Amira Hass, 23.1.08, Haaretz,
Die
Sicherheitsbehörden hatten es am Montag recht eilig, den Erfolg der Eskalation
gegen Gaza zu feiern: Seht her, es werden weniger Qassam-Raketen
abgeschossen. Wenn diese Zeilen veröffentlicht werden, haben die
Sicherheitsbehörden wahrscheinlich ein weiteres logisches Axiom fabriziert:
Nachdem wir einmal Diesel-Lieferungen zugelassen haben, schießen die
Palästinenser schon wieder Qassam-Raketen. Daraus
folgt: Die Eskalation muss weiter gehen. Eskalations-Logik ist die Hausnummer
unseres heutigen Verteidigungs-Ministers Ehud Barak, und sie wird von vielen Israelis so übernommen.
Barak war Premierminister im September 2000,
als die israelische Armee auf Demonstrationen der Bevölkerung gegen den israelischen
Besatzer und auf Steine-werfen mit Eskalation
reagierte: Scharfe Geschosse auf Zivilisten, unter ihnen viele Kinder. Wenig
überraschend, lernten die Palästinenser ihre Lektion nicht, und wandten sich
eigenen Eskalations-Taktiken zu. So sind wir dahin gekommen, wo wir heute sind
– hausgemachte Raketen aller Art, die sogar weiterentwickelt werden, je mehr
Israel seine Strafaktionen daraufhin ausweitet.
Bücher, Artikel
und ein oder zwei Filme hatten, wenn auch verspätet, die Bosheit der Taktik der
Eskalation zum Thema. Das ficht aber jene nicht an,
die es für richtig halten, anderthalb Millionen Menschen im Gazastreifen mehr
und mehr unter Druck zu setzen. Das zeigt, dass sie – wie ihr
Verteidigungsminister und der Rest der politischen Führung – unter vier
Gebrechen leiden: Amnesie, Kurzsichtigkeit, Orientierungslosigkeit und
Beeinträchtigung der Lernfähigkeit.
Amnesie gestattet es Befürwortern dieser
Einstellung, tage- bis monatelang die scheinbar willkommenen Ergebnisse der Eskalation zu bedenken. Dabei vergessen sie Israels
tödlichen Angriff vor dem letzten
Beschuss mit Qassam-Raketen. Und weil sie
keine Verbindung sehen zwischen den Qassam-Raketen
heute und den Toten zu Anfang der Intifada, das
heißt, zu den eskalierenden Schritten der Armee vor sieben Jahren, sind sie
nicht in der Lage, sich vorzustellen, was sich morgen entwickeln könnte aus dem
Stop der Wasserversorgung, bedingt durch das
Abschalten des Stroms, aus dem Zusammenbruch des Abwassersystems, aus der
Kränkung, die der Beschäftigung nur mit Essen und Kälte innewohnt. Dieser
Gedächtnisschwund bezüglich der Vergangenheit führt zur israelischen
Gedankenlosigkeit für die Zukunft: Man denkt nicht an die palästinensischen,
muslimischen, pan-arabischen Sichtweisen, die in diesen Tagen entstehen, und am
Ende jede temporäre Beruhigung brechen.
Die Kurzsichtigkeit
derer, die die Eskalation unterstützen, ermöglicht es ihnen, Fernsehsendungen
aus Gaza anzusehen – weinende Kinder, Sprecher, die bitten oder wütend werden –
und das Gefühl zu haben, die gegenwärtige Eskalation zeige Wirkung. Über den
Bildschirm hinaus sehen sie nichts. Sie sehen nicht die Hilfe untereinander,
den Einfallsreichtum und Humor, den die Leute entwickeln, nicht die
Dickköpfigkeit und nicht den politischen Druck aus dem Volk auf den Nachbarn
Ägypten.
Die
Orientierungslosigkeit
lässt die Unterstützer der Eskalierung denken, der Gazastreifen sei tatsächlich
ein geografisch wie demografisch abgeschiedenes Gebiet, das nicht dazu gehört,
das Schicksal seiner Einwohner bedeute Palästinensern anderswo nichts.
Orientierungslosigkeit lässt Israelis die "green
line" [Waffenstillstandslinie 1949] nur dann
ernst nehmen, wenn Palästinenser sie überschreiten und sie verletzen. Sie
vergessen, dass sie – das heißt wir, die Israelis – diese Grenze andauernd
überschreiten: mit Siedlungen, Gewehrfeuer, separaten Straßen, Bomben, Granaten
und Militärerlassen --und das schon
lange bevor irgendein Palästinenser gelernt hat, Qassam-Raketen
zu bauen.
All das hat mit
der Einschränkung der Lernfähigkeit zu tun. Das Eskalieren, so
sind seine Unterstützer überzeugt, wird dazu führen, dass das Volk die
Hamas-Regierung unter Druck setzt. Aber die Palästinenser vergessen nicht, dass
die verschiedenen Formen von Belagerung und Absperrung, wirtschaftlicher
Zermürbung, Landenteignung, Verzögern von Verhandlungen von Israel vorgenommen wurden, als noch die
Fatah-Regierung unerschüttert schien. Für sie bezeugen die israelischen
Angriffe das Versagen der Autonomiebehörde unter Mahmoud Abbas, dem gewählten
Präsidenten, viel eher als ein Versagen der Hamas.
Den Befürwortern
der Eskalierung entgeht vollkommen, dass eine hermetische Schließung aller
Übergänge nach Gaza die Welt an das erinnert, was sie gerne vergessen wollte:
Israel ist der Besatzer, der Aggressor. Lerngeschwächte und Kurzsichtige
entgehen nicht dem moralischen Bankrott – auch nicht dem Bankrott der
Sicherheit – dem Ergebnis der Politik
der Eskalation. Da müssen schon andere kommen und aktiv werden.
http://www.haaretz.co.il/hasite/spages/947420.html
(dt. Gudrun Weichenhan)