Israel Palästina Nahost Konflikt Infos
Uri Avnery,
27. September 2014
JEDE
UNTERSUCHUNG wird zeigen, dass das am meisten gebrauchte Wort im Hebräischen
„Schalom“ ist. Israelis grüßen einander mit „Schalom“ und viele tun dasselbe,
wenn sie sich verabschieden (die andern
beiden Wörter in der
Umgangssprache sind: „yallah bye“ – das eine arabisch, das andere englisch).
Schalom
ist kein Synonym für das europäische Wort „Frieden“, wie viele glauben. Es
bedeutet weit mehr. Es gründet sich auf die hebräische Wortwurzel „ganz“
und vermittelt den Sinn von „Ganzheit“,
Sicherheit, Wohlbefinden. In keiner europäischen Sprache kann man sagen: „unsere
Soldaten griffen den Feind an und kehrten
im Frieden zu ihrer Basis zurück“.
Auf
Arabisch hat Salaam dieselbe Bedeutung.
Aber
selbst in seiner begrenzten Bedeutung von Frieden drückt Schalom ein tiefes
menschliches Verlangen aus. Seit dem Altertum
sehnten sich die Menschen nach Frieden und fürchteten den Krieg. „Dona
nobis pacem“ – „(Gott,) gib uns Frieden“ ist Teil der katholischen Messe.
Mehrere Komponisten haben dies vertont. Ich erinnere mich, dass ich es als Kind
im Kanon gesungen habe.
Doch im
heutigen Israel wirkt das Wort „Frieden“ im politischen Diskurs fast
unanständig. Man mag noch einen Wunsch
für ein „politisches Abkommen“ ausdrücken, aber selbst das klingt schon etwas
verdächtig.
Es ist
Mode geworden, zu sagen, dass die Friedensbewegung
im Begriff ist,
auszusterben. Dass die Zwei-Staaten-Lösung
tot ist, während die sog. „Ein-Staat-Lösung“ tot geboren ist.
Der
sicherste Weg ist „Ich bin ganz für den Frieden, aber…“
VOR
KURZEM hat der Haaretz-Kolumnist Ari Schawit, der unter amerikanischen Juden
beliebt ist, einen Artikel geschrieben, in dem er die „extreme Rechte“ und die
„extreme Linke“ gleichermaßen
verurteilt – diejenigen, die den Krieg befürworten und jene, die für Frieden
sind. Es gelang ihm, einen stürmischen Protest
hervorzurufen. Die Linken protestierten, sie
hätten nie einen Opponenten ermordet,
besonders keinen Ministerpräsidenten, während die vom rechten Flügel dies
und vieles andere getan haben.
Kann man
die Parteiführerin der Merez-Partei Zehava Galon mit Miri Regev vom Likud
vergleichen? (Vor kurzem verklagte
Regev, eine gut aussehende frühere Armeechef-Sprecherin einen Blogger, weil er
sie „eine Hure mit einem Mund wie eine Jauchegrube“ nannte. Die Anklage wurde
vom Gericht zurückgewiesen.)
Israels
beste und hervorragendste
Intellektuelle griffen den Kolumnisten Schawit
an. Der Kolumnist Akiva Eldar, der weltbekannte Bildhauer Dan Karavan (der die
Wand hinter dem Knesset-Sprecher schuf) und viele andere verurteilten seine
Argumentation. Wie kann man nur vergleichen?
Die
Rechte führt uns in einen Apartheidstaat, in dem eine jüdische Minderheit die
arabische Mehrheit unterdrücken wird, während die Linke
eine Situation befürwortet, in der beide Völker Seite an Seite im Frieden
leben. Wo ist die Symmetrie?
Aber
Kolumnisten lieben Symmetrie. Indem man beide Seiten verurteilt, gibt man den
Eindruck der Überlegenheit und Fairness. Es erlaubt auch ihren Lesern zu denken,
dass sie Freigeister seien, weit über dem Tumult der Massen.
Für
Politiker ist die Versuchung sogar noch größer. Die Linken wie die Rechten
behaupten, zum „Zentrum“ zu gehören, von der Voraussetzung ausgehend, dass dort
die meisten Stimmen gefunden werden.
