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Das Buch Esterina
Uri Avnery, 3.3.07
„PATRIOTISMUS ist die letzte
Zuflucht für einen Schurken,“ sagte Dr. Samuel
Johnsohn schon vor über 200 Jahren. Wenn wir in diesem Satz Patriotismus durch
Rassismus ersetzen, so haben wir die perfekte Entsprechung für die Esterina Tartman – Affäre.
Sie hätte ein allgemein
beliebtes Mitglied der Knesset sein können. Sie stammt aus einer angesehenen orientalischen
Familie (der Shabtai-Familie, die seit sieben
Generationen im Lande lebt). Sie ist hübsch und ihre 50 Jahre kann man ihr
nicht ansehen. Sie ist Mutter von vier Kindern. Sie hat sich nach einem
schweren Verkehrsunfall wieder erholt.
Sie erschien am Ende der
letzten Knessetphase auf der öffentlichen Bühne, als sie den Platz eines
verstorbenen Mitglieds übernahm. Vom ersten Augenblick an kamen starke Gefühle
der Ablehnung, ja, des Widerwillen und
sogar der Abscheu gegen sie auf.
Warum? Weil sie eine vulgäre
Person ist. Ihr großes Mundwerk wurde ihr Kennzeichen. Sie ist nicht nur ein
Mitglied von Avigdor Ivette
Libermans nationalistisch-rassistischer Fraktion
„Israel Beitanu“, die
einen Geruch von Faschismus verströmt; sie selbst neigt dazu, abstoßende
Meinungen von sich zu geben. Ihre fanatischen rassistischen Reden haben ihr
schon große Schlagzeilen in den Medien
eingebracht, aber eine abstoßende Wirkung auf die Anständigen im linken Lager,
ja, sogar die im rechten Lager gehabt. „Eine Axt hat sich gegen den Baum, der
sich Zionismus nennt, erhoben“, „Das Übel muss ausgerottet werden!“ erklärte
sie, nachdem ein muslimischer Araber zum ersten Mal zum Minister ernannt worden
war.
Solche Statements sind
wahrscheinlich Musik in den Ohren von Ivette Liberman. (Kein Mensch
weiß, warum sein russischer Vorname wie ein französischer Mädchenname
klingt). So war es nur natürlich, dass
er sich entschied, Esterina den Posten des
Tourismusministers zu geben, der seiner Fraktion angeboten wurde. Da er der einzige
Führer der „Israel Beitenu“ („Israel ist unser
Heim“)-Partei ist, war das genug. Als er gefragt wurde, wie die Entscheidung
gefällt wurde, antwortete er mit unbeabsichtigter Ironie „demokratisch und
einstimmig“, also „mit einer Stimme“ - in diesem Fall seiner
eigenen.
UND DANN wurde - nur einen
Augenblick bevor die Ernennung bestätigt
wurde – bekannt, dass die schöne Esterina eine
Betrügerin war, die behauptete, akademische Grade zu besitzen, die sie nie
erworben hat. Es wurde auch herausgefunden, dass sie nach ihrem Autounfall
zweifelhafte Belege benutzt hatte, um Kompensationen und den Behindertenstatus von 52% von einer
Versicherungsgesellschaft zu erhalten. In einem anderen Fall, nachdem sie eine
Fußgängerin angefahren hatte, behauptete sie, dass das Opfer den Unfall
absichtlich herbeigeführt habe, um Schadenersatz zu erhalten. Das Gericht
erteilte ihr wegen dieser Behauptung einen Verweis und entzog ihr für längere
Zeit den Führerschein.
Es waren die akademischen
Titel, die ihr zum Verderben wurden. Tatsächlich braucht ein Knessetmitglied
keine akademischen Grade. Ich war dreimal Knessetmitglied, ohne je die
Elementarschule beendet zu haben. Wenn dem so ist, warum fügte Frau Tartman zu ihrer offiziellen Biographie noch diese
Scheintitel hinzu? Nur um ihres Image willen.
Mehrere Tage lang schob der
Skandal all die anderen Affären beiseite, die das israelische Leben so
interessant machen: den Sex-Skandal des Präsidenten, den fatalen Kuss des
Ex-Justizministers, die Wolke der angeblichen Korruptionsaffären, die dem
Ministerpräsidenten auf dem Fuße folgen, die angeblichen Wahlbestechungen des
Finanzministers, die ausgedehnte Bestechungsverdächtigung in den höchsten
Rängen der Steuerbehörde, den Rücktritt des Generalstabschefs wegen des
Libanonfiaskos, den Rücktritt des Polizeichefs, weil er nichts gegen die
Unterwanderung der Polizei durch die Mafia tat.
