Die letzte Zuflucht
Uri Avnery, 10.11.07
ISRAEL ist wie eine Insel im
globalen Meer. Wir leben in einer Seifenblase. In der vergangenen Woche ist mir
dies wieder sehr klar geworden.
Ich kam aus Deutschland
zurück. Am Vorabend des Rückfluges berichteten alle Fernsehnetzwerke von CNN
und BBC bis zu den deutschen Kanälen über das Geschehen in Pakistan. Im
Flugzeug öffnete ich Israels größte Boulevardzeitung, Yedioth Aharonot, um
etwas über den pakistanischen Putsch zu lesen. Auf Seite 1 fand ich nicht die
geringste Erwähnung. Auch nicht auf Seite 2. Auf Seite 27 fand ich einen
kleinen Artikel. Die ersten Seiten waren einem viel wichtigeren Vorfall
gewidmet: den Protestschreien der rechten Fußball-Hooligans, als sie
aufgefordert worden waren, zum Gedenken an Yitzhak Rabin aufzustehen.
Am nächsten Tag fand Yedioth
einen israelischen Standpunkt, der es der Zeitung ermöglichte, Pakistan auf die 1. Seite zu
setzen: die Angst, die pakistanische Atombombe könne in die Hände von Osama Bin
Laden fallen, der sie auf Israel zielen könnte. Halleluja, da gibt es wieder
etwas, vor dem man Angst haben muss.
Aber der Putsch von Pervez
Musharaf muss ernst genommen werden. Er
könnte weitreichende Folgen für die Welt im allgemeinen
haben – und besonders für Israel.
DAS HAUPTOPFER ist - abgesehen von Hunderten politischer
Aktivisten, die ins Gefängnis geworfen worden sind – George W. Bush.
Machiavelli sagte, für den
Fürsten sei es besser, gefürchtet als geliebt zu werden. Es könnte auch gesagt
werden, für den Präsidenten sei es besser, gehasst, als verspottet zu werden.
Und es ist
Hohn und Spott, den George W. auf sich zieht. In der Vergangenheit behauptete er, es sei sein Hauptziel, der
muslimischen Welt die Demokratie zu bringen, und versicherte uns, dass die Erfüllung dieses Ziels schon auf dem Wege sei. Das ist eine
lächerliche Behauptung.
Was geschah tatsächlich?
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Im Irak
ist ein Tyrann gestürzt worden – und Dutzende von kleinen lokalen Tyrannen
haben die Macht übernommen. Das Land blutet und fällt auseinander. Die
„demokratischen Wahlen“ brachten eine Regierung an die Macht, die kaum die
Grüne Zone in Bagdad beherrscht, die von
amerikanischen Soldaten abgesichert werden muss.
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In Afghanistan
beherrscht ein „gewählter“ Präsident kaum die Hauptstadt Kabul. Im Rest des
Landes haben lokale Clanführer die Kontrolle. Und die Taliban erobern langsam
aber stetig das Land zurück.
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Im Iran
haben demokratische Wahlen einen hemmungslosen Politiker mit einer großen
Klappe
und kleinen Taten an die Macht gebracht; dessen Lieblingsbeschäftigung es ist,
die
amerikanischen
Kreuzfahrer und das „zionistische Regime“ zu verfluchen .
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In Syrien
herrscht eine stabile Diktatur, die nur deshalb weitermachen kann, weil
die
Syrer glauben, jede Alternative würde
schlimmer sein.
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Die Türkei
wird von einem religiös-islamischen Regime regiert – die Frau des
Präsidenten trägt ein Kopftuch. Mehr als
10 Millionen kurdische Bürger werden
unterdrückt und diskriminiert. Nicht
wenige Kurden kämpfen einen Guerillakrieg. Im Rahmen
dieser Kampagne gegen sie ist die
türkische Armee dabei, in den benachbarten Irak einzufallen,
dankbar für die Gelegenheit, das
praktisch unabhängige kurdische Regime dort zu
zerstören.
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Der Libanon
ist von einer Demokratie so weit entfernt wie eh und je. Wirkliche
demokratische
Wahlen, in denen jeder Bürger - ohne konfessionelle Schranken - direkt das Parlament wählen
kann, stehen nicht zur Debatte. Ein
neuer Präsident müsste gewählt werden, aber das ist nahezu
unmöglich. Die konfessionelle Kluft zwischen den
Gruppierungen ist zu tief. In der letzten
Woche führte die Hisbollah weiträumige
Manöver nahe der israelischen Grenze durch. Sogar die
israelische Armee war davon
beeindruckt.
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In Ägypten,
Jordanien und Saudi-Arabien, den drei „moderaten“ (lies:
diktatorisch und pro-amerikanischen) Ländern, gibt es eine sehr originelle Art einer Demokratie. Die politische Opposition
schmachtet im Gefängnis.
