Ein dummer Krieg
Uri Avnery, 14.7.2007
EIN DETEKTIV, der ein Verbrechen aufzudecken versucht,
stellt die Frage „cui bono?“
(Wem nützt es?) Wenn wir versuchen, das Verbrechen, das „Zweiter Libanonkrieg“ genannt wird, aufzudecken, muss diese Frage
an erster Stelle stehen.
Vorgestern, genau ein Jahr nach
Kriegsanfang, widmeten alle israelischen
Medien einen großen Teil ihrer Zeit rückblickenden Analysen dieses Krieges.
Eine Fernseh-Stunde nach der anderen, eine Seite nach der anderen in den
Printmedien.
Als der Krieg ausbrach, feuerten
alle Medien Olmert an. Abgesehen von ein paar
einsamen Stimmen funktionierten die Medien wie eine Gruppe herumtanzender Cheerleader bei einem
amerikanischen Fußballspiel. Die Antikriegsdemonstrationen wurden beiseite
gewischt. Kein Wunder, dass auch in dieser Woche der Antikriegsprotest
vollständig ignoriert wurde, und alle Kritik in den Medien von der politisch
Rechten kam.
Dutzende scharfzüngiger Fragen
wurden erhoben: Warum wurde die Entscheidung übereilt getroffen? Warum war die
Armee nicht bereit? Warum war das Hinterland im Norden nicht auf einen Krieg
vorbereitet? Nur eine Frage wurde nicht gestellt: Warum eigentlich
wurde ein Krieg geführt?
FRAGE NUMMER 1: Wer wollte davon
profitieren?
Um zu verstehen, warum der Krieg
ausbrach, sollte man nicht die Frage stellen, wer profitierte tatsächlich
davon? Die entscheidende Frage ist, wer hätte von dem Unternehmen profitiert, wenn
er – wie geplant – ein Erfolg gewesen wäre?
Derjenige, der am meisten
profitiert hätte, wäre der Präsident der USA gewesen. George Bush steckte schon
tief im irakischen Sumpf. Er benötigte verzweifelt einen Erfolg in Nahen Osten.
Die israelische Armee sollte die
Hisbollah vernichten, die als Teil der „Achse des Bösen“ betrachtet wird, um so der pro-amerikanischen Marionettenregierung
von Fuad Siniora zu
erlauben, den ganzen Libanon zu kontrollieren. Da niemand Zweifel an der riesigen Überlegenheit der israelischen
Armee über die kleine Guerillagruppe hegte, glaubte man, sie in wenigen Tagen
zu erledigen.
Das Szenarium schließt ein
zweites Kapitel ein: die siegreiche israelische Armee sollte die syrische Armee
provozieren, so dass nach einem kurzen Krieg das Regime von Bashar
al-Assad in sich zusammenstürzt. Die „Achse des
Bösen“ wäre auf diese Weise zerschlagen
worden. Die amerikanische öffentliche Meinung wäre überzeugt worden, dass die
„Vision“ des Präsidenten Bush realisiert worden sei: „Demokratie“ im Nahen Osten wäre triumphierend auf dem
Vormarsch, das Irak-Fiasko wäre irrelevant geworden.
Der zweite Profiteur
würde Ehud Olmert gewesen
sein. Der Ministerpräsident, der durch reinen Zufall das Amt von Ariel Sharon
übernommen hatte, und der bis dato als unbedeutender Politiker angesehen worden
war, wäre als hervorragender Führer, Staatsmann und Stratege anerkannt worden.
Selbst der Gewerkschafts-Heini (Peretz), den Olmert mit dem
Verteidigungsministerium beauftragt hatte, hätte daraus Kapital geschlagen.
Nach diesem Szenario wäre die
Bedrohung Israels aus dem Norden beseitigt, das Arsenal von Raketen wäre
zerstört worden . Die Hisbollah wäre von der Landkarte
gewischt worden, eine Allianz hätte sich zwischen Jerusalem und der
Marionettenregierung der Amerikaner in Beirut gebildet. Und wenn auch noch
Syrien zusammengebrochen wäre, dann wäre eine ideale Situation erreicht worden.
Die ganze Bedrohung des Nordens Israels, die das israelische Militär seit
Jahrzehnten beunruhigte – der „Halbmond“ Irak, Syrien und Libanon - wäre
neutralisiert worden. Olmert wäre als der Mann in die Geschichte eingegangen,
der den Vers aus der Bibel gelöscht hätte: „Von Norden her wird das Unheil losbrechen über alle, die
im Lande wohnen.“ (Jeremia 1, 14).
Die indirekten Profiteure wären
die Herrscher Ägyptens, Jordaniens und vielleicht auch Saudi-Arabiens gewesen.
