Mit den Philistern sterben
Uri Avnery, 15.12.07
DAS BERÜHMTESTE Wort, das
jemals im Gazastreifen gesprochen wurde, waren die letzten Worte von Samson
(Richter 16,30): „Ich will mit den
Philistern sterben !“
Nach der biblischen
Geschichte „umfasste Samson die beiden Mittelsäulen, auf denen der Philistertempel ruhte „stemmte sich gegen sie“ und ließ das Gebäude
zusammenbrechen. „Es fiel auf die Fürsten der Philister, auf alles Volk und ihn selbst“. Der Erzähler der Geschichte
fasst es so zusammen: „ Sodass es mehr Tote waren, die er durch seinen Tod
tötete, als die er zu seinen Lebzeiten getötet hatte.“
Es ist eine Geschichte des
Leidens, der Zerstörung und des Todes. Sie könnte, sich jetzt wiederholen - nur mit umgekehrten
Vorzeichen: der Tempel könnte von den Palästinensern (die ihren Namen von dem der Philister ableiten) selbst
eingerissen werden, und unter den Toten könnten die Fürsten Israels sein.
WIRD GAZA zu einem
palästinensischen Massada werden? (Der Ort, wo tausend Jahre später die
jüdischen Verteidiger lieber den kollektiven Selbstmord gewählt haben sollen,
statt in die Hände der Römer zu fallen)?
Die Menschen von Gaza sind
beunruhigt. Die Hamas bereiten sich auf Kampf vor. Auf die israelischen Armeechefs trifft beides
gleichermaßen zu: sie sind beunruhigt
und sie stellen sich auf Kampf ein.
Seit Monaten diskutieren die politischen und militärischen
Führer Israels die „große Operation“: eine massive Invasion in den
Gazastreifen, um dem Abfeuern von Raketen nach Israel ein Ende zu setzen.
Die Armeechefs, die es gewöhnlich drängt, in die Schlacht zu
ziehen, drängt es dieses Mal nicht. Überhaupt nicht. Sie wollen es diesmal fast
um jeden Preis vermeiden. Aber sie sind fatalistisch. Alles hängt nun von einem
blinden Zufall ab. Zum Beispiel: wenn morgen eine Qassam-Rakete auf ein Haus in
Sderot fallen und eine ganze Familie töten würde, dann würde es in Israel so
einen Aufschrei geben, dass sich die
Regierung gezwungen sähe, den Befehl zu erteilen – entgegen ihrer eigenen besseren Einschätzung.
Für jeden militärischen und
politischen Planer ist der Gazastreifen ein Albtraum. Er ist etwa 40km lang und
6-10km breit. Auf seinen 360 qkm ausgetrockneter Wüste - kaum zweimal so groß
wie das Gebiet von Washington DC – leben 1,5 Millionen Menschen, fast alle von
ihnen bettelarm, die nichts zu verlieren haben, angeführt von einer militanten
religiösen Bewegung. (Man erinnere sich, dass
im Krieg von 1948 die jüdische Bevölkerung in Palästina weniger als 650
000 Bewohner zählte.)
Seit Monaten hat die Hamasführung im Gazastreifen nun Waffen gehortet, die durch die vielen
unterirdischen Tunnel unter seiner Grenze zu Ägypten geschmuggelt werden ( so
wie wir am Vorabend des 1948er-Krieges Waffen ins Land schmuggelten.) Sie haben
zwar keine Artillerie oder Panzer, aber sie besitzen mittlerweile sehr
effektive panzerbrechende Waffen.
Nach Schätzungen unseres Militärs könnte eine Invasion das
Leben Hunderter israelischer Soldaten
kosten und Tausender palästinensischer Kämpfer und Zivilisten. Die israelische
Armee wird Panzer und gepanzerte Bulldozer einsetzen, und die Welt wird
schreckliche Bilder sehen – etwa
dieselben Bilder, die unsere Armee zu
vertuschen suchte, und die einen weltweiten Aufschrei gegen das
„Jenin-Massaker“ während der
„Schutzschild-Operation“ 2002
verursachte.
Keiner weiß, wie diese
Operation sich entwickeln würde. Vielleicht wird der palästinensische
Widerstand schnell zusammenbrechen, und all die Voraussagen über zahlreiche
israelische Opfer werden sich als falsch erweisen. Aber es ist auch möglich, dass Gaza zu einem
palästinensischen Massada wird, einer Art
Mini-Stalingrad. In der vergangenen Woche durchdrang bei einem „Routine“-Überfall der israelischen Armee ein RPG ( rocket
propelled grenade) einen der berühmten in Israel fabrizierten Merkava
Mark-3-Panzer. Und wie durch ein Wunder kam die Vier-Mann-Crew dabei nicht um.
In einer großen blutigen Schlacht sollte man
sich nicht auf Wunder
verlassen.
Der Albtraum endet hier noch
nicht. Zweifellos wird die israelische Armee den Widerstand brechen – egal wie
hoch der Preis auf beiden Seiten sein wird: vielleicht die Zerstörung ganzer
Stadtteile und ein großes Massaker. Aber
was dann?
Wenn die Armee den
Elendstreifen schnell verlässt, wird die Situation bald wieder zu dem werden,
was sie vorher war, und die Qassam-Raketen werden weiter abgefeuert (falls sie
überhaupt gestoppt wurden). Das würde bedeuten, dass die ganze Operation
umsonst war. Wenn die Armee dort bleiben wird – und es wird keine Alternative
dazu geben – wird sie gezwungen werden, die ganze Verantwortung eines
Besatzungsregimes zu übernehmen: die Bevölkerung zu ernähren, soziale Dienste
zu übernehmen, für Sicherheit zu sorgen.
Alles in einer Situation eines heftigen
und ununterbrochen geführten Guerillakrieges, der das Leben der Besatzer
genau wie das der Besetzer zur Hölle machen wird.
Für dem Besatzer war der
Gazastreifen schon immer problematisch.
Die israelische Armee hat ihn schon dreimal verlassen, und jedes Mal war die
Freude groß. „Gaza – Adieu und Auf
Nimmer-Wiedersehen!“ war der populäre Slogan. Als Israel mit den Ägyptern Frieden
machte, weigerten sich diese eisern, den Gazastreifen wieder unter ihre
Kontrolle zu nehmen.
Es ist nicht zufällig, dass
beide Intifadas im Gazastreifen begannen (die 1. genau vor 20 Jahren in dieser
Woche: sie brach aus, als ein israelischer Militär-LKW mit zwei vollen Pkws
voll palästinensischer Arbeiter zusammenstieß – die Palästinenser dachten, dies
sei ein bewusster Racheakt gewesen. Die zweite brach nach Sharons
provokativem Besuch auf dem Tempelberg aus, als israelische Polizisten auf wütende muslimische Demonstranten schossen
und viele von ihnen töteten.)
Die Hamasbewegung selbst, die
heute ihren 20.Jahrestag feiert, wurde
- auch nicht zufällig – im
Gazastreifen geboren.
Kein Wunder, dass unsere
Armeechefs davor zurückschrecken, den Gazastreifen zurückzuerobern. Die Idee
gefällt ihnen gar nicht, die Rolle der „ Philisterfürsten“ aus der Geschichte
des biblischen Samson zu übernehmen.
DAS PROBLEM ist, dass keiner
weiß, wie man den Gordischen Knoten auflöst, den Ariel Sharon, der
Meisterknüpfer solcher Knoten -
zurückgelassen hat.
Sharon initiierte den
„Abtrennungs“-Plan – eine der größten Torheiten
der Annalen eines Staates, der bereits so reich an
Narreteien ist.
Man erinnere sich nur: Sharon löste die Siedlungen im Gazastreifen auf und verließ den Streifen ohne Dialog mit den Palästinensern und ohne ihn der palästinensischen Behörde zu übergeben. Er gab den Bewohnern des Streifens keine Möglichkeit, ein normales Leben zu führen, sondern verwandelte das Gebiet in ein riesiges Gefängnis. Alle Verbindungen zur Außenwelt wurden gekappt – die israelische Marine schnitt die Seewege ab, die Grenze mit Ägypten wurde effektiv blockiert, der Flughafen blieb zerstört, der Hafenbau wurde mit Gewalt verhindert. Die versprochene „sichere Passage“ zwischen dem Streifen und der Westbank wurde hermetisch abgesperrt, alle Grenzübergänge in und aus dem Streifen blieben unter israelischer Kontrolle und wurde nur sporadisch und willkürlich geöffnet. Die Beschäftigung von Zehntausenden von Gaza-Arbeitern in Israel wurde beendet – und damit fiel der Lebensunterhalt fast der ganzen Bevölkerung des Gazastreifens weg.
Das nächste Kapitel war
unvermeidbar: Die Hamas übernahm die Kontrolle des Streifens – ohne dass die
hilflosen Politiker in Ramallah in der
Lage waren, zu intervenieren. Aus dem Gazastreifen wurden Qassam-Raketen und
Mörsergranaten in die benachbarten israelischen Städte und Dörfer abgefeuert –
ohne dass die israelische Armee in der Lage wäre, sie zu stoppen. Eine der
mächtigsten Armeen der Welt, ausgestattet mit den raffiniertesten Waffen, ist
nicht in der Lage, einer der
primitivsten Waffen der Erde entgegen zu wirken.
So wurde ein Teufelskreis
geschaffen: die Israelis ziehen den Strick um den Hals der Bevölkerung des
Gazastreifens immer enger, Gazas Kämpfer bombardieren die israelische
Stadt Sderot, die israelische Armee
reagiert durch das Töten von palästinensischen Kämpfern und Zivilisten,
Militante von Gaza feuern Mörsergranaten auf Kibbuzim ab, Hamas bringt
effektivere Anti-Panzer Waffen - und
kein Ende in Sicht.
DER NORMALE Israeli hat keine
Vorstellung von dem, was im Gazastreifen vor sich geht. Die Abschottung ist
absolut. Kein Israeli kann den Gazastreifen betreten, und fast kein
Palästinenser kann herauskommen.
Die meisten Israelis sehen es so: wir haben den Gazastreifen
verlassen. Wir lösten alle Siedlungen dort auf, obwohl dies eine tiefgehende
nationale Krise ausgelöst hat. Und was geschah danach? Die Palästinenser
begannen sofort vom Gazastreifen aus,
auf uns zu schießen und machten das Leben in Sderot zur Hölle. Wir haben
keine Alternative, ihr Leben auch in Hölle zu verwandeln, damit sie endlich
aufhören.
In der vergangenen Woche
hörte ich einen Bericht von einem der glaubwürdigsten Personen des
Gazastreifens: Dr. Eyad Sarraj, einem
sehr bekannten Psychiater, Friedens- und Menschenrechtsaktivisten. Hier sind
einige der Informationen, die er in einem kleinen Kreis israelischer Friedensaktivisten vorbrachte:
Israel blockiert jeden Import
in den Gazastreifen, abgesehen von einer kleinen Liste mit einem halben Dutzend Grundnahrungsmittel.
Früher wurden täglich 900 LKWs für die
Im- und Exporte in den Gazastreifen gebraucht. Nun ist ihre Zahl auf 15 zurückgegangen. Nicht einmal Seife
wird hineingebracht.
Das vorhandene Wasser ist
untrinkbar. Israel lässt kein in Flaschen abgefülltes Wasser hinein. Es erlaubt
auch nicht den Import von Wasserpumpen. Der Preis für Wasserfilter kletterte
von 40 auf 250 $. Nur noch wenige können sich das leisten. Es gibt keine
Ersatzteile für Filter. Chlor darf
immerhin eingeführt werden.
