Israel Palästina Nahost Konflikt Infos
URI AVNERY
2. November 2013
Aus Anlass
meines 90. Geburtstages fand eine
Diskussionsrunde mit wichtigen Historikern in Tel Avivs Tsavta-Halle über die
Frage statt:
„Wird Israel weitere 90 Jahre
existieren?!
Hier folgt
eine leicht gekürzte Version meiner eigenen Bemerkungen. Ein Video der
voll-ständigen Diskussionsrunde mit Übersetzung
ins Englische wird so bald wie möglich veröffentlicht.
In 90 Jahren
WIRD ISRAEL
noch weitere 90 Jahre bestehen?
Diese Frage an sich ist typisch für Israel. Keiner würde diese Frage in England
oder Deutschland oder gar in andern Staaten, die
durch Immigration entstanden sind, wie Australien oder die USA, ernsthaft
stellen.
Doch hier
sprechen die Leute ständig von „existenziellen Gefahren“. Ein palästinensischer
Staat ist eine existentielle Gefahr. Die iranische Bombe ist eine existentielle
Gefahr. Warum? Sie werden ihre Bombe haben, wir haben unsere Bombe;
so wird es ein „Gleichgewicht des Terrors“ geben.
Na, und?
In unserm
nationalen Charakter gibt es anscheinend etwas, das Selbstzweifel und
Unsicherheit erzeugen. Vielleicht der Holocaust. Vielleicht ein
unbewusstes Gefühl von Schuld?
Vielleicht die Folge eines ewigen Krieges oder
sogar der Grund für einen?
LASSEN SIE
mich direkt von Anfang an erklären: Ja,
ich glaube, Israel wird nach 90 Jahren noch bestehen. Die Frage ist: welche Art
von Israel? Wird es ein Land sein, auf das ihre
Ur-,Ur. Ur-Großenkel und Töchter stolz sein werden? Ein Staat, in dem sie gerne
leben werden?
An dem Tag, an
dem der Staat gegründet wurde, war ich 24 Jahre
alt. Meine Kameraden und ich waren Soldaten in unserer neuen Armee, aber
wir dachten nicht, das Ereignis
bedeutsam sei. Wir bereiteten uns für
die in der Nacht bevorstehende Schlacht vor. Die Reden der Politiker in Tel Aviv
interessierten uns nicht besonders. Wir wussten, wenn wir den Krieg
gewinnen würden, würde es einen Staat geben. Wenn nicht, dann würde es
weder einen Staat noch uns geben.
Ich bin keine
nostalgische Person. Ich hatte vor dem Krieg 1967 keine Nostalgie für Israel
gehabt, wie einige meiner Kollegen dies hier ausgedrückt haben. Eine Menge war
damals auch falsch. ZB. Eine riesige Menge arabischer Besitz wurde enteignet.
Aber lasst uns nicht zurückblicken. Schauen wir auf das Israel von heute und
fragen wir uns: Wohin geht‘s von hier?
WENN ISRAEL
seinen jetzigen Kurs
weitergeht, wird es eine Katastrohe geben.
Das erste
Stadium wird Apartheid sein. Sie besteht schon in den besetzten Gebieten, und
sie wird sich ins eigentliche Israel ausbreiten. Der Abstieg in den
Abgrund wird nicht dramatisch und überstürzt sein. Es wird nah und nach
geschehen, fast unmerklich.
Danach wird
der Druck auf Israel langsam wachsen.
Demographie . wird ihr Werk tun. Irgendwann, bevor die 90 Jahre vorbei sind,
wird Israel gezwungen sein, den Palästinensern die Bürgerrechte zu gewähren.
Dann wird eine Mehrheit der Bürger arabische Mehrheit sein. Ja,
Israel wird ein Staat mit einer
arabischen Mehrheit sein.
Manche
mögen das begrüßen. Aber es wird das
Ende des zionistischen Traumes sein. Der Zionismus wird eine historische Episode
sein. Dieser Staat wird wie jedes andere Land sein, wo Juden in der Minderheit
leben, wie diejenigen, die hier bleiben werden,
Da gibt es
solche, die sagen: „Es gibt keine Lösung.“. Wenn es so ist, sollten wir uns alle
einen ausländischen Pass anschaffen.
Einige träumen
von einer sog. „Ein-Staaten-Lösung“. Nun, während des letzten halben
Jahrhunderts sind viele Staaten, in denen verschiedene Nationen zusammen lebten
aus einander gebrochen. Eine unvollkommene Liste: die Sowjetunion, Zypern,
Jugoslawien, dann Serbien, Tschechoslowakei, Sudan. Es hat kein einziges
Beispiel in dieser Zeit gegeben, in dem sich zwei Nationen freiwillig in einem
Staat vereint leben. Kein einziges
ICH HABE keine
Angst vor irgendeiner militärischen Bedrohung. Es gibt keine wirkliche Gefahr.
Nicht in unserer Zeit. Kein Land, das Atomwaffen besitzt, kann durch Gewalt
zerstört werden. Wir sind in der
Lage, uns selbst zu verteidigen
Eher fürchte
ich interne Gefahren: die Implosion unser intellektuellen Standards, die
Vermehrung des parasitischen orthodoxen Establishment und besonders
Auswanderung. Die ganze Welt wird immer
beweglicher. Familien trennen sich.
Zionismus ist eine Straße mit Verkehr in zwei Richtungen. Wenn du in Los Angeles
ein so guter Jude sein kannst wie in Haifa, warum dann bleiben?
Die Verbindung
zwischen Israel und den Juden in aller Welt wird
langsam schwächer werden. Das ist natürlich. Wir sind eine neue Nation,
verwurzelt in diesem Land. Dies ist unser reales Ziel. Unsere Verbindung mit der
Diaspora wird - sagen wir – wie zwischen Australien und England sein.
ICH MÖCHTE
eine grundsätzliche Frage stellen: wird der Nationalismus selbst überleben?
Wird er von
neuen kollektiven Organisationen und Ideologien ersetzt werden?
Ich denke, der
Nationalismus wird weiter bestehen. Im letzten Jahrhundert gelang es keiner
Macht, ihn zu überwinden. Die internationalistische Sowjet-Union ist
zusammengebrochen und hinterließ nichts als einen ungezügelten, rassistischen
Nationalismus. Kommunismus hat nur Erfolg, wenn er auf dem Nationalismus ritt
wie in Vietnam und China. Der Religion war es gelungen, wenn sie auf dem
Nationalismus ritt, wie im Iran.
Worin liegt
die Macht des Nationalismus? Es
scheint, dass das menschliche Wesen ein Zusammengehörigkeitsgefühl braucht, ein
Gefühl zu einer bestimmten Kultur, Tradition, zu historischen Erinnerungen (real
oder erfunden) zu gehören, auch zu einer Heimat und Sprache.
ICH SOLLTE die
Frage anders stellen: Wird der National-Staat überleben?
Objektiv
gesehen ist der National-Staat ist ein Anachronismus. Er kam während der letzten
drei Jahrhunderte auf, weil die Wirtschaft einen großen lokalen Markt benötigte,
benötigte sie eine adäquate Armee u.s.w. dies benötigte die Größe, sagen wir,
wie die Frankreichs. Aber jetzt sind
fast alle diese Funktionen von regionalen Blöcken wie der EU übernommen worden.
Dies ist der
Grund für ein seltsames Phänomen: während National-Staaten sich zu größeren
Unionen vereinigen, brechen sie selbst in kleinere Staaten aus- einander.
Schotten, Korsen, Flamen, Katalanen, Basken, Tschechen, die französischen
Kanadier und viele, viele mehr, die Unabhängigkeit suchen.
Warum? Ein
Schotte denkt, ein unabhängiges Schottland könne sich der EU anschließen und all
die Vergünstigungen einstecken, ohne unter dem englischen Snobismus leiden zu
müssen. Lokaler Nationalismus übertrumpft größeren Nationalismus.
WO WERDEN wir
also in 90Jahren sein zu Beginn des 22. Jahrhunderts?
Im Jahr meiner
Geburt 1923 rief ein österreichischer
Edelmann mit Namen Graf Nikolaus Coudenhove-Kalergi zu einer pan-europäischen
Bewegung auf, um die Vereinten Staaten von Europa zu schaffen. In jener Zeit,
ein paar Jahre nach dem 1., und wenige Jahre vor dem 2. Weltkrieg klang dies wie
eine verrückte Utopie aus. Jetzt haben wir die europäische Union.
In diesem
Augenblick sehen „die Vereinten Staaten der Welt“ wie eine verrückte Utopie aus.
Aber da gibt es kein Entkommen vor
solcher Art Weltregierung. Die globale Wirtschaft benötigt dies, um zu
funktionieren. Globale Kommunikationen machen es möglich. Globale Spionage ist
schon unter uns. Nur eine effektive globale Autorität kann unseren leidenden
Planeten vor Kriegen und
Bürgerkriegen retten , auch vor weltweiten Epidemien und
kann dem Hunger ein Ende setzen
Kann eine
Weltregierung demokratisch sein? Ich hoffe es. Die Weltkommunikation
macht es möglich. Eure
Nachkommen werden ein Weltparlament wählen.
Wird der
National-Staat weiter in dieser „tapferen neuen Welt“ existieren?
Ja, er wird.
So wie
National-Staaten im heutigen Europa existieren: jeder mit seiner Flagge, seiner
Nationalhymne, seinem Fußballteam, seiner lokalen Verwaltung.
Dies ist meine
optimistische Vision. Israel, der National-Staat des israelischen Volkes, eng
verbunden mit dem National-Staat des palästinensischen Volkes, wird Mitglied
einer regionalen Union sein, die die arabischen Staaten einschließen wird und
hoffentlich auch die Türkei und den Iran als stolzes
Mitglied der Vereinigten Staaten der Welt.
Ein
demokratischer, liberaler und säkularer Staat, in dem eure Nachkommen stolz
erklären werden: „Ich bin ein Israeli!“
(Aus dem Englischen Ellen Rohlfs, vom Verfasser ….