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Adnans Sieg

 

Uri Avnery, 25. Februar 2012

 

EIN  PALÄSTINENSISCHES Dorf, irgendwo im Norden in der Westbank.

 

Mitten in der Nacht ein hartes Klopfen an der Tür und Schreie auf Arabisch: „Die israelische Armee. Türe auf!“

 

Irgendjemand – meistens die Mutter der Familie – öffnet die Tür. Schwer bewaffnete Soldaten stürzen hinein und ziehen das Opfer aus dem Bett. Sie werfen es auf den Boden, und direkt vor den Augen  seiner Frau und Kinder ( oder Eltern und Geschwister) werden ihm die Augen  verbunden und die Arme auf dem Rücken gefesselt. So wird er zum Jeep geschleppt. Das Opfer mag  15 oder 70 Jahren sein oder irgend ein Alter dazwischen.

 

Wenn nach mehreren Tagen des Verhörs mit  oder ohne „moderaten physischen Druck“ (Wie ein sensibler Richter des Obersten Gerichtes  dies vorsichtig nannte), keine zufrieden stellende Aussage erreicht wird, landet der Gefangene in Administrativhaft, die sechs Monate dauert und die Jahr um Jahr verlängert werden kann. Die juristische Überblick  ist eine Farce. Der Gefangene wird nicht informiert, weshalb und von wem er angeklagt wird, die Beweise sind und werden weder dem bzw. der Gefangenen noch seinem oder ihrem Anwalt gezeigt.

 

Im Laufe der Besatzung haben Zehntausende von Palästinensern diese Prozedur erfahren. Gegenwärtig sind etwa 300 in Administrativhaft ( und etwa 10 000 von ihnen von Gerichten verurteilten Häftlinge.)

 

Nun hat einer von ihnen gesagt: jetzt reicht’s!.

 

 

KHADER ADNAN MUHAMMAD MUSSA ist vorher schon siebenmal  verhaftet gewesen.

 

Der 33Jährige Aktivist aus dem Dorf Arrabe bei Jenin in der nördlichen Westbank ist seit seiner Studentenzeit in der Bir Zeit-Universität ein Führer des islamischen Jihad. Leicht erkennbar an seinem besonders langen, schwarzen Bart. Er ist inzwischen an der vorderen Front der Organisation in der Westbank.

 

Der Islamische Jihad ist die extremste der bedeutenden palästinenensischen Gruppen, und Adnan hat offen vor der Kamera bewaffneten Widerstand gepredigt. Er hat junge Palästinenser dazu aufgerufen, Westen mit Explosivstoffen anzuziehen und Selbstmordangriffe zu begehen.

 

Die Besatzungsbehörden haben seit langer Zeit ein Auge auf ihn geworfen, auch der Geheimdienst der palästinensischen Behörde. Kein Wunder, weil Adnan sie viele Male der Kollaboration mit dem israelischen Feind angeklagt und gesagt hatte, dass sie nach deren Order handele.

 

Als er am 17. Dezember noch einmal verhaftet wurde, verlangte er, vor Gericht gestellt oder entlassen zu werden. Als weder das eine noch das andere geschah, erklärte er den Hungerstreik.

 

Ein Hungerstreik von 28 Tagen wird gewöhnlich als sehr lang bezeichnet. Adnan fastete 66 Tage, was ein Weltrekord sein mag, wenn  man von dem irischen Freiheitskämpfer (oder „Terroristen“) absieht, der von Margaret Thatcher verhöhnt wurde und der sich zu Tode fastete. Wenn ein Hungerstreik 70 Tage dauert, dann ist der Tod fast unvermeidlich.

 

Schließlich wurde er in ein Krankenhaus transportiert, wo ihm die Beine und ein Arm ans Bett gefesselt wurden, obwohl  er  selbst kaum mehr stehen konnte. Dazu waren noch zwei Wächter im Zimmer. Adnans Streik zog weltweit  die Aufmerksamkeit  auf sich.

 

 In Israel selbst gab es in den Medien nur begrenzt Reaktionen, aber Friedens- und Menschenrechtsgruppen kamen heraus und unterstützten Adnan. Die Ärzte für Menschenrechte, eine israelische Organisation, die 1988 von der Psychiaterin Dr. Ruchama Marton gegründet wurde, führte den Kampf mit besonderem Eifer. Bedeutende Medien in aller Welt, einschließlich der New York Times, nahmen den Fall auf.