Die Palästinenser wären in ihrem Kampf sogar mehr denn je isoliert worden.
Wer drängte wen in den Krieg? Drängte Bush Olmert oder drängte Olmert Bush?
Es mögen Jahre vergehen, bevor man dies sicher weiß – und tatsächlich ist dies
ziemlich unwichtig.
FRAGE NUMMER 2: Wer hat
tatsächlich von diesem Krieg profitiert?
Zu jedermanns Erstaunen ist
Israels Armee an seiner Aufgabe gescheitert . Die Hisbollah wurde nicht besiegt, sondern hielt gegen eine
Militärmaschinerie stand, die als die fünft stärkste in der Welt angesehen
wird. Es war der längste Krieg in den Annalen Israels seit 1949 und der endete
in einer Pattsituation. Wer
profitierte also?
Nicht Israel. Die Luftwaffe
zerstörte zwar einen großen Teil von Hisbollahs Arsenal von
Langstreckenraketen, aber die Kurzstreckenraketen verursachten Chaos im Norden
Israels und machten der ganzen
arabischen Welt deutlich, wie verwundbar Israel für diese Art Waffen ist.
Die beiden gefangen
genommenen israelischen Soldaten - die die verlogene Rechtfertigung für den
Krieg lieferten – wurden nicht befreit.
Internationale Truppen sind zwar als Puffer zwischen Israel und die Hisbollah
gelegt worden. Dies war als riesiger Erfolg dargestellt worden. Doch vor dem
Krieg war das israelische Militär hartnäckig gegen genau solche Militärkräfte. Die Armee
fürchtete den Verlust ihrer Aktionsfreiheit gegenüber der Hisbollah. Nun
verteidigen die UN-Truppen die Hisbollah gegen die israelische Armee genau so
wie sie Israel gegen die Hisbollah
verteidigen.
Die USA profitierten auch nicht
von diesem Krieg. Nach durchsickernden Berichten aus Washington hat der
Misserfolg der israelischen Armee Bush wütend gemacht. Er hat seinen Zorn auf Olmert gerichtet. Die israelische Armee habe ihn enttäuscht.
Im Laufe des Krieges hat Bush mit der großzügigen (und verabscheuungswürdigen)
Hilfe verschiedener Regierungen, einschließlich Deutschlands, immer wieder das Eintreten eines Waffenstillstands verhindert, um Israel ein
bisschen mehr Zeit zu geben, seine Aufgabe zu erfüllen. Doch dies half nichts.
Auch die Hisbollah hat nicht
gewonnen. Ihre Standhaftigkeit gegen die israelische Armee wurde zwar von
vielen als Heldentum betrachtet, das die Würde der ganzen arabischen Welt
wiederherstellte. Hisbollahs Verluste werden seitdem wieder wett
gemacht. Aber Hassan Nasrallah, der eine außerordentliche Integrität
ausstrahlt, befand es für notwendig, in der Öffentlichkeit zuzugeben, dass er
den anfänglichen Vorstoß in israelisches
Territorium nicht durchgeführt hätte, wenn er gewusst hätte, was danach folgen
würde. Er entschuldigte sich bei den Libanesen, Israel einen Vorwand für den
Krieg geliefert zu haben, der so viel Tod und Zerstörung im Libanon angerichtet
hatte.
Die Hisbollah ist vor allem ein
Teil der libanesischen Szene. Das Hauptziel Nasrallahs ist für die Hisbollah –
und für sich selbst - eine dominante
Position im politischen System seines Landes zu sichern. Seine Verbindungen mit
Syrien und dem Iran sind eine Folge dieses Ziels. Die schiitische Verschwörung
und die terroristische „Achse des Bösen“ existieren nur in der blühenden Phantasie von George W.
Der Krieg hat die Hisbollah im
Libanon nicht geschwächt. Einen Beweis dafür gab es in dieser Woche, als der
Präsident Frankreichs, Nicholas Sarkozy, die
Hisbollah einlud, an einer
Konferenz aller libanesischen
Gruppierungen in Paris teil zu nehmen. Aber es scheint, dass der Krieg die
Hisbollah auch nicht gestärkt habe.
Hat der Iran profitiert? Nachdem die USA ihm den Gefallen getan und
den Irak zerstört hat, der Jahrhunderte lang
als Sperrgürtel zwischen dem Iran und dem arabischen Nahen Osten gedient
hat, hat er nun im Irak genau wie im Libanon ein Einflussgebiet hinzugewonnen.
Das hat aber auch seine Nachteile: diese Situation drängt seine potentiellen
Feinde unter der Führung von Ägypten und Saudi Arabien zu Präventivaktionen.
Die Schlussfolgerung: keiner hat
in diesem Krieg gewonnen, der so viel Tod und Zerstörung verursacht hat: nach
den letzten Zählungen wurden in den 34 Kriegstagen 119 israelische Soldaten und
39 Zivilisten und 1200 libanesische Zivilisten und Kämpfer getötet.
2250 Israelis und 4400 Libanesen wurden verletzt. 300 000 Israelis und eine
Million Libanesen mussten ihre Häuser verlassen, und 200 000 Libanesen sind
noch immer nicht zurückgekehrt.
FRAGE NUMMER 3: Hat Israel
irgendwelche Folgerungen daraus gezogen?
Seit einem Jahr zieht jeder
eifrig "Schlussfolgerungen“. Von
der Winograd-untersuchungskomission bis zum letzten
Fernsehreporter. J-e-d-e-r.
Aber dies ist eine Täuschung.
Als Ergebnis der Konspiration des Schweigens im Hinblick über die
grundsätzlichen Fragen dieses Krieges ist es völlig unmöglich, sich mit den
Ursachen des Problems zu befassen.
Jeder beschäftigt sich natürlich
mit der Rehabilitation der Armee. Gott sei Dank, hat sich alles verändert.
Anstelle des „beflügelten“ Armeechefs (Halutz) haben wir nun einen
mit Staub bedeckten Kommandeur, Gabi Ashkenazi.
Jeden Tag sehen wir im Fernsehen, wie die Brigaden trainieren, wie Soldaten
zwischen Dornenbüschen herumkriechen und wie Panzer vor Ort eingesetzt werden.
Das nächste Mal (und jeder betrachtet es als selbstverständlich, dass es ein
nächstes Mal geben wird) wird die israelische
Armee bereit sein.
Keiner weist auf die Absurdität
dieses Spektakels hin. Die Armee war für den letzten Krieg nicht vorbereitet,
also trainiert sie jetzt mit großer Entschlossenheit – für den letzten Krieg.
Die Folgerungen sind aus dem Mangel an Einsatzbereitschaft für den vergangenen Feldzug
gezogen worden, also ist jetzt jeder für
den vergangenen Feldzug bereit.
Wenn es etwas gibt, dass man mit Sicherheit über den nächsten Krieg vermuten
kann - falls es einen geben wird - dann
ist es, dass er sicher keine Wiederholung des letzten sein wird. Raketen werden
sicher eine größere Rolle spielen, und diese werden eine größere Reichweite
haben. Die Waffen werden noch raffinierter sein. Das Schlachtfeld wird ein
anderes sein.
Viel ist über die
Unfähigkeit der gewählten Regierung gesagt worden, sich gegenüber dem
Armeekommando in Diskussionen über Leben
und Tod, über einen Kriegbeginn und die
Durchführung eines Feldzuges, zu
behaupten. Die Leute trösten sich mit dem Gedanken, dass wir jetzt einen
„erfahrenen“ Verteidigungsminister haben, Ehud Barak, einen früheren Generalstabschef, Ministerpräsidenten
und Verteidigungsminister. Aber der Personalwechsel bringt nicht unbedingt eine
Veränderung im Mächtegleichgewicht mit sich: auch in der Zukunft wird ein
Haufen Politiker, die zufällig Mitglieder der Regierung geworden sind, es nicht
wagen, den autoritativen und entschlossenen Ansichten der militärischen Führung
gegenüber zu treten, die immer - wirklich immer
- einen „professionellen“ Geheimdienstbericht liefert, um diese
Ansichten zu unterstützen.
Dieses Phänomen hat Israel seit seiner Gründung begleitet. Ein
starker Führer wie David Ben Gurion und vielleicht Ariel Sharon, könnte - vielleicht, vielleicht
– irgendwie dieses Ungleichgewicht aufheben. Aber das Ungleichgewicht bleibt.
Dies findet jetzt in endlosen
Reden über „den nächsten Krieg“ seinen Ausdruck, „Krieg in diesem Sommer“,
„eine Fehlkalkulation, die womöglich einen Krieg mit Syrien einleitet“, „Der unvermeidliche
Angriff auf Irans Nuklearanlagen“ und so weiter. Es ist die Armee, die den
öffentlichen Diskurs bestimmt. Und wie der frühere Oberrabbiner Frankreichs in
dieser Woche in Jerusalem klagte: „Das Wort ´Frieden` ist in Israel ein
schmutziges Wort geworden.“
Fast jeder Krieg ist ein dummer
Krieg. Der letzte Krieg war dümmer als die meisten anderen. Der nächste Krieg,
falls es einen geben wird. wird sogar noch dümmer sein.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert)