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Der
schlüpfrige Abhang
Uri Avnery, 17.10.09
NATÜRLICH
ist es die Schuld des Richters Richard Goldstone. Ihm muss man die Schuld
geben, er ist an allen unangenehmen
Problemen schuld, mit denen wir uns jetzt auseinander setzen müssen.
Er
ist schuld an den Schwierigkeiten, die wir sowohl mit der UN in New York als
auch in Genf haben. Schuld an der Verschwörung, die darauf abzielt, unsere
politischen und militärischen Führer vor das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag
zu stellen; schuld an der Krise zwischen der Türkei und uns; schuld an
den vielen Initiativen in aller Welt, die einen Boykott Israels organisieren.
Nun
ist er auch schuld an der
existentiellen Bedrohung, der
sich Mahmoud Abbas (Abu Masen) gegenüber sieht.
ALS
DER Goldstone-Bericht dem UN-Menschenrechtsrat vorgelegt wurde, entschied unsere
Regierung, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um auch nur eine Debatte darüber zu verhindern.
Die
Debatte wurde natürlich von den Palästinensern verlangt. Als der Bericht
veröffentlicht wurde, tat der palästinensische Vertreter in Genf das Selbstverständliche:
er verlangte, dass der Bericht mit der Aussicht debattiert würde, dass er dem
Sicherheitsrat vorgelegt werde, der ihn dann dem Internationalen
Strafgerichtshof in Den Haag weiterreichen würde.
Was
dann kam, konnte man voraussehen. Die israelische Regierung übte starken Druck
auf die USA aus. Die USA tat dasselbe gegenüber Mahmoud Abbas. Abbas
gab nach und instruierte seinen Vertreter in Genf dahingehend, seine
Forderung nach einer Debatte
zurückzuziehen.
In
jeder anderen Angelegenheit wäre dies stillschweigend geschehen. Aber da es um den Gazakrieg
ging, explodierte die palästinensische Öffentlichkeit. Während des Krieges sah
jeder Palästinenser der Westbank im Aljazeera-Fernsehen
und in anderen arabischen Kanälen jeden Tag und jede Stunde die Grausamkeiten
des Krieges, die übel zugerichteten Leichen von Frauen und Kindern, die
zerstörten Schulen und Moscheen, die Bomben mit weißem Phosphor....
Für
die Hamasführer war Abbas’ Order, die Forderung
zurückzuziehen, ein Geschenk Allahs. Sie
fielen wütend über Abbas her.
„Verräter“, „Kollaborateur“, „Subunternehmer der zionistischen Mörder“ waren
die moderateren Schimpfwörter. Sie
fanden ein Echo unter vielen Palästinensern, die nicht unbedingt Hamasunterstützer sind.
Abbas’
legale Position ist unsicher. Nach der einen Version wäre seine Amtszeit längst
zu Ende. Nach einer anderen wird sie in wenigen Monaten zu Ende gehen. Egal,
wie es ist, er wird gezwungen sein, bald Wahlen abzuhalten. In dieser Situation
kann er gegenüber einem wütenden
Ausbruch der Öffentlichkeit gegen ihn nicht gleichgültig sein. Also zog er die
logische Konsequenz: er instruierte seinen Genfer Vertreter, er möge sein
Ersuchen um eine Debatte des Goldstone-Berichtes erneuern .
Diese Debatte endete mit einer Resolution, den Bericht vor die Vollversammlung
zu bringen.
Unsere
frustrierte Regierung reagierte wütend. Die orchestrierten Medien erklärten,
Abbas sei eine „undankbare“ Person, ja, ein Heuchler. Schließlich, war er es
nicht, der die Israelis während des Gazakrieges
drängte, ihre Angriffe auf die Gazabevölkerung zu
intensivieren, um die Hamas zu stürzen? Diese Anklage goss Öl ins Feuer. Für
die Palästinenser bedeutete dies, dass Abbas die von den Israelis begangenen
Gräueltaten nicht genügten und noch mehr verlangte. Man kann sich kaum eine
schlimmere Behauptung vorstellen.