Wenn man eine Person der Rechten ist,
setzt man voraus, dass die Rechten für dich stimmen, deshalb ist es
profitabler, all deine Kraft „dem Zentrum“ zu widmen. Dasselbe gilt für die
Linken.
Dies
führt zu einer Korruption des politischen Prozesses. Beide Seiten verbergen oder
spielen ihre wahren Ansichten herunter, um einer Gruppe von Wählern zu gefallen,
die überhaupt keine Ansichten haben und denen dies, offen gesagt, völlig Wurst
ist.
Mit
andern Worten, diejenigen, die sich am wenigsten Gedanken um die Zukunft der
Nation machen, werden entscheiden, wer die Nation in die Zukunft führt.
Dies
sind die Leute, die in Israel für einen dröhnenden Nichts wie Yair Lapid stimmen
und für seine Entsprechungen in
andern Ländern.
Das
lässt einen an Winston Churchill denken, der sagte, der beste Weg
an der Demokratie zu verzweifeln, sei,
fünf Minuten mit einem Wähler zu reden. Doch derselbe Churchill sagte auch,
dass, während die Demokratie ein sehr schlechtes System ist, alle andern
Systeme, die bis jetzt versucht wurden, noch schlechter seien.
SHAVIT
IST nicht gegen den Frieden. Im Gegenteil, er liebt den Frieden.
Er
bringt seinen großzügigen Friedensplan vor: Wenn Mahmoud Abbas eindeutig Ehud
Olmerts Friedensvorschlag akzeptiert und wenn alle arabischen Staaten alle
Forderungen , die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge betreffend,
aufgeben, dann wird er, Schawit,
bereit sein, um den Frieden zu verhandeln.
Das
klingt für mich etwas naiv.
Olmert
legte seinen Friedensvorschlag vor, als er im Begriff war, sein Amt aufzugeben,
nachdem er wegen Korruption angeklagt worden war. Ich erinnere mich nicht an
seinen Inhalt, und ich habe den Verdacht, dass ihn auch niemand anders im
Gedächtnis hat. Er erfüllte nicht die
minimalsten palästinensischen Bedingungen. Warum sollte Abbas einen israelischen
Plan von einem abgedankten
Politiker bevor Friedensverhandlungen
auch nur angefangen haben akzeptieren?
Was die
Flüchtlinge betrifft, so ist dies noch naiver. Der Anspruch der Flüchtlinge ist
bei weitem die stärkste Karte der arabischen Diplomaten. Sie mögen sie aufgeben,
aber nur nach einem langen und harten Kampf für einen adäquaten Preis:
zunächst einmal einen palästinensischen
Staat, eine Hauptstadt in Ostjerusalem, eine Verbindung zwischen der Westbank
und dem Gazastreifen.
Die
Forderungen, noch vor den Verhandlungen aufzugeben, sind wohl ein bisschen
unrealistisch. Es zeigt, dass Schawit keine Ahnung hat, was Frieden bedeutet.
DIE
ISRAELISCHE Linke ist nicht tot. Sie ist – wie die Deutschen sagen –
„scheintot“; sie lebt noch, wird aber für tot gehalten. (Es war
einer meiner Alpträume in der Kindheit, begraben zu werden, während ich
noch lebte.)
Die
Labor-Partei ist ein bemitleidenswertes Überbleibsel der mächtigen Kraft, die
die vorstaatliche Gemeinde und den Kampf zur Schaffung von Israel anführte.
Heute wird sie von bemitleidenswerten
Leuten angeführt und vor allem von dem offiziellen „Führer der
Opposition“ Yitzhak Herzog. Während des letzten Krieges war die Partei
stumm, außer, dass sie von Zeit
zu Zeit Benjamin Netanjahu unerbetenen Ratschlag zur Kriegsführung gab.
Merez
hat kaum mehr von sich gegeben. Solange wie die Kanonen
donnerten, waren ihre Musen still.
Keine
der beiden Parteien hat die
geringste Chance, den Kurs/Die Richtung der Ereignisse zu verändern. Bei
Umfragen erhält Herzog keine 10% für
den Posten des Ministerpräsidenten. Auf
Deutsch bedeutet Herzog einen Heerführer,
einen Fürsten. Er ist aber
kein Herzog.
Und die
arabischen Parteien? Wer fragt? Keiner? OK.