Die Esterina-Affäre
hat sogar eine noch größere neue Enthüllung in den Schatten gedrängt: dass Ehud Olmert als früherer Minister
für Industrie und Handel Jobs und andere Vergünstigungen an etwa 115 Mitglieder
des mächtigen Likudzentralkomitees, dessen Mitglied er damals war,
vergeben hat, damit diese ihm den
Weg auf die Wahlliste der nächsten Wahl ebnen. Wie kann solch eine routinemäßige Korruption mit der saftigen
Affäre der „Tartarina“ (wie sie von einem
Knessetmitglied genannt wird) konkurrieren?
JEDOCH ist nicht Tartmans
Verlogenheit der Hauptpunkt oder ihr
vulgärer Rassismus, sondern eine Frage,
die einen nicht zur Ruhe kommen lässt: wie kann solch eine Person (beinahe)
Mitglied im Ministerkabinett werden?
Der Tourismusminister hat
zwar keinen bedeutenden Geschäftsbereich, aber seine Stimme hat dasselbe
Gewicht wie das der anderen Mitglieder, die um den Kabinettstisch sitzen. Er
stimmt mit ab, wenn es um Frieden und Krieg geht. Seine Stimme kann
entscheidend sein, wenn Tausende von Soldaten und Zivilisten in ihren Tod
geschickt werden. Der Minister nimmt an Abstimmungen teil, die über die Zukunft
des Staates für die kommenden Generationen entscheiden. Wie konnte nur solch
eine dubiose Person solch einen hohen
Posten erreichen?
Dies ist keineswegs nur
ein israelisches Problem. Es ist auch
eines in vielen anderen Demokratien .
In den Vereinigten Staaten
werden die Minister vom Präsidenten ernannt, und sie dienen ihm
nur als Assistenten. Wenn es
ihm gefällt, ernennt er talentierte Leute. Wenn ihm danach ist, ernennt er auch
vollkommene Idioten, Betrüger und Fanatiker.
Aber der Präsident selbst –
wie wird er ernannt? Er braucht nur ein
einziges Talent: er muss die Wählerschaft davon überzeugen, für ihn zu
stimmen. Nachdem er gewählt wurde, kann er jeden überraschen und zu einem wirklichen Führer werden – mit Vision und Integrität (wie z.B.
Franklin Delano Roosevelt) oder er kann zu einem charismatischen Betrüger
werden, einem Gauner, dem alle Werte und Prinzipien fehlen (siehe einige der
letzten Namen in den Medien).
Die israelische Demokratie
gründet sich auf ein anderes System. Da keine Partei jemals die absolute
Mehrheit gewinnt, benötigt der voraussichtliche Ministerpräsident eine
Koalition, um eine parlamentarische Mehrheit
zu bilden. Die Ministerien werden zwischen den Koalitionsparteien
wie Kriegsbeute verteilt. Erst nachdem
die Parteien ihren Anteil – je nach Stärke - erhalten haben, wird entschieden,
wer tatsächlich die Sitze einnimmt. In einer diktatorischen Partei wie der von
„Israel Beitenu“, ist es der Führer, der die Jobs
seinen treuen Anhängern vergibt. In einer demokratischen Partei, sind die
Politiker die Sieger, die am erfolgreichsten mit Hilfe von Intrigen Macht anhäufen, Kollegen bestechen und
innerparteiliche Machtzentren aufbauen.
IN KEINEM Stadium dieses
Prozesses spielt die Frage eine Rolle,
ob der Kandidat die Fähigkeit hat, das Ministerium zu leiten, für das er die
Verantwortung übernimmt. Das wird als irrelevant angesehen.
Ich erinnere mich an eine
Diplomatenparty, kurz nachdem Ehud Barak zum Ministerpräsidenten gewählt worden war. Ich traf
dort mehrere der eben von Barak ernannten Minister.
Alle waren wütend.
Shlomo Ben-Ami, ein Professor für Geschichte, ein
introvertierter Intellektueller mit Interesse an sozialer Theorie und Friedensangelegenheiten, wurde in das Polizeiministerium
verbannt. Er war verantwortlich für die „Oktobervorfälle“ von 2000 , als die Polizei ein Dutzend arabischer Bürger
erschoss. Der juristische Untersuchungsausschuss maßregelte ihn scharf.
Yossi Beilin, der vom
Außenministerium geträumt hat, Urheber
vieler politischer Ideen (einiger guter, einiger schlimmer und
einiger sehr schlimmer) wurde ins
Justizministerium geschickt, das ihn nicht im geringsten
interessierte. Barak behandelte auch die anderen auf
dieselbe fast sadistische Weise.