Als
ob dies noch nicht genug wäre, berichteten die israelischen Medien, dass
Jerusalem der Palästinenserbehörde
ein Ultimatum gestellt habe: wenn das Ersuchen nach einer
Debatte nicht zurückgezogen würde, dann würde Israel keine Zuteilung von
Frequenzen für das zweite palästinensische Mobiltelefonnetz „al-Wataniya“ genehmigen, deren Partner – so wurde hämisch
berichtet – Abbas’ Söhne einschließen. Solch eine Zuteilung von Frequenzen ist
Hunderte Millionen von Dollar wert.
Selbst in solch einer Sache sind die Palästinenser total von den israelischen
Besatzungsbehörden abhängig.
DIE
GANZE Affäre wirft ein schonungsloses Licht auf die unmögliche Situation, in
der sich die Palästinensische Behörde
selbst befindet. Zwischen Hammer und Ambos – tatsächlich sogar zwischen
mehreren Hämmern und einem Ambos.
Der
eine Hammer ist Israel. Die Palästinensische Behörde ist völlig abhängig von
den Besatzungsherren. Wie die Telefonaffäre illustriert, kann in der Westbank
nichts ohne israelische Zustimmung
geschehen.
Binyamin Netanyahu spricht
über „wirtschaftlichen Frieden“ als Ersatz für politischen Frieden, also
wirtschaftliche Vergünstigungen anstelle von nationaler Unabhängigkeit. Dies
zeigt übrigens, wie weit er sich von den Lehren seines Idols Se’ev (Vladimir) Jabotinsky
entfernt hat, der sich schon vor 85
Jahren über die zionistischen Führer lustig machte, die sich der Illusion
hingaben, dass das palästinensische Volk gekauft werden könne. Kein Volk
verkauft sich für wirtschaftliche Vorteile, sagte er.
Der
Ministerpräsident der Palästinensischen Behörde, Salam Fayad,
ist in die Falle gegangen. Er weist auf den wirtschaftlichen Fortschritt hin,
der – seiner Ansicht nach – in der Westbank statt gefunden hat. Mehrere
Straßensperren wurden beseitigt, ein imponierendes Einkaufszentrum wurde in
Nablus eröffnet. Innerhalb von zwei Jahren, so sagte er, könnten die
Palästinenser so weit sein, einen palästinensischen Staat zu errichten. Er
ignoriert die Tatsache, dass die israelische Armee der de facto Souverän
in den besetzten Gebieten ist und all diese Bemühungen vom einen zum anderen Augenblick beenden kann. Die
Straßenblöcke können wieder zurückversetzt
und gar verdoppelt, die Städte unter Ausgangssperre gesetzt, das
Einkaufszentrum zerstört werden. In der Tat vergrößert jedes neue
Einkaufszentrum in der Westbank die Abhängigkeit vom Wohlwollen der Besatzungsbehörden.
Ein
anderer Hammer sind die Amerikaner. Die Palästinensische Behörde lebt vom Geld
aus den USA und dem ihrer europäischen Handlanger. Die Sicherheitskräfte der
Palästinensischen Behörde werden vom amerikanischen General Keith Dayton
trainiert. Washington behandelt Abbas, wie es den afghanischen Präsidenten
Hamid Karzei und den irakischen
Ministerpräsidenten Nuri Kamal Maliki behandelt. Er ist „unser Hurensohn“. Er
existiert so lange, wie wir wollen - er verschwindet, wenn wir ihn nicht mehr
brauchen.
Bei
einem Zusammenstoß zwischen Washington und Jerusalem würde Ramallah
profitieren. Aber, wie die Goldstone-Epidode zeigt,
arbeiten die USA und Israel
vorläufig noch völlig zusammen.
Abbas hat keine andere Wahl, als nach der israelischen Flöte zu tanzen.
