehalten werde. Wir durchkämmten die Straßen des jüdischen Viertels –
Meile um Meile Schilder mit jüdischen Namen – und fanden keinen einzigen Raum,
dessen Besitzer mit dem Vortrag dieses israelischen Knessetmitgliedes
einverstanden gewesen wäre. Am Ende hielt ich den Vortrag im Souterrain des
Gebäudes, in dem die Wohnung meines Gastgebers lag – und Funktionäre der
jüdischen Gemeinde kamen, um zu protestieren.
In jenem Jahr während des
Schwarzen Septembers, hielt ich unter der Schirmherrschaft der Quäker eine
Pressekonferenz in Washington DC. Es schien wie ein riesiger Erfolg. Die
Journalisten kamen direkt von einer Pressekonferenz mit Ministerpräsidentin
Golda Meir und überschütteten mich mit Fragen. Fast alle wichtigen
Medienvertreter waren anwesend, TV-Netzwerke, Radio, die größeren Zeitungen.
Nach der geplanten Stunde ließ man mich nicht gehen und hielt mich noch weitere
anderthalb Stunden auf. Aber am nächsten Tag erschien nicht ein einziges Wort
in irgendeinem Medienorgan. 31 Jahre
später im Oktober 2001 hielt ich eine Pressekonferenz auf dem Kapitol-Hügel in Washington – und es geschah genau
dasselbe: viele Medien waren anwesend, sie hielten mich wieder eine weitere Stunde
fest – und kein Wort, kein einziges Wort wurde veröffentlicht.
1968 veröffentliche ein
anerkannter amerikanischer Verlag (Macmillan) ein
Buch von mir:
„Israel ohne Zionisten“. Es
wurde später in acht Sprachen übersetzt. Das Buch beschrieb den israelisch-arabischen
Konflikt in einer völlig anderen Weise als sonst: es schlug die Errichtung
eines palästinensischen Staates neben Israel vor – damals eine revolutionäre
Idee. Es kam keine einzige Buchbesprechung in den amerikanischen Medien. Ich
suchte in einem der größten Buchläden
New Yorks nach dem Buch und fand es nicht. Als ich einen Verkäufer fragte, fand
er ein Exemplar unter einem Stapel von Büchern und legte es oben drauf. Nach
einer halben Stunde war es wieder versteckt.
Das Buch befasst sich
mit der „Zwei Staaten – zwei Völker“-Lösung lange
bevor es zum weltweiten Konsens wurde – und mit meinem Vorschlag für Israels
Integration in die „semitische Region“. Es stimmt, ich bin ein israelischer
Patriot und wurde von israelischen Wählern in die Knesset gewählt. Aber ich
kritisierte die israelische Regierung – das genügte.
DAS BUCH der beiden
Professoren, die die israelische Regierung
aus einem anderen Gesichtswinkel kritisieren, kann nicht mehr begraben
werden. Diese Tatsache allein spricht schon Bände.
Das Buch gründet sich auf
einem Aufsatz der beiden, der letztes Jahr in einer englischen Zeitschrift
erschienen ist ( 23.3.2006 http://www.lrb.co.uk/v28/n06/mear01_.html
), nachdem keine amerikanische
Veröffentlichung es gewagt hatte, ihn zu publizieren. Nun hat ein
amerikanischer Verlag es veröffentlicht. Das ist schon ein Anzeichen dafür,
dass sich etwas tut. Die Situation hat sich nicht verändert, aber es scheint
so, als es ob nun möglich sei, darüber zu reden.
Alles hängt vom richtigen
Zeitpunkt ab - und nun scheint die Zeit
für solch ein Buch reif zu sein, das viele gute Leute in Amerika schockieren
wird. Es verursacht nun einen Aufruhr.
Die beiden Professoren
werden natürlich des Antisemitismus’, des Rassismus’ und des Hasses gegen Israel angeklagt. Hass
auf Israel ? Es ist die Lobby selbst, die einen großen Teil Israels hasst.
Während der letzten Jahre driftete sie
sogar immer weiter nach rechts ab. Einige seiner Wählergruppen – wie die Neo-Cons, die die
USA in den Irak-Krieg trieben – sind offen mit dem rechten Flügel des Likud
verbunden und besonders mit Binyamin Netanyahu. Die Milliardäre, die die Lobby finanzieren, sind
dieselben Leute, die auch die extreme israelische Rechte finanzieren – und vor
allem die Siedler.
Die kleinen entschlossenen
jüdischen Gruppen in den USA, die die israelischen Friedensgruppen
unterstützen, werden unbarmherzig
verfolgt. Einige von ihnen haben nach ein paar Jahren aufgegeben. Mitglieder
von israelischen Friedensgruppen, die nach Amerika gesandt werden, werden
boykottiert und als „selbst-hassende Juden“ verleumdet.