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In Palästina
waren unter internationaler Aufsicht
untadelige Wahlen abgehalten worden, die einzigen demokratischen Wahlen in der
ganzen arabischen Welt. George Bush wäre
stolz auf sie gewesen sein, wenn
sie -
seiner Ansicht nach - nicht
leider von den „Falschen“, der Hamas, gewonnen worden wären. Jetzt prophezeit
der israelische Militär-Nachrichtendienst, Präsident Mahmoud Abbas, Bushs
Liebling, werde unmittelbar nach der Annapolis-Konferenz stürzen, wenn
diese - wie erwartet - scheitern wird.
-
Und jetzt Pakistan.
Es schien, als würde Bush wenigstens
dort Erfolge erringen. Er hat Benazir Bhutto, einen anderen Liebling, zurück gebracht,
und alles sah gut aus: ein demokratisches Regime war dabei, errichtet zu
werden, der Präsident war dabei, seine Militäruniform auszuziehen und eine
Koalition mit Bhutto zu bilden. Aber dann explodierte in der Nähe ihres gepanzerten Wagens eine Bombe und Dutzende wurden getötet. Der
Präsidentengeneral, der nur auf solch eine Gelegenheit gelauert hatte, führte
einen Staatsstreich gegen sich selbst
durch, und anstelle einer moderaten Diktatur wurde eine viel härtere Diktatur
eingesetzt, eine pakistanische Version des
seligen Saddam Hussein.
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Wie
in einer Hollywoodkomödie steht George Bush da – mit einer ihm ins Gesicht
geklatschten Sahnetorte. Er sieht lächerlich aus.
KEIN
PRÄSIDENT möchte lächerlich aussehen. Gruselig – ja, dumm – ja, aber niemals lächerlich.
Das
mag einen direkten Einfluss auf eine Frage haben, die die ganze Welt bewegt,
mich auch: wird er den Iran angreifen?
Die
Versuchung ist fast unwiderstehlich. In
einem Jahr wird seine Amtsperiode zu Ende gehen . Nach
acht Jahren hat er nichts vorzuweisen – außer einer ununterbrochenen Reihe von
Fehlschlägen. Aber ein Mann, der (wie er selber sagt) täglich Gespräche mit
Gott hält, kann nicht in dieser Weise
von der Geschichtsbühne abtreten.
Er
wünscht sich einigen Erfolg in Annapolis. Dort wird es aber höchstens eine
nichtssagende Erklärung geben, die von den Verantwortlichen Israels und der
palästinensischen Behörde unterschrieben werden wird. Es wird einige gute
Phototermine geben – aber das wird die Löwen nicht befriedigen. Es ist etwas
Größeres nötig, etwas, das in den
Geschichtsannalen deutliche Spuren
hinterlassen wird.
Was
kann es Besseres geben, als die Menschheit vor der iranischen Atombombe zu
retten?
In
der deutschen Sprache gibt es einen Ausdruck „Flucht nach vorne“ – was soviel heißt wie: wenn man nicht mehr
weiter weiß, greife man seinen nächsten Feind an! So fiel Napoleon in Russland ein, und viele
Jahre später folgte Hitler aus ähnlichen Gründen. Bush mag den Iran angreifen.
Ich
habe den Verdacht, dass die Entscheidung längst gefallen ist und dass die
Vorbereitungen in vollem Gange sind. Dafür gibt es keinen Beweis, aber Bush
benimmt sich so, als hätte er sich für den Krieg entschieden.
Washingtons
große Propagandamaschine arbeitet rund um die Uhr, um die Grundlagen
vorzubereiten. Jeder, der dagegen ist, wird überrollt. Nach den Umfragen wächst
die Unterstützung der amerikanischen Öffentlichkeit von Tag zu Tag. Die
Mehrheit ist jetzt schon dafür. Der neue französische Präsident benimmt sich
wie ein hyperaktiver Junge, er ist schon
auf den fahrenden Zug aufgesprungen und hat Tony Blair als Bushs Pudel
verdrängt.
ISRAEL SOLL bei diesem Spiel eine zentrale Rolle spielen.
Auch
hier läuft eine große
Gehirnwaschmaschine auf vollen Touren. Das Außenministerium hat sich den
Bemühungen angeschlossen und begann eine weltweite Kampagne, um Mohammed
El-Baradei, den hoch geachteten Chef der Internationalen Atomenergiebehörde, zu
beschuldigen. Jeden Tag verbreiten gehorsame
Medien Berichte von Korrespondenten und Kommentatoren, die nur schlecht
getarnte Sprecher der Armee und der Regierung sind. Sie erzählen uns, dass
schon innerhalb von anderthalb Jahren
der Iran eine Atombombe haben wird. Und
dies wird das Ende der Welt und Israels bedeuten. Nach einer hebräischen
Redeweise muss die Medizin vor der
Krankheit vorhanden sein. Deshalb: bombt, bombt, bombt!
Eine
der möglichen Szenarien: Israel wird mit dem Bombardement beginnen. Die Iraner
werden mit dem Abfeuern von Raketen auf Israel reagieren. Die USA werden die Aktion „Rettet Israel!“ beginnen. Welcher
amerikanische Politiker wird es wagen, dem zu widerstehen? Wer ? Hillary Clinton?
Bush
träumt schon wieder von einem Krieg ohne amerikanische Opfer. Ein
„chirurgischer Schlag“. Ein Schauer von
„intelligenten Bomben“ wird auf Tausende von iranischen Zielen hinabregnen –
auf atomare, Regierungs-, militärische
und zivile Ziele. Was für ein süßer Traum: Iran wird sich ergeben. Das Regime
der Ayatollas wird zusammenbrechen. Der Sohn des verstorbenen Schah wird auf
dem Thron des Vaters sitzen, der selbst auch einmal mit Hilfe amerikanischer
Bajonette auf den Thron
zurück kam.
Wie
ich schon einmal sagte: ich bin von diesem Szenarium nicht überzeugt. Was sich
tatsächlich ereignen wird, ist die Sperrung der Meerenge
von Hormuz. Durch diese Meerenge, die nach einer antiken persischen
Gottheit benannt wurde, fließen 20% der Öllieferungen der Welt. Sie ist 270km
lang und an ihrer schmalsten Stelle nur 35 km breit. Ein paar Raketen und Minen
genügen, um sie zu schließen. Dies wäre erträglich, wenn der Krieg einige Tage
dauern würde. Doch wenn er sich über Wochen
und Monate hinziehen würde, dürfte er eine ungeheure, weltweite Krise
verursachen.
Und
der Krieg wird tatsächlich andauern. Dann gibt es keinen anderen Ausweg, als
dass große Bodentruppen zunächst die Regionen an der Meerenge erobern und dann das ganze große Land. Die
USA haben aber keine verfügbaren
Bodentruppen – selbst bevor amerikanische Truppen im Irak den Raketenangriffen
aus dem Iran und Guerillaaktionen der
Schiiten ausgesetzt sein werden, die im Irak die Mehrheit darstellen.
Das
wird kein kleiner und leichter Krieg sein. Der Iran ist nicht der Irak. Der Iran ist nicht wie der
Irak aus verschiedenen Völkern und Religionen zusammengesetzt; der Iran ist im
Vergleich dazu beinahe homogen. Dieser
Krieg wird ein Irakkrieg sein - doch 10 oder 100 mal
schlimmer.
UND
WIR? Wie werden wir mit diesem Krieg
fertig werden?
Da
die Regierung Israels und seine amerikanischen
Verbündeten mit all ihrer Macht zu einem Angriff drängen, wird Israel nicht umhin können, sich
an diesem Kampf zu beteiligen, wenn die
Amerikaner es fordern. Zunächst wird unsere Luftwaffe eingesetzt werden, später
können Bodentruppen benötigt werden.
Aber
Israel selbst wird auch zum Schlachtfeld werden. Die kümmerlichen Raketen von
Saddam Hussein haben damals in Tel Aviv Panik ausgelöst – was werden iranische
Raketen verursachen?
Die
arabischen Regierungen werden sich gezwungen sehen, die USA zu unterstützen –
mindestens mit Lippenbekenntnissen. Aber
die Herzen und Seelen der arabischen Völker von Marokko bis zum Irak
werden bei den Iranern sein, die sich selbst gegen Amerikaner und Israelis verteidigen. Besonders, wenn die
Konferenz in Annapolis – wie erwartet – ohne
positive Lösung für das palästinensische Volk zu Ende gehen wird.
Es
gibt nur einen Weg, um aus diesem Krieg unversehrt herauszukommen – ihn erst
gar nicht zu beginnen. Aber wie kann
Bush nach all den trostlosen
Fehlschlägen, die er im Irak, in Afghanistan und jetzt in Pakistan
erlitten hat, überzeugt werden, der Versuchung zu widerstehen? Und wie kann
Ehud Olmert überzeugt werden, der sich
einen Weg wünscht, aus dem Sumpf
heraus zu kommen, in dem auch er steckt?
Man
hat gesagt, „Patriotismus sei die letzte
Zuflucht eines Schurken“. Krieg scheint die letzte Zuflucht eines
gescheiterten Politikers zu sein.
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)