Zement darf nicht eingeführt
werden. Wenn in der Decke ein Loch ist,
kann es nicht repariert werden. Das im Bau befindliche Kinderkrankenhaus kann
nicht weitergebaut werden.. Es gibt auch keine Ersatzteile. Wenn ein
medizinisches Gerät nicht mehr funktioniert, kann es nicht repariert werden.
Nicht einmal für die Brutkästen für Frühgeburten oder
Dialysegeräte gibt es Ersatzteile.
Die Schwerkranken können das
Krankenhaus nicht erreichen, weder in Israel, noch in Ägypten oder Jordanien. Die
wenigen Passierscheine werden oft erst
nach tödlichen Verzögerungen
genehmigt. In vielen Fällen sind die Patienten zum Tode verurteilt.
Studenten können ihre
Universitäten im Ausland nicht erreichen. Ausländer, die sich zufällig gerade im Gazastreifen aufhielten,
können nicht aus dem Gazastreifen hinaus, wenn sie eine palästinensische
Identitätskarte haben. Leute, die Arbeitsverträge im Ausland haben, dürfen den
Streifen nicht verlassen. Einigen von
ihnen wurde es erlaubt, über Israel nach Ägypten auszureisen; die Ägypter verhinderten dann ihre Einreise,
sodass sie nach Gaza zurückkehren mussten.
Praktisch sind alle
Unternehmen, mangels Rohmaterials, geschlossen worden, und die Arbeiter wurden
arbeitslos. So wurde auch die Coca-Cola-Fabrik geschlossen. Nach 60 Jahren
Besatzung – zunächst die ägyptische, dann die israelische – wird fast nichts im
Gazastreifen produziert – außer Orangen, Erdbeeren, Tomaten und Ähnlichem.
Die Preise im Gazastreifen
sind in schwindelnde Höhe gestiegen – fünffach oder zehnfach. Das Leben ist
jetzt teurer als in Tel Aviv. Der Schwarzmarkt blüht.
Wie können Menschen so existieren? Mitglieder von Großfamilien helfen einander.
Menschen, denen es besser geht, unterstützen ihre Verwandten. Die UNWRA *
bringt die wichtigsten
Grundnahrungsmittel herein und verteilt sie an die Flüchtlinge, die die
Mehrheit der Bevölkerung bildet.
GIBT ES außer einer massiven
Invasion noch einen anderen Weg? Natürlich. Aber dies erfordert Phantasie, Kühnheit und die Bereitschaft, entgegen den üblichen
Mustern zu handeln.
Eine sofortige Waffenpause
könnte erreicht werden. Nach allen Anzeichen ist auch Hamas dazu bereit,
vorausgesetzt, dass die Waffenpause beidseitig ist: beide Seiten müssten alle
militärischen Aktionen stoppen, einschließlich der „gezielten Tötungen“ und dem
Abfeuern der Qassam-Raketen und Mörsergranaten. Die Übergänge müssen für freien
Transport von Waren in beiden Richtungen geöffnet werden. Die Passage zwischen
dem Gazastreifen und der Westbank muss geöffnet werden, sowie auch die Grenze
zwischen dem Streifen und Ägypten.
Solch eine Beruhigung der
Situation könnte beide konkurrierenden palästinensischen Regierungen – die
Fatah in der Westbank und die Hamas im
Gazastreifen - ermutigen, unter der Schirmherrschaft Ägyptens und Saudi Arabiens einen neuen Dialog
zu beginnen, um den Riss zu
heilen und eine vereinigte palästinensische nationale Führung zu bilden, die in
der Lage wäre, Friedensabkommen zu unterzeichnen.
Anstelle des Schreis „Ich will mit den Philistern
sterben!“ sollten wir besser mit Dylan Thomas
rufen: „Der Tod soll nicht die
Herrschaft bekommen!“
* United Nation Relief and
Works Agency for Palestine Refugees – UN-Organisation für die palästinensischen
Flüchtlinge.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs
und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert)