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Der Durchbruch, der nicht geschah

 

Amira Hass, Haaretz, 27.2.08

 

Einen ganzen Tag über herrschte bei der IDF eine  hysterische Stimmung: man meldete, man bereite sich auf die Möglichkeit vor, Tausende von Bewohnern des Gazastreifens  könnten den Kontrollpunkt durchbrechen. Es ist jetzt  für die Armee einfach zu sagen, der Durchbruch fand nicht statt, weil man gewarnt hatte, die Hamas sei dann für das  mögliche Blutvergießen verantwortlich. Aber jedem aufmerksamen Beobachter, der Palästinenser eher als  besetztes Volk und nicht als „Ziel des Nachrichtendienstes“ sieht, (der die Nachricht  offen verbreitete,  am Montag  würden Frauen und Kinder gegen die Belagerung demonstrieren) wurde klar, dass die Palästinenser keinen Plan hatten, die Barrieren am Erez- oder Karni-Übergang zu durchbrechen.

 

Die weit verbreiteten Armeevorbereitungen hatten einen rassistischen  Hintergrund: Seht, wie die Hamas bereit ist, Kinder und Frauen zu schicken, damit sie die Kugeln „abfangen“. Mit andern Worten : der Hamas ist das Leben der Leute völlig gleichgültig und setzt sie wie Schachfiguren ein. Aber selbst die Jugendlichen, die zwei Tage zuvor Steine gegen die Mauern des Erez-Kontrollpunktes warfen und sich so in Gefahr brachten, von der IDF beschossen zu werden, und die dann verhaftet wurden, taten das nicht, weil sie „dorthin geschickt“ wurden. Im Gegensatz zu Israel haben die Palästinenser keine Wehrpflicht. Wenn  sich jemand in Todesgefahr bringt, so geschieht das für ihn und seine Gesellschaft als Teil des nationalen Kampfes gegen die Besatzung und nicht weil „der Staat“ ihn dazu verpflichtet. Es ist seine eigene Entscheidung.

 

Ein junger Mann aus Beit Hanoun sagte mir am Vorabend des „Durchbruchs“, der nicht stattfand: „Wir wissen, dass die Armee schießen wird, um zu töten -  und deshalb wird keiner das Risiko auf sich nehmen.“ Erst am Samstag wurde sein Verwandter Mohammed Za’anin, 22, und zwei seiner Freunde von einer IDF-Granate tödlich getroffen. Die IDF behauptete natürlich, dass sie bewaffnet gewesen seien. Eine unabhängige Untersuchung ergab aber, dass die drei aus ihrer Schulzeit Befreundeten – einer ein Student, der andere ein Polizist und der dritte ein Bankangestellter – zusammen eine Wasserpfeife rauchen  und für sich und noch ein paar Freunde in einer Hütte ein Abendbrot bereiten wollten. Das war 1,2 km vom der Grenze entfernt.

 

Es geht nicht nur um die Ereignisse am Montag, die belegen, dass die Hysterie voreilig war. Tag um Tag beweisen die Palästinenser an  Kontrollpunkten mitten in der besetzen Westbank, dass sie inzwischen auf die Möglichkeit eines allgemeinen unbewaffneten Aufstandes gegen die Belagerung verzichten. In Massen warten sie gehorsam, bis sie  an die Reihe kommen, um passieren zu können  - wenn auch mit kontrolliertem und wachsendem Zorn. Sie haben die Hunderte von Straßensperren nicht weggeräumt, die die  IDF zwischen die Dörfer und an die Ausgänge von Straßen aufgerichtet haben. Sie sind nicht selbstmörderisch. Die Palästinenser brauchen keine Warnungen und Berichte darüber, dass Soldaten auch auf Unbewaffnete schießen, auch auf Frauen und Kinder.

 

Die korrekte Frage lautet nicht, ob und wieweit Palästinenser bereit sind, getötet zu werden, sondern in welchem Ausmaß  Israelis zu töten bereit sind. Die Frage lautet, ob und wann Palästinenser entscheiden, ihr Recht auf Bewegungsfreiheit zu fordern und en masse Kontrollpunkte zu stürmen, wird es dann einen Befehl geben, auf sie zu schießen? Zunächst auf ihre Füße und dann auf ihre Köpfe? Auf Frauen, alte Leute und Babys? Oder gar mit Kanonen? Und wie viele werden dann dem Befehl nicht gehorchen? Zwei, drei oder hundert? Gibt es da eine bestimmte Anzahl, die da in einem Durchgang an einer Straßensperre getötet werden können, die die israelische Gesellschaft von ihrer Gleichgültigkeit und ihrer Ablehnung befreit? Fünf oder sechs? Oder Hunderte von Toten?

 

(dt. Ellen Rohlfs)