VOR ZWEI
Wochen hatte ich meinen 91. Geburtstag. Ich fragte mich selbst: wenn ich 25 wäre
und außerordentlich tatkräftig, wie würde ich drangehen und versuchen, eine neue
Linke zu schaffen?
Mein
erster Rat für mich selbst würde sein: Benimm dich nicht wie der Ureinwohner,
der einen neuen Bumerang kaufte und den alten wegwarf, der ihn genau auf
den Kopf schlug. Ich würde den
alten Bumerang in einen geschlossenen Schrank verbannen und einen glänzenden
neuen erwerben.
Wie?
Zuerst würde ich alle alten Slogans , Appelle und Handelsmarken los
werden und mit „Links“ beginnen.
Was
bedeutet für einen durchschnittlichen Israeli das Wort „Links“? Den anderthalb
Millionen „russischen“ Immigranten bedeutet es die verhasste Sowjetunion, Stalin
und den KGB. Für die Millionen von
„orientalischen“ jüdischen Bürger bedeutet es die verhasste Ashkenasi-Elite, die
noch immer viele Aspekte des Landes beherrscht. Für die Religiösen aller
Schattierungen bedeutet es die säkulare Öffentlichkeit, die Gott
und seine 613 Gebote vergessen hat. Für die arabischen Bürger bedeutet es
eine lange Spur von Betrug linker
Regierungen.
Wir
benötigen eine neue Bezeichnung, eine annehmbare und liebenswerte für alle
verschiedenen Sektoren der
gegenwärtigen israelischen Gesellschaft: Männer und Frauen, Ashkenasim und
Orientalen, religiöse und säkulare, Juden und Araber.
Das ist
eine große neue Forderung. Ich würde in
jeden Sektor eine Fokusgruppe setzen, damit die Sache unter einander
und zwischen
ihnen ausdiskutiert werden kann, etwas Originelles, Hebräisches finden,
das zu den Herzen der Leute spricht , nicht nur zu ihren Verstand
Emotionen sind sehr wichtig. Seit
langer Zeit ist die israelische Linke trocken und steril geworden, unfähig
sich zu begeistern. Bei Demonstrationen der „zionistischen Linken“ ist
keine Begeisterung, keine
erhebenden Lieder, nichts wie „We shall overcome!“
Frieden,
Demokratie, Gleichheit, Humanismus -
sind keine leeren und veralteten Slogans. Verbunden
mit Respekt für jüdische (und arabische) Traditionen und der Weisheit der
Alten, sowohl
für die einzigartigen Beiträge jeder der
verschiedenen Sektoren als auch für das allgemein Gute könnten sie eine
aufregende neue Mischung sei.
Wir
brauchen einen Traum, wie Martin Luther King so redegewandt sagte. Eine Vision.
Nicht nur ein Wahlprogramm.
EINE
VISION benötigt ein Mittel
für ihre Realisierung. Ohne eine aufregende neue Vision kann es keine
neue politische Kraft geben. Doch ohne politische Kraft bleibt die Vision ein
Traum.
Die alte
Linke ist todgeweiht, weil sie
während der letzten sechzig Jahre kampflos
alle ihre Machtmittel aufgegeben hat – von der einst mächtigen Histadrut
(Gewerkschaft)-Organisation bis zu
fast allen Medien. Die linke Krankheit
über die Zersplitterung
untergräbt ihre Stärke. Wir haben eine Menge von Friedens- und
Menschenrechtsvereinigungen, viele von ihnen aus wunderbaren Menschen
zusammengesetzt, die eine
wunderbare Arbeit im Kampf gegen Krieg, Besatzung, soziale Ungleichheit und
Unterdrückung, machen, doch besetzt
jede eine eigene Nische. Sie sind leider unfähig, sich zu vereinigen, um
selbst das elementarste gemeinsame Instrument aufzubauen.
Politik
ist eine Sache von Ideen und Macht. Beide müssen von Grund auf neu
gebildet werden.
ZUM
GLÜCK bin ich nicht mehr 25 Jahre
alt, und gerne überlasse ich die Aufgabe der jüngeren Generation.
Nach dem
jüdischen Kalender begann am Donnerstag, also vor zwei Tagen, ein neues Jahr.
Hoffen wir, dass es die ersten Anzeichen des Aufwachens sehen wird.
( Aus
dem Englischen Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)