Der
Ambos sind die Palästinenser. Im Augenblick ist die palästinensische
Öffentlichkeit passiv. Sie ist müde,
völlig fertig, frustriert, verzweifelt. Doch die Goldstone-Affäre zeigt,
dass es unter der Oberfläche brodelt.
Die
Hamassprecher vergleichen Abbas mit Marschall Petain,
dem französischen Helden des 1. Weltkrieges, dem Idol des Volkes und der Armee.
Im zweiten Weltkrieg, als die deutsche Armee das französische Militär in einem
Blitzkrieg vernichtete, was die Welt fassungslos machte, löste sich das politische Establishment in Paris
auf. In dieser Stunde des Elends rief das Volk nach dem greisen Marschall, der
vor den Deutschen kapitulierte, um noch zu retten, was zu retten war. Er war
zweifellos ein französischer Patriot.
Hitler
respektierte den Marschall und behandelte ihn anfangs gut. Etwa ein Jahr
überlegte er, ob er ihn anstelle von
Mussolini als Verbündeten akzeptieren solle. Ein großer Teil Frankreichs blieb
„unbesetzt“ als eine Art deutsches Protektorat – und ebenda wurde das
Vichy-Regime errichtet (nach seiner Hauptstadt benannt). Aber bald verschlechterte
sich die Lage, und Petain wurde ein richtiggehender Kollaborateur der Nazis,
der sich sogar an der Vernichtung der
Juden beteiligte. „Vichy“ wurde ein Synonym für Verrat, und nach dem Krieg
wurde Petain zum Tode verurteilt. Mit Rücksicht auf seine ruhmreiche
Vergangenheit wurde sein Urteil in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt.
Ich
denke, dass dies kein fairer Vergleich ist, Ramallah ist nicht Vichy. Khaled Mashal in Damaskus ist nicht De Gaulle in London. Aber
„Vichy“ dient als Warnung, und die palästinensische Behörde befindet sich auf
einem schlüpfrigen Abhang. Ein Regime unter Besatzung ist immer in der Gefahr,
ein Kollaborateur zu werden. Die verbalen Attacken der Hamas vermehren nur das
Elend von Abbas und seinen Verbündeten.
Abbas’
ursprüngliche Order, das Ersuchen für
eine Debatte über den Goldstone-Bericht
zurückzuziehen, war auch ein Hindernis für die Bemühungen, die Spaltung
zwischen den palästinensischen Fraktionen zu überwinden.
Die
Ägypter verbreiten Nachrichten über einen Fortschritt eines internen
palästinensischen Abkommens und lassen
seinen Inhalt durchsickern. Man kann kaum glauben, dass etwas dabei
herauskommt. Hamas wird aufgefordert, die Alleinherrschaft über den
Gazastreifen aufzugeben; doch kann man sich kaum vorstellen, dass sie dies tun
werden. Von Abbas wird erwartet, dass er in freien Wahlen Hamas gegenübertritt
– und auch dies kann man sich kaum
vorstellen. Noch weniger kann man glauben, dass die Amerikaner solche Wahlen riskieren.
Sie haben schon angekündigt, dass sie
alles gegen eine Versöhnung tun werden.
Die
israelischen Medien berichten mit Häme, der Hass zwischen Fatah und Hamas sei
nun stärker als der Hass gegenüber den Israelis. Das ist kein einzigartiges
Phänomen. Als wir gegen das britische Besatzungsregime in Palästina kämpften,
gab David Ben Gurion, seinen Leuten den
Befehl, die Irgunkämpfer der
britischen Polizei anzuschließen, und nur dank der fast
unmenschlichen Zurückhaltung von
Menachem Begin wurde ein Bruderkrieg verhindert. Die irischen Freiheitskämpfer
töteten einander mit Leib und Seele, als die Briten einen Kompromiss anboten.
So etwas ist an vielen Orten geschehen.
