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Uri
Avnery, 31.Oktober 2015
ES IST
nicht sehr erfreulich, wenn ernste Leute in aller Welt – Historiker, Psychiater,
Diplomaten – sich fragen, ob mein Ministerpräsident seine
Sinne psychisch noch bei einander hat.
Doch
dies geschieht jetzt. Und nicht nur im Ausland. Immer mehr Leute in Israel
stellen sich dieselbe Frage.
All dies
wurde durch einen Vorfall ausgelöst. Aber die Leute schauen jetzt
viele andere Ereignisse der Vergangenheit und Gegenwart in einem neuen
Licht.
Bis
jetzt wurden viele seltsame Handlungen und Äußerungen von Benjamin Netanjahu als
Manipulationen eines schlauen Politikers, eines talentierten Demagogen
angesehen, der die Seele seiner Wähler kennt und sie mit entsprechend reichlich
Lügen versorgt.
Nicht
mehr. Ein beunruhigender Verdacht
geht um: dass unser Ministerpräsident
ernsthafte psychische Probleme hat.
ALLES
BEGANN
vor zwei Wochen, als
Netanjahu
vor
einer weltweiten zionistischen Versammlung eine Rede hielt. Was er sagte,
war schockierend.
Adolf
Hitler – so sprach er hochtrabend – wollte die Juden nicht wirklich auslöschen.
Er wollte sie nur vertreiben. Aber dann traf er den Mufti aus Jerusalem, der ihn
davon überzeugte, die Juden zu „verbrennen“.
So wäre der Holocaust geboren worden.
Die
Schlussfolgerung? Hitler war schließlich gar nicht so böse. Den Deutschen sollte
nicht die Schuld gegeben werden.
die Palästinenser waren die
Urheber des Mordes an sechs Millionen
Juden.
Falls
das Subjekt ein anderes gewesen wäre, könnte diese Rede als eine der üblichen
Lügen und Verfälschungen, die für Netanjahu typisch sind, angesehen werden.
Hitler war wirklich nicht so schlecht, die Palästinenser
müssen angeklagt werden, der Mufti war der Vorläufer von Mahmoud Abbas.
Nur ein Stück Routine politischer Propaganda.
Aber
dies betrifft den Holocaust, das schrecklichste Verbrechen der modernen Zeit und
bei weitem das bedeutendste Ereignis in der modernen jüdischen Geschichte.
Dieses Ereignis hat direkten Einfluss auf das Leben der Hälfte der jüdischen
Bevölkerung Israels (einschließlich meiner selbst), die ihre Verwandten im
Holocaust verloren haben oder selbst Überlebende sind.
Diese
Rede war nicht nur eine kleine politische Manipulation, eine von denen, an die
wir uns gewöhnten, seitdem Netanjahu Ministerpräsident wurde. Dies war etwas
Neues, etwas Entsetzliches.
UM DIE
ganze Welt ging ein Aufschrei. Es gibt viele Tausende von Experten über den
Holocaust. Unzählige Bücher wurden über Nazi-Deutschland geschrieben (eines auch
von mir). Jedes einzelne Detail ist immer wieder untersucht worden.
Holocaustüberlebende waren geschockt, weil Netanjahu Hitler und den Deutschen im
Allgemeinen auch von der Hauptanklage für das entsetzliche Verbrechen vergeben
wollte. Hitler war also nicht so schlecht. Er wollte die Juden nur vertreiben,
nicht töten. Es waren die bösen Araber, die ihn verleiteten, die
Scheußlichkeiten der Scheußlichkeiten auszuführen.
Angela
Merkel verhielt sich anständig und veröffentlichte sofort ein Dementi und
unterstellte die totale Anklage dem deutschen Volk. Tausende von wütenden
Artikeln erschienen in aller Welt, viele Hunderte von ihnen in Israel.
Diese
besondere Äußerung Netanjahus war nicht nur dumm, nicht nur ignorant. Es grenzt
an psychische Erkrankung.
