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Wessen Akko ?
Uri Avnery, 15.8.09
DER
ALTE Hafen von Akko ist zur Zeit
das Objekt einer wilden Schlacht. Die arabischen Bewohner der Stadt wollen,
dass der Hafen den Namen eines arabischen Helden trägt, den von Issa Al-Awam, einem General von Saladin, dem muslimischen Führer,
der die Kreuzfahrer besiegte. Der Gemeinderat von Akko,
der natürlich von den jüdischen Bewohnern dominiert wird, hat entschieden, dem
Hafen den Namen eines israelischen Funktionärs zu geben.
Die
arabischen Bürger errichteten für ihren Helden ein Denkmal. Der Gemeinderat
erklärte dieses für eine „illegale Struktur“ und entschied, es zu zerstören.
Dies
könnte ein kleiner lokaler Konflikt gewesen sein, wenn er nicht solch tiefe
ideologische und politische Auswirkungen hätte.
ICH
LIEBE das alte Akko. Für mich ist es - abgesehen von
Ost-Jerusalem - die schönste und interessanteste Stadt im Land.
Sie
ist eine der ältesten Städte des Landes.. Sie wird in
der Bibel im 1. Kapitel der Richter erwähnt (das übrigens dem mörderischen Buch
Josua völlig widerspricht) Das Kapitel zählt die kanaanitischen Städte auf, die
nicht von den Kindern Israels erobert worden waren. Es blieb eine phönizische
Stadt, eine der Hafenstädte, von der unerschrockene Matrosen abfuhren und die
Küsten des Mittelmeeres kolonisierten, von Tyros bis Kartago. (Es waren
vor allem die Phönizier, die im ganzen Mittelmeerraum kolonisierten und das
phönizische Alphabet bis zu den Etruskern in Italien verbreiteten)
Akko erreichte während der Kreuzzüge seinen
Höhepunkt. Es war damals der einzige Hafen des Landes, der während aller
Jahreszeiten des Jahres benutzt werden konnte. Den Kreuzfahrern gelang es, sie
nach einer hartnäckigen Verteidigung zu erobern. Hundert Jahre später als der
große Salah-ad-Din (Saladin) der Herrschaft der Kreuzfahrer in Jerusalem ein
Ende setzte, trieb er diese auch aus Akko heraus. Die
Kreuzritter eroberten sie zurück, und Akko diente
ihnen noch einmal hundert Jahre als Hauptstadt des reduzierten Kreuzfahrerstaates. Als 1291 der Rest des
Kreuzfahrerreichs ausgelöscht wurde, war Akko die
letzte Kreuzfahrerstadt, die in die Hände der Muslime fiel. Das Bild der
letzten Kreuzfahrer und ihrer Frauen, die von den Quais von Akko
ins Meer sprangen, hat sich ins Gedächtnis eingegraben und den Ausdruck „ins
Meer werfen“ entstehen lassen.
Auch
später hatte die Stadt eine bewegte Geschichte. Dhaher
al-Omer, ein Beduinenhäuptling, übernahm die Stadt und schuf eine Art
unabhängigen Beinahe-Staat Galiläa. Sogar Napoleon, einer der großen Feldherren
der Geschichte, kam 1799 von Ägypten her, belagerte die Stadt, wurde aber von
den Arabern und mit Hilfe britischer Matrosen klar besiegt.
Als
die Briten 1917 die Herren des Landes wurden, verwandelten sie die imponierende
Kreuzfahrerfestung in Akko in ein Gefängnis, in dem
unter anderem auch die Führer der hebräischen Untergrundorganisationen
eingekerkert waren. In einer ihrer gewagtesten Heldentaten brach die Irgun in die Festung ein und befreite ihre Gefangenen. 1948
eroberten die Israelis die Stadt, die bis dahin völlig arabisch war.
Der
alte Teil der Stadt mit seinen wunderschönen Minaretts,
der Moschee und den Kreuzfahrerfestungen blieb weiter arabisch. Auch der Hafen,
der nun Fischern diente. Aber rund um diesen alten Stadtteil entstanden
jüdische Stadtteile, anonym wie viele hundert solcher Stadtteile in ganz
Israel, und ihre Bewohner stellen nun die Mehrheit dar. Sie lieben ihre
arabischen Nachbarn nicht besonders.
Von
Zeit zu Zeit gibt es Auseinandersetzungen zwischen den beiden
Bevölkerungsgruppen. Die arabischen Bewohner glauben, Akko
sei seit alters her ihre Stadt ist und
betrachten die Juden als Eindringlinge. Die Juden sind davon überzeugt, die
Stadt gehöre ihnen und die Araber seien bestenfalls eine tolerierte Minderheit
und sollten ihren Mund halten .
Der
augenblickliche Streit kann leicht zu Gewaltausbrüchen werden.
BEI
JEDEM Konflikt zwischen Juden und Arabern in diesem Land taucht die kindische
Frage auf: wer war zuerst da?
Die
Araber eroberten 635 n. Chr. das Land, das sie Jund Filistin (militärischer Distrikt Palästina) nannten, und
seit damals ist es ( abgesehen von der
Kreuzfahrerperiode) unter muslimischer Herrschaft gewesen, bis zur Ankunft der
Briten. Sie, die Araber, behaupten: „Wir waren zuerst hier“.
Die
zionistische Version ist anders. In biblischen Zeiten gehörte der größte Teil
des Landes dem Königreich Judäa und Israel, obwohl die Küste im Norden den
Phöniziern und im Süden den Philistern gehörte. Trotz verzweifelter
Anstrengungen in Hunderten von Jahren konnte kein archäologischer Beweis
gefunden werden, dass es jemals einen Exodus aus Ägypten, eine Eroberung
Kanaans durch die Kinder Israels oder ein Königreich Davids oder Salomos gegeben hat. Aber seit dem Königreich Ahabs um 870 v. Chr. ist Israel auf der wohl bewiesenen
historischen Karte. Nach dem babylonischen Exil, herrschten die Juden im
Lande mit ständig wechselnden Grenzen
bis in die Zeit der Römer. Also: „Wir waren die ersten.“
Wenn
die Israeliten vor den Muslimen da waren, wer war dann vor den Israeliten hier?
Die Kanaaniter natürlich. „Sie waren die ersten“. Aber wer repräsentiert sie?
Ich
schrieb einmal eine Satire über den „ersten kanaanitischen Kongress“, der
irgendwo auf der Welt stattfindet. Die Teilnehmer erklären, sie seien die
Nachkommen der Ureinwohner des Landes und beanspruchten dieses für sich.
Das
ist nicht ganz ein Scherz. In den ersten Jahren des letzten Jahrhunderts
versuchte Yitzhak Ben-Zwi, der der 2. Präsident
Israels wurde, die Kanaaniter für den Zionismus zu beanspruchen. Er forschte
und fand, dass die Bevölkerung dieses Landes sich seit den frühesten Zeiten
nicht wirklich verändert hat. Die Kanaaniter vermischten sich mit den
Israeliten, wurden Juden und Hellenen, und als das byzantinische Imperium kam,
das damals das Land beherrschte und die christliche Religion annahm, wurden sie
Christen. Nach der arabischen Eroberung wurden sie nach und nach Muslime und
übernahmen die arabische Sprache.
Mit
andern Worten: dasselbe Dorf war kanaanitisch, wurde israelitisch, machte alle
Stadien durch und wurde schließlich arabisch. Heute ist es palästinensisch,
wenn es nicht 1948 dem Erdboden gleich gemacht wurde und durch eine jüdische
Siedlung ersetzt wurde. Während all der Jahrhunderte hat sich die Bevölkerung
nicht verändert. Und viele der Ortsnamen haben sich auch nicht geändert. Jeder
neue Eroberer brachte einen neuen Glauben und eine neue Elite mit sich, aber
die Bevölkerung hat sich kaum verändert. Kein Eroberer war daran interessiert, die
Bevölkerung zu vertreiben, die ihn mit Nahrung und mit Einkünften versorgte.
Nach Meinung von Ben-Zwi waren die palästinensischen Araber die wirklichen
Nachkommen der alten Israeliten. Aber als der israelisch-palästinensische
Konflikt in Gang kam, wurde diese Theorie vergessen.