 

Endlich bekamen die israelischen Diplomaten und die Sicherheitsdienste Angst. Wenn Adnan sich zu Tode fastet, kann keiner die Auswirkungen voraussehen. In den besetzten Gebieten könnten  weit verbreitete Aufstände erwartet werden, vielleicht weitere Tote. Die palästinensischen Gefangenen in Israels Gefängnissen könnten  einen allgemeinen Hungerstreik beginnen, Israel würde mit Syrien und dem Iran verglichen werden. Noch schlimmer: allein die Praxis der Administrativhaft könnte unter internationale Untersuchung geraten.

 

Also schluckte das politische und Sicherheits-Establishment seinen Stolz und bot einen Kompromiss an: wenn Adnan  mit seinem Streik sofort aufhören würde, würden die Sicherheitsbehörden seine Administrativhaft garantiert am 17. April nicht verlängern, dann nämlich, wenn seine jetzige viermonatige  Haftzeit beendet ist.

 

Adnan, der schon den Status eines Nationalhelden gewonnen hat, nahm  dies Angebot an. Er hat sicher  seinen Hauptzweck erfüllt: er hat die Aufmerksamkeit auf genau diese Praxis gezogen.

 

 

ADMINISTRATIVHAFT ist keine israelische Erfindung. Israel übernahm sie vom britischen Kolonialregime als Teil von Notstandsregulierungen, die vom späteren israelischen Justizminister als „schlimmer als Nazigesetze“ beschrieben wurden. Aber als Israel entstand, blieben die Notstandsregeln in Kraft oder wurden von ähnlichen Gesetzen „Made in Israel“ ersetzt.

 

Auf einander folgende Chefs der Sicherheitsdienste haben behauptet, die Administrativhaft  sei  für den „Kampf gegen den Terrorismus“  absolut erforderlich.

 

Ihre Ansicht kann durch einen Fall, in den ich selbst verwickelt war, illustriert werden. Als ich der Herausgeber vom Haolam Hazeh-Nachrichtenmagazin war, verschwand ein arabisch-israelischer Journalist – nennen wir ihn Ahmed – der für unsere arabische Ausgabe arbeitete. Nachdem ich eine Zeit lang nach ihm gesucht hatte, erfuhr ich, dass er in Administrativhaft genommen war. Da ich in jener Zeit Mitglied der Knesset war, war es mir erlaubt, mit einem ranghohen Offizier des Nachrichtendienstes (Shabak oder Shin Bet) zu sprechen, der mir im Vertrauen den Grund für seine Verhaftung enthüllte.

 

Anscheinend hatte der Sicherheitsdienst ein Mitglied von Fatah aus dem Ausland  geschnappt, der eine Botschaft an zwei Araber in Israel weitergeben und sie bitten sollte, im Lande  Fatahzellen aufzubauen. Fatah wurde damals als  gefährliche Terrororganisation angesehen. Einer von den zweien war Ahmad.

 

„Offen gesagt, haben wir keine Idee, ob Ihr Mann ein Terrorist ist oder zufällig von Fatahleuten in Jordanien gewählt wurde,“ sagte der Shin-Bet-Chef zu mir, „wir haben keinen Beweis, der das Gericht überzeugen könnte. Wir können vor Gericht nicht  enthüllen, dass wir den Fatahmann gefangen hätten.  Aber wir können Ahmed auch nicht frei lassen, weil er ein gefährlicher Terrorist sein könnte. Was würden Sie an unserer Stelle tun, wenn Sie  die Verantwortung hätten, die wir tragen?“

 

Ehrlich gesagt, hege ich nicht den Wunsch, von einem Selbstmordbomber in Stücke gerissen zu werden. Aber ich antwortete, dass unter diesen Umständen, Ahmed sofort entlassen werden sollte. Doch hielten sie ihn monatelang im Gefängnis. Als er schließlich entlassen wurde, wanderte er nach Amerika aus. Das war wohl eine Bedingung, um entlassen zu werden.

 

Ich habe schon über  einen anderen Fall geschrieben, der mich direkt betraf und der  mich    die ständige Gefahr dieser Praxis lehrte ?? Als Menachem Begin  1977 zur Macht gekommen war, hatte er in seinem ersten  umfangreichen Interview erzählt, dass er vor 20 Jahren, als Issar Harel die Verantwortung für alle israelischen Geheimdienste hatte,  dem Ministerpräsidenten Ben Gurion vorschlug, mich als sowjetischen Spion in Administrativhaft zu nehmen. Harel hatte einen krankhaften Hass auf mich und schrieb später ein ganzes Buch darüber.

 

Die Anklage war ziemlich lächerlich, weil ich nie in meinem Leben Kommunist oder  Marxist war. In der selben Zeit, als Arthur Koestler sein bahnbrechendes Buch „Darkness at Noon“ schrieb, dachte auch ich, damals ein Teenager, dass irgendetwas mit einem System sehr falsch sein müsse, das fast alle seine Gründer als imperialistische Spione verurteilt. Wann immer später eine israelische Delegation nach Sowjetrussland eingeladen war, strich der KGB meinen Namen aus. (Zuschauer der ausgezeichneten britischen Fernsehserie „Spooks“ (Gespenster) würden sofort erkennen, dass diese genau die Kennzeichen eines Meisterspions sind.)

 

Ben Gurion war  nicht einer meiner  Fans oder einfach gesagt, er konnte mich auf den Tod nicht ausstehen. Da ich ihn jede Woche angriff, war das ja verständlich. Doch war er auch ein kluger Politiker und fürchtete, dass meine Verhaftung einen Skandal auslösen würde. Deshalb sagte er zu Harel, er solle sich, vor meiner Verhaftung die Unterstützung von Begin, dem Führer der größten Oppositionspartei versichern.

 

Begin sagte zu ihm: „Wenn du Beweise hast, dann zeige sie mir. Wenn nicht, werde ich gegen deine Pläne bis aufs Blut bekämpfen“. Ben Gurion ließ die Idee fallen, und Begin sandte mir seinen vertrautesten Mitarbeiter, um mich zu warnen.

 

Wenn Begin meine Verhaftung unterstützt hätte, wer hätte daran gezweifelt, dass der Shabak  solide Beweise meines Verrats gehabt hätte? Meine Stimme wäre zum Schweigen gebracht, mein Magazin zerstört worden.

 

 

IN EINEM demokratischen Staat ist kein Platz für Administrativhaft, auch nicht für Gerichtsverhandlungen, bei denen entscheidende Beweise  vor dem Angeklagten und seinen Anwälten  zurückgehalten werden. Da muss es andere Wege geben, um die Informanten und andere geheime Informationsquellen zu schützen. Zum Beispiel muss man dem Angeklagten in solchen Fällen erlauben, nur die Anwälte  einer eingeschränkten Liste zu wählen, die den größten Spielraum in Bezug auf Sicherheit haben.

 

Dies ist übrigens tatsächlich bei der sensibelsten Sicherheits-Gerichtsverhandlung geschehen, bei der des nuklearen Wistleblower (oder “Spion“) Mordechai Vanunu.

 

Das, was man im Fall Adnan herausbrachte, legt die Irrationalität des Systems offen. Wenn Adnan so gefährlich war, dass er ohne Anklage oder Gerichtsverhandlung ins Gefängnis musste, wie kann er dann entlassen werden? Und wenn er nicht so gefährlich war, warum wurde er  dann überhaupt eingesperrt?

 

 

AM ENDE hat Adnan ein Paradox für sich selbst und seine Kameraden geschaffen.

 

Das Wesentliche  seiner Ideologie und  der seiner Organisation ist die, dass es keine wirksame Methode des Widerstandes  gegen die israelische Besatzung  und Unterdrückung gibt, außer Gewalt  der extremsten Art. In ihren Augen ist Gewaltlosigkeit Unsinn. Schlimmer noch, es bedeutet Kapitulation und  am Ende Verrat. Der islamische Jihad klagt nun die Hamas an, mit dieser Idee zu flirten.

 

Doch ist ein Hungerstreik die äußerste Form von Gewaltlosigkeit. Gandhi benützte sie häufig, wobei er sich auf ihre moralische Wirkung  verließ.

 

Khaled Adnans erfolg ist genau dies:  ein leuchtender Sieg der Gewaltlosigkeit.

 

(Aus dem Englischen Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)