EIN MUFTI
ist ein
religiöser Wissenschaftler, die Autorität von höchstem Rang in einer
islamischen Gesellschaft, weit über einem Richter. Ein Großmufti ist die höchste
lokale religiöse Behörde. Im Islam gibt es keinen Papst.
Der
Großmufti in dieser Geschichte ist Hajj Amin al-Husseini, der von den britischen
Behörden in Palästina für das Amt des Großmufti von Jerusalem gewählt
wurde. Wie sich herausstellte, war dies ein großer Fehler.
Der
Mann, der den Fehler machte, war ein Jude – Herbert Samuel, der erste Hohe
Kommissar des britischen Mandatsgebietes von Palästina nach dem 1. Weltkrieg.
Der junge Hajj Amin war schon als Hitzkopf bekannt, und Samuel folgte der wohl
eingerichteten kolonialen Praxis Feinde für hohe Ämter zu ernennen, um sie unten
zu halten.
Die
Husseini-Familie ist die führende Großfamilie
in Jerusalem. Sie hat etwa 5000 Mitglieder und ein ganzes Stadtteil. Sie
ist eine der drei oder vier angesehendsten Familien und seit vielen Generationen
ist ein Husseini der Mufti gewesen, der
Bürgermeister oder eine andere führende Persönlichkeit im arabischen
Jerusalem.
Hajj
Amin (Hajj ist die Anrede eine
Muslim, der seine
Pflichtpilgerreise nach Mekka gemacht hat.) war von Anfang an ein Unruhestifter.
Er sah für die arabische Gemeinde in Palästina früh die Gefahr der zionistischen
Einwanderung in Palästina und mehrere Male hetzte er zu anti-britischen und
antijüdischen Aufständen. Diese kam zu einem Höhepunkt in der Großen Revolte von
1936 – die von den Juden
„Die Ereignisse“ genannt wurden
- die das Land drei Jahre lang unter Schock hielt. Bis zum 2. Weltkrieg.
Während
„der Ereignisse“ wurden viele Juden und
viele Briten getötet, aber die meisten Opfer waren Araber. Der Mufti (wie ihn
jeder nannte) nützte die
Gelegenheit, dass alle seine Rivalen und Konkurrenten getötet wurden.
Für die Juden in Palästina wurde er zu einem Symbol des Bösen, das Objekt
intensivsten Hasses.
Inzwischen hatten auch die Briten genug von ihm gehabt. Sie jagten den Mufti aus
dem Land. Er ging in den Libanon, aber als dies Land im 2. Weltkrieg von den
Briten besetzt wurde, um die Truppen vom französischen Vichy-Regime zu
vertreiben, floh der Mufti in den Irak,
das in den Händen von anti-britischen und pro-Nazi-Rebellen war. Als die Briten
den Irak zurück eroberten, floh der Mufti nach Italien, das die faschistischen
Bemühungen leitete und sich bemühte, die Araber zu gewinnen. Der Mufti, dessen
Hauptfeinde die Briten waren, handelte nach der Theorie, dass der Feind meines
Feindes mein Freund ist. (Zur selben Zeit
handelte ein Führer des jüdischen Untergrundes in Palästina, Abraham
Stern, nach derselben Theorie, suchte also Kontakt mit den Italienern und den
Deutschen.)
Es
scheint, dass die Italiener nicht so begeistert waren, Hajj Amin bei sich zu
haben, so zog der Mufti weiter ins Nazi-Deutschland. Zur selben Zeit versuchte
die SS muslimische Freiwillige für den Krieg gegen Russland zu gewinnen und
irgendjemand hatte die glänzende Idee, dass ein Foto vom Großmufti mit Hitler
hier sinnvoll wäre.
Hitler
liebte diese Idee gar nicht. Er war völlig überzeugt von der Rassentheorie – und
die Araber sind Semiten – eine minderwertige
und widerwertige Rasse, genau wie die Juden. Aber am Ende wurde er überredet,
diesen arabischen Flüchtling zu einer
„Foto-Gelegenheit“ zu empfangen. Ein Bild wurde gemacht – das einzige
Foto des einzigen Treffens dieser beiden Personen. (Es gab auch Fotos des Mufti
mit muslimisch-bosnischen
SS-Freiwilligen.)