Aber warum in die
Vergangenheit zurückgehen – die gegenwärtigen
Beispiele allein genügen. Als Vorsitzender der Arbeiterpartei hat Amir Peretz ein Recht auf das wichtigste Ministerium, das seiner
Partei zugeteilt ist: das Verteidigungsministerium. Sein Verhalten dort wurde
zu einer pathetischen Farce ( wohl am lebendigsten durch das berühmte Foto illustriert, welches
den Minister zeigt, als er ein Manöver
durch ein Fernglas beobachtet - dessen Linsen
noch verdeckt sind).
Die Außenministerin, Zipi Livni, wird von ihren
Kollegen für diesen Posten als geeignet betrachtet, weil es in andern Ländern
wie z.B. in den USA, Großbritannien,
Österreich auch weibliche
Außenministerinnen gibt. Sie muss auch
mit der deutschen Bundeskanzlerin verhandeln und bald – so Gott will – auch mit einer Präsidentin von Frankreich. Seitdem Livni
das Amt übernommen hat, hat sie noch keine einzige Initiative ergriffen und
keine Idee geäußert, die beweisen würde, dass sie überhaupt eine Vision hat.
Der Polizeiminister ist ein früherer Shin-Bet-Chef, und deshalb sieht er die Polizei eher als eine Truppe zur Bekämpfung von Feinden statt zum Schutz der Bürger an. Er zeigt sein eigenes Talent beim Ernennen eines neuen Polizeichefs, der in der Vergangenheit vor Gericht damit gebrandmarkt wurde, er sei ungeeignet dafür, eine Polizeiuniform zu tragen. Der neue, eben ernannte Justizminister erklärt öffentlich, es sei sein Hauptziel, den Obersten Gerichtshof – die letzte demokratische Bastion Israels – zu lähmen, weil zu dieser hehren Körperschaft seine Freundin keine Berufung erhalten hat. (Seine Hauptverbündete bei diesen noblen Bemühungen war – welch eine Überraschung! – Knessetmitglied Esterina Tartman). Die Ernennung Avigdor Libermans, des primitiven rassistischen Kerls, zum Minister, der verantwortlich für das iranische Problem sein soll, könnte man mit einem außer Rand und Band geratenen Elefanten vergleichen, dem ein Porzellanladen anvertraut wird.
Und diese Regierung bleibt nur deshalb an der Macht, weil praktisch jeder glaubt, dass eine andere noch schlimmer wäre als die jetzige.
DIE ISRAELISCHE Gesellschaft ist dynamisch, vielseitig und reich an Talenten. Sie zeichnet sich auf vielen Gebieten aus, wie zum Beispiel den Wissenschaften, in der Medizin, in der Welt der Computer und besonders beim Gründen von Start-up-Firmen, der Wirtschaft, Literatur, auf verschiedenen Gebieten der Kunst und in einigen des Sports. Warum – um Himmels willen – bringt sie Politiker in die höchsten Ränge, die nichts taugen?
Ich habe den Eindruck, dass in anderen Demokratien ähnliche Fragen gestellt werden. Auch dort gibt es diesen Teufelskreis: der Beruf des Politikers ist entwertet worden. Die Folge davon ist, dass gute Leute sich nicht mehr für die politische Karriere entscheiden, was dem politischen Beruf noch mehr schadet.
Nach einem hebräischen Sprichwort sind „die Sorgen der andern ein halber Trost.“ Doch nicht in diesem Fall.
Israel sieht sich vielen Problemen gegenüber, viel mehr Problemen als andere demokratische Länder. Es sehnt sich nach der Anerkennung seiner Nachbarn . Es muss die negativen Aspekte des hundert Jahre andauernden zionistischen Unternehmens überwinden. Es benötigt ein Abkommen, Frieden und Versöhnung mit dem palästinensischen Volk und mit der ganzen arabischen Welt. Es muss mit tiefen internen Spaltungen fertig werden – zwischen den Säkularen und den Religiösen, zwischen den Armen und Reichen, zwischen der jüdischen Mehrheit und der arabischen Minderheit, zwischen den verschiedenen jüdisch-ethnischen Gemeinschaften.
Um mit all diesen Aufgaben fertig zu werden, benötigen wir hervorragende Männer und Frauen, Menschen mit Vision, Integrität und Begabung. Und natürlich Patrioten, die nicht als Schurken eine Zuflucht suchen.
Kurz gesagt: Wir benötigen Männer und Frauen, die das Gegenteil von Ivette und seiner Esterina sind.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, Christoph Glanz; vom Verfasser autorisiert.)