Falls
die Palästinenser werden wählen müssen, sind sie nicht zu beneiden. Auf der
einen Seite wird die Hamas als nicht korrupte Bewegung angesehen, die dem Kampf gegen Israel weiterhin treu bleibt. Aber die
fundamentalistischen religiösen Einschränkungen, die sie jetzt den Bewohnern
des Gazastreifens, besonders den Frauen, auferlegen, sind für viele
Palästinenser abschreckend. Auf der andern Seite wird die palästinensische
Behörde von vielen als korrupt und als Kollaborateur angesehen, aber auch als die einzige Körperschaft, die
amerikanische Unterstützung für die palästinensische Sache bekommt.
Hamas
bietet heute keine wirkliche Alternative an , da auch
sie eine Feuerpause mit Israel einhält. Doch die Hoffnung, dass Abbas den
Frieden bringen könnte, schwindet.
WAS
MACHT unsere Regierung aus dieser Situation?
Naivlinge
könnten sagen: Israel ist an der Eliminierung der extremen Hamas und der
Stärkung des moderaten Abbas interessiert, der für den Frieden mit Israel
arbeitet. Das ist doch selbstverständlich.
Wenn
es so wäre, warum hindert die israelische Regierung Abbas daran, politisch
etwas zu gewinnen, und wenn es nur symbolisch wäre? Warum hat ihn Ariel Sharon
ein „gerupftes Huhn“ genannt? Warum
wiederholen die israelischen Medien jeden Tag,
„Abbas sei fürs Frieden-machen zu
schwach“?
Warum
lässt Netanyahu nicht ein tausend palästinensische Gefangene frei – als eine
Geste des guten Willens, während er mit
der Hamas über die Entlassung von tausend Gefangenen für die Rückgabe des gefangenen Soldaten Gilad Shalit verhandelt? Warum unterbreitet er Abbas Bedingungen,
deren Akzeptanz für ihn politischer
Selbstmord bedeuten würde? ( z.B. die Anerkennung „Israels als der Staat der
jüdischen Nation“) Warum geht die Erweiterung der Siedlungen in Ostjerusalem
und auf der Westbank mit erhöhter Geschwindigkeit weiter – unter Abbas’ Augen?
Die
politische und militärische Führung Israels besteht nicht aus dummen Leuten.
Weit davon entfernt. Wenn sie etwas tut, dessen Konsequenzen klar vorausgesehen werden können, muss man
vermuten, dass es genau das ist, was sie will, selbst wenn sie das Gegenteil
behauptet. Wenn alle Regierungsaktionen Hamas stärken und Abbas schwächen,
liegt nicht genau das hinter ihrer
Absicht?
Und
tatsächlich: für die augenblickliche israelische Politik ist Abbas gefährlich.
Er genießt die Unterstützung von Präsident Obama, der
Israel unter Druck setzt, mit den Verhandlungen um „zwei Staaten für zwei
Völker“ zu beginnen, was mit dem Rückzug aus der Westbank und der Auflösung der
meisten Siedlungen verbunden wäre. Das würde
ein Ende von 120 Jahren zionistischer Ausdehnung und einen fundamentalen Wandel in der Essenz
Israels selbst bedeuten.
Eine
Machtübernahme der Westbank würde von diesen „Gefahren“ ablenken. Kein
amerikanischer Druck für einen Kompromiss. Keine Notwendigkeit für
Verhandlungen. Keine „Beschränkung“ der Siedlungstätigkeit wäre nötig oder ein
Kompromiss über Jerusalem. Die Besatzung könnte ungestört weitergehen.
Dies
kann in der Zukunft zu einer Katastrophe führen. Aber wer denkt schon an die
Zukunft?
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz vom Verfasser autorisiert)
Inserat
von Gush Shalom vom
16.10.09 in Haaretz
Wir
müssen
Die
mutmaßlichen
Kriegsverbrechen
in Gaza
Untersuchen
Nicht
wegen der UN
Und nicht aus Angst
Vor
Goldstone
Sondern
wegen
Unserer
Selbstachtung
Und
wegen der Zukunft
Israels.
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