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Als besorgte Juden und Israelis rufen wir euch auf, öffentlich eure Bedenken
über die augenblickliche kritische Situation in Israel zum Ausdruck zu bringen
und den Staat Israel aufzurufen, zu den friedlichen, moralischen, demokratischen
und humanistischen Werten, die uns lieb und wert sind, zurückzukehren. Wir
senden euch diesen dringenden Appell, weil wir glauben, dass ihr als liberale
Juden mit uns die humanistischen Werte unseres jüdischen Erbes teilt und unsere
Bemühungen unterstützt, den Verfall der israelischen Gesellschaft zu verhindern.
Liberale Juden in aller Welt haben sich immer darum bemüht, diese Welt zu einem
besseren Ort zu machen – „Tikkun Olam“ nach
der Tradition der Propheten. So wie man überall gegen Unmoral und
antidemokratische Handlungen angeht und seine Stimme gegen Diskriminierung von
Juden in andern Ländern erhebt, muss man auch seine Stimme hörbar machen, wenn
Israel von unserer jüdisch-humanistischen Tradition abweicht, indem es sich von
deren moralischem, den Frieden suchenden und demokratischen Weg abwendet.
In den letzten Jahren waren wir Zeugen eines dramatischen Wandels in Israel. Die wachsende Dominanz von nationalistischen, expansionistischen und antidemokratischen Ideologien, Zielen und politischen Vorgehensweisen haben die demokratische und moralische rote Linie schon überschritten.
Die andauernde Besatzung der Westbank und die Expansion der jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten verletzen die elementaren Menschen- und kollektiven Rechte der Palästinenser und reißen das moralische Gefüge der israelischen Gesellschaft auseinander – wie etwa die Weigerung der letzten Regierung, sinnvolle Verhandlungen mit den Palästinensern und der arabischen Welt zu führen, was eine friedliche Vereinbarung in Bezug auf den anhaltenden Konflikt hätte bringen können. Die letzte Regierung ignorierte die arabische Friedensinitiative, die beim Arabischen Gipfeltreffen in Beirut 2002 zustande kam und die für die Errichtung eines palästinensischen Staates in der Westbank, im Gazastreifen und Ostjerusalem neben dem Staat Israel aufrief.
Die Gegengabe wäre ein Ende des Konflikts gewesen, Frieden und die Normalisierung der Beziehungen. Stattdessen führte die Regierung ihre expansionistische Politik weiter fort, die, wenn sie nicht bald gestoppt wird, eine Zwei-Staaten-Lösung unmöglich macht. Mit dieser Politik verletzt die Regierung nicht nur das Völkerrecht, sondern auch israelische Gesetze und unterminiert die Grundlagen der israelischen Demokratie. Wir sind Zeugen fortgesetzter, systematischer und oft erfolgreicher Versuche, Gesetze zu verabschieden, die den fundamentalen demokratischen Prinzipien der Gleichbehandlung von Minderheiten widersprechen. Die letzte Regierung initiierte eine Bildungspolitik, die nach und nach die humanistischen und demokratischen Werte der Bildung untergräbt und stattdessen enge, nationalistische und intolerante Werte vermittelt. Es hat systematische Versuche gegeben, die Kritik an israelischer Politik zum Schweigen zu bringen und Stimmen in Hochschulen, Medien und NGOs, die mit der Politik Israels nicht einverstanden sind, zu delegitimieren.
Es geschehen wiederholt Versuche, das Rechtssystem zu kontrollieren, indem der
Oberste Gerichtshof angegriffen und seine Unabhängigkeit eingeschränkt wird. Wir
sind auch Zeugen zunehmender Versuche extremistisch religiöser Kräfte, ihre
monopolistischen Praktiken auf verschiedene Lebensbereiche auszudehnen und
andere religiöse Denominationen anzugreifen. Insgesamt stellen wir
schwerwiegende Abweichungen vom moralischen und demokratischen Kompass, der
unsere Gesellschaft zu Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit führen sollte,
fest [dem Originalaufruf ist
eine Dokumentation beigefügt].
Als
bedeutende Minderheit in Israel brauchen wir euch als Partner bei unseren
patriotischen Bemühungen, Israel zu retten, und um sicher zu gehen, dass es eine
Gesellschaft bleiben wird, die die Vision unserer Gründerväter verkörpert, wie
sie in der Israelischen Unabhängigkeitserklärung festgelegt wurde.
Unsere Stimmen müssen laut und deutlich gehört werden, so dass bekannt wird,
dass es noch ein moralisches und
humanes Judentum gibt und dass dieses Judentum nicht nur den Mut hat,
Ungerechtigkeit und Unmoral andernorts zu kritisieren, sondern sie auch
anzuzeigen, wenn diese in Israel geschehen. Dies ist ein ultimativer Ausdruck
unserer Sorge und Liebe zu Israel. Es ist unsere gemeinsame Verantwortung
gegenüber zukünftigen Generationen, die für unser Schweigen und unsere
Gleichgültigkeit einen hohen Preis zahlen werden müssen. Die Kosten für das
Schweigen übersteigen bei weitem die Kosten des Engagements. Was auf dem Spiel
steht, ist nichts weniger als die Zukunft des Staates Israel, der israelischen
Gesellschaft und des jüdischen Volkes.