Das
Treffen war kurz, ein oberflächliches Protokoll wurde gemacht
- die Juden erschienen nicht darin. Die ganze Episode war unbedeutend.
Bis Netanjahu.
Es ist
lächerlich, den Mufti als den Vater der palästinensischen Nation zu krönen.
Bei all meinen hunderten Begegnungen mit Palästinensern, ab Arafat, hatte
ich nie ein gutes Wort über Hajj Amin gehört, nicht einmal von dem wunderbaren
Faisal al-Husseini, einem entfernten Verwandten. Sie beschrieben ihn einstimmig
als einen realen palästinensischen Patrioten, aber eine Person mit begrenzter
Bildung und engstirniger Auffassung, der einen Teil der Schuld für das Desaster
trägt, das das palästinensische Volk 1948
befallen hat. Das Blutbad,
das er unter den Palästinensern in der Rebellion von 1936-39
ausgeführt hat, schwächte die Palästinenser so sehr, dass, als der
entscheidende Test kam – die 1947er Teilung von Palästina und
der Krieg von 1948 – die palästinensische Nation keine effektive Führung
mehr hatte.
Die
Idee, dass der mächtige Führer (AH) den Rat von einem geflüchteten Semiten
benötigt, um sich für den Holocaust
zu entscheiden, ist nicht nur
lächerlich, es ist sogar verrückt.
Auch die
Daten stimmen nicht überein. Das Fototreffen fand Ende 1941 statt. Die
Vernichtung begann unmittelbar nach der Eroberung von Polen 1939 und nahm seine
monströse Dimension mit der Nazi- Invasion der Sowjet Union Mitte 1941 an. Sie
gelangte zu ihrer industriellen Endlösung, als Heinrich Himmler, der Chef der SS
entschied, dass „ man von einem
anständigen deutschen Soldaten nicht verlangen könne, „ all diesen jüdischen
Abschaum zu erschießen“. Der Mufti hatte absolut nichts damit zu tun
- allein die Idee ist krankhaft.
Bis 1939
förderte Hitler tatsächlich die Vertreibung der Juden, weil eine physische
Vernichtung in einem friedlichen Europa undenkbar war. Aber nachdem der Krieg
ausgebrochen war, sah er auf einmal die Gelegenheit der Massenvernichtung – und
sagte dies ganz offen.
WIE KAM
es, dass der Sohn eines „renommierten Historikers“ solch verrückte Dinge sagte?
(Diese Bezeichnung von Ben Zion
Netanjahu ist jetzt in den israelischen Medien gang und gäbe, obwohl ich niemals
jemanden traf, der sein Werk über die spanische Inquisition gelesen hatte.
Vielleicht hörte er dies von irgendeinem Spinner
der von Sheldon Adelson Geld bekam – aber die Tatsache, dass er dies
nicht direkt zurückwies, zeigt nicht nur, dass er ein vollkommener Ignoramus
über das bedeutendste Kapitel der modernen jüdischen Geschichte ist,
sondern auch, dass er einige
psychische Probleme hat.
In
diesem Licht sehen viele seiner Entscheidungen jetzt anders aus, einschließlich
der Entscheidung dieser Woche: Maßnahmen zu ergreifen, um den „Einwohner“ Status
von zehn-Tausenden arabischer Jerusalemiten zu nehmen. Als Ost-Jerusalem
1967 von Israel annektiert wurde, wurde den Einwohnern nicht das israelische
Bürgerrecht gewährt, nur reduzierte Einwohnerrechte, die das Stimmrecht
für die Knesset verweigerte. Ihnen wurde gnädiger Weise das individuelle
Recht gegeben, die Bürgerschaft zu
beantragen, aber natürlich hat kaum einer davon Gebrauch gemacht, weil dies die
Anerkennung der Annexion bedeutet hätte.
Jetzt
bin ich besorgt. Wenn wir tatsächlich von einem Mann
mit psychischen Problemen regiert werden – wohin wird er uns
jetzt führen?
(aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)