Die politischen Ansichten
der beiden Professoren, die am Ende des Buches kurz dargestellt werden, stimmen
mit dem Standpunkt der israelischen Friedenskräfte überein: die
Zwei-Staaten-Lösung, Ende der Besatzung, Grenzen, die auf der Grünen Linie
basieren, und eine internationale Unterstützung für ein Friedensabkommen.
Wenn dies Antisemitismus
ist, dann sind wir hier alle Antisemiten. Und nur die christlichen Zionisten –
diejenigen, die offen die Rückkehr der Juden in dieses Land fordern (heimlich
aber die Vernichtung derjenigen Juden prophezeien, die sich nicht vor der Wiederkunft Jesu Christi bekehren) - sie sind die wirklichen Liebhaber Zions.
AUCH WENN kein einziges
schlechtes Wort über die Pro-Israel-Lobby in den USA
geäußert werden kann, so ist sie deshalb keine Geheimgesellschaft, die eine
Verschwörung ausbrütet, wie die „Protokolle der Weisen zu Zion“ es suggerieren.
Im Gegenteil, AIPAC, die „Liga gegen Diffamierung“, die „Zionistic
Federation“ und die anderen Organisationen rühmen
sich lautstark ihrer Aktionen und prahlen
öffentlich mit ihren
unglaublichen Erfolgen.
Natürlich wetteifern die
verschiedenen Teile der Lobby: wer hat den größten Einfluss im Weißen Haus; wer
jagt den meisten Senatoren Schrecken ein; wer kontrolliert mehr Journalisten
und Kommentatoren? Dieser Wettbewerb verursacht eine ständige Eskalation – weil
jeder Erfolg der einen Gruppe die andere Gruppe anspornt, ihre Bemühungen zu
verdoppeln.
Dies könnte sehr gefährlich
werden. Ein Ballon, der monströse Dimensionen angenommen hat, kann eines Tages
den amerikanischen Juden direkt ins Gesicht klatschen (die nach Umfragen –
übrigens - gegen viele Ansichten der Lobby sind, die behauptet, in ihrem Namen
zu sprechen).
Der größte Teil der
amerikanischen Öffentlichkeit ist jetzt gegen den Irak-Krieg und sieht ihn
als Katastrophe an. Diese Mehrheit
verbindet den Krieg noch nicht mit den Aktionen der Pro-Israel-Lobby.
Keine Zeitung und kein Politiker wagt es, auf solch eine Verbindung hinzudeuten
– noch nicht.
Aber wenn dieses Tabu erst
einmal gebrochen wird, dann können die Folgen für die Juden und für Israel
verheerend sein.
Unter der Oberfläche sammelt
sich gegen die Lobby einiger Zorn an.
Die Präsidentschaftskandidaten, die gezwungen werden, vor der AIPAC zu
kriechen, die Senatoren und Kongressleute, die die Sklaven der Lobby geworden
sind, die Medienleute , denen es verboten ist, das zu schreiben, was sie
wirklich denken – all diese verachten die Lobby. Wenn dieser Zorn sich entlädt,
kann er bei uns Schaden anrichten.
Diese Lobby ist wie ein
Golem geworden. Und wie in der Golem-Legende
wird auch sie eines Tages Verderben über ihren Schöpfer bringen.
WENN ES MIR erlaubt ist,
selbst einige Kritik zu üben:
Als der ursprüngliche
Artikel der beiden Professoren erschien, behauptete ich, dass „der Schwanz mit
dem Hund wedelt und der Hund mit dem Schwanz.“ Der Schwanz ist natürlich
Israel.
Die beiden Professoren
bestätigen den ersten Teil der Gleichsetzung, aber leugnen energisch den zweiten Teil. Die zentrale
These des Buches ist, dass der Druck der Lobby die USA dazu zwingt, gegen die
eigenen Interessen zu handeln (und auf die Dauer auch gegen die wahren
Interessen Israels). Sie akzeptierten jedoch
nicht meine im Buch zitierte Behauptung, dass Israel im Libanon wie
„Amerikas Rottweiler“ (gegenüber der Hisbollahs als Irans Dobermann) handelte.
Ich stimme darin mit den
Autoren überein, dass die USA gegen ihre eigenen wahren Interessen handelt (und
auch gegen die wahren Interessen Israels) – aber die amerikanische Regierung
sieht dies nicht. Bush und seine Leute glauben, dass sogar ohne den Beitrag der
Lobby es für die US vorteilhaft sei, eine permanente amerikanische
Militärpräsenz in der Mitte der Region mit ihren großen Ölressourcen zu
errichten. Meiner Ansicht nach waren diese eines der Hauptziele des Krieges,
und gleichzeitig einen von
Israels gefährlichsten Feinden zu beseitigen. Leider befasst sich
das Buch sehr kurz mit diesem Problem.
Dies vermindert in keiner
Weise meine tiefe Bewunderung für die intellektuellen Qualitäten, die
Integrität und den Mut von Mearsheimer und Walt, zwei
Rittern, die wie St. Georg hinausstürmen, um dem furchtbaren Drachen gegenüber
zu treten.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs und Christoph Glanz, vom
Verfasser autorisiert)