Ja, es stimmt, dass bösartige Versuche unternommen werden, jene zu ächten und zu
delegitimieren, die Politik und Handeln der Regierung Israels kritisieren, hier
in Israel und in jüdischen Gemeinden in aller Welt. Wir kennen all die Argumente
gegen die Kritik, wie sie von Behörden ausgesprochen werden. Es gibt eine
wachsende Monopolisierung des Patriotismus, selbst was den Terminus Zionismus
betrifft, der nur eine Ideologie, ein Ziel und eine Politik
als legitim und patriotisch gelten lässt. Alle andern Ansichten werden für den
Staat Israel und das jüdische Volk als schädlich gebrandmarkt. Berechtigte
Kritik wird als „anti-semitisch“ „anti-Israel“ oder gar als „Selbsthass“
dargestellt. Dies zielt dahin, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen, indem
man Furcht einflößt und so ein mächtiges Mittel hat, das immer wieder von
antidemokratischen Kräften in verschiedenen Gesellschaften verwendet wird. Es
hat wiederholt nicht nur zu Freiheitsbeschränkung geführt, sondern hatte auch
verheerende Konsequenzen für diese Gesellschaften. In den letzten Jahren sind
Kräfte, die diese Einstellung in Israel hatten, offener und wagemutiger geworden
und sind jetzt in mehreren Institutionen der Gesellschaft gut vertreten. Die
Menschheit hat gelernt, dass Schweigen und Ignoranz keine düsteren Realitäten
verändern, und dass nur kritisches Denken, freie Rede und offene Kritik zu
Fortschritt führen.
Wir bewundern alle Individuen wie Émile Zola, der den Mut hatte, die
Aufmerksamkeit der französischen Gesellschaft auf das Verschwinden von gerechten
und moralischen Prinzipien zu lenken, indem er der französischen Armee
Justizbehinderung und Antisemitismus vorwarf, während man Alfred Dreyfus
fälschlicherweise verurteilte. Er zögerte nicht, die französischen Führer in
Zeiten der Spannungen zwischen Frankreich und Preußen zu kritisieren. Er musste
seinen Wagemut teuer bezahlen. Wie Zola sollten wir im Anblick von Israels
Abweichen von elementaren moralischen und demokratischen Regeln nicht nur
Zuschauer sein. Der nationalistisch-religiöse Teil des Weltjudentums hilft und
unterstützt offen die fehlgeleitete Politik der gegenwärtigen Regierung –
politisch, finanziell, organisatorisch – während viele im liberalen jüdischen
Lager daneben stehen und zögern, ihre Sorgen zum Ausdruck zu bringen.
Wenn wir alle wie gelähmt bleiben, werden wir schließlich die Grundlage unserer
gemeinsamen jüdischen Identität verlieren, zu der Israel viel beigetragen hat.
Als Zugehörige zum jüdischen Volk müssen wir gegen Unrecht unsere Stimme
erheben, und zwar gerade aus Liebe zu Israel. Es ist unsere Aufgabe, uns mit
Situationen zu befassen, die
beträchtlich vom moralischen Kodex und den Normen abweichen, ob innerhalb der
Familie oder innerhalb der weiteren Gemeinschaft. Als liberale Juden, denen ihr
Judesein etwas bedeutet und die mit Israel verbunden sind, müssen wir alle Teil
der gemeinsamen Anstrengungen sein, Israel vor den nationalistischen,
antidemokratischen und fremdenfeindlichen Strömungen zu retten, die es jetzt
noch fest im Griff halten.
Wir müssen alle unsere Vorbehalte und unsere Kritik laut und klar aussprechen.
Es ist unsere Pflicht, gegen Unrecht zu sprechen und zu handeln, als
letztendlicher Ausdruck unserer Identität und unseres Gewissens. Letztlich wird
die Geschichte uns an unserem Tun beurteilen.
(dt. Ellen Rohlfs, Edith Lutz)
S. 2: Liste
der Unterzeichner
(auch unter http://media.wix.com/ugd/73982d_2542fbb0cfd919dd7f23ddc321a194d4.pdf)
Originaltext:
„If you Care about Israel, Silence is no Longer an Option!
A Call for Action from Israel”
-
verbreitet am Freitag 22. März 2013 zur Pessach-Woche durch Prof. Daniel
Bar-Tal, Tel Aviv
-
veröffentlicht unter
http://www.facebook.com/pages/Jewish-Call-for-Peace-and-Morality/452496561493637