Vor
kurzem nahmen einige Palästinenser eine ziemlich ähnliche Theorie an. Mit
derselben historischen Logik behaupteten sie, die palästinensischen Araber
seien die Nachkommen der alten Kanaaniter und deshalb „seien sie die Ersten“,
noch vor den Kindern Israels aus biblischen Zeiten. Es war die zionistische
Eroberung, die zum ersten Mal die Zusammensetzung der Bevölkerung radikal
veränderte.
Die
Kanaaniter und die alten Israeliten sprachen verschiedene Dialekte derselben
semitischen Sprache, die heute Hebräisch genannt wird. Dann wurde aramäisch die
Sprache des Landes und später arabisch. In der letzten Woche wurden neue
Forschungsergebnisse veröffentlicht, die aufzeigen, dass der volkstümlich
syrisch-palästinensisch-arabische Dialekt viele Wörter einschließt, die ihren
Ursprung im alten Hebräisch und Aramäischen hat und die nicht im
volkstümlichen Dialekt anderer
arabischer Länder vorkommen. Eindeutig wurden sie vor vielen Jahrhunderten vom
einheimischen arabischen Dialekt absorbiert. Es sind hauptsächlich
landwirtschaftliche Wörter des Alltags. Und es ist logisch, zu vermuten, dass
sie von der arabischen Sprache aus dem Aramäischen übernommen wurde, die sie ja
ersetzte.
WARUM
IST das so wichtig? Wie wirkt sich dies auf den Akko-Streit
aus?
Vor
vielen Jahren las ich ein Buch des amerikanisch-arabischen Gelehrten Philip Hitti, einem maronitischen Christen aus dem Libanon, mit
dem Titel: „Die Geschichte Syriens“. Entsprechend der arabisch historischen
Ansicht gehören zu Syrien (A-Sham im klassischen Arabisch) auch die heutigen
Länder Libanon, Jordanien, Israel, die Westbank und der Gazastreifen.
Das
Buch machte einen nachhaltigen Eindruck auf mich. Es beschreibt die Geschichte
dieses Landes von den prähistorischen Zeiten bis zur Gegenwart mit all seinen
Stadien wie eine fortlaufende Geschichte, die die Kanaaniter und Israeliten,
die Phönizier und Philister, die Aramäer und Araber, die Kreuzfahrer und die
Mameluken, Türken und Briten, Muslime, Christen und Juden einschließt. Sie gehören
alle zur Geschichte des Landes, alle hatten zu seiner Kultur, der Sprache und
Architektur, den Palästen und Festungen, Synagogen und Kirchen, Moscheen und
Friedhöfen beigetragen.
Jeder,
der über Frieden und Versöhnung nachdenkt, sollte dieses Bild aufnehmen.
WELCHE
ART von Geschichte wird heutzutage in den Schulen beider Völker gelehrt? Beide
haben eine mobile Geschichte, die durch die Landschaft wandert.
Die
jüdische Geschichte beginnt mit „Abraham, unserm Vater“ im heutigen Irak und
dem Exodus aus Ägypten, der Übergabe der Zehn Gebote auf dem Berg Sinai im
heutigen Ägypten, der Eroberung Kanaans, König David und den andern Legenden in
der Bibel, die als authentische Geschichte gelehrt wird. Es geht weiter im Land
mit der Zerstörung des Tempels durch Titus und
mit dem Bar-Kochba-Aufstand gegen die Römer,
dann geht es ins „Exil“ und konzentriert
sich dabei immer auf die Reihe von Vertreibungen und Verfolgungen. Schließlich
die Rückkehr in das Land mit den frühen zionistischen Siedlern.
Die
Geschichte ignoriert nicht nur alles, was sich vor der israelitischen Ära im
Land abspielte, sondern auch was während der 1747 Jahre zwischen dem Bar-Kochba-Aufstand im Jahr 135 n.Chr. und dem Beginn der
vor-zionistischen Besiedlung um 1882 geschehen ist. Ein Schüler aus dem
israelischen Bildungssystem weiß nahezu nichts über das Land während dieses
Zeitraumes.
Auf
der arabischen Seite ist es kaum besser. Das palästinensisch-arabische
Geschichtsbild beginnt auf der arabischen Halbinsel mit der Ankunft des
Propheten Mohammed und erwähnt noch die
Ära der Jahilija (Ignoranz) davor und die Ankunft der
muslimischen Eroberer in Palästina. Was sich vor 635 n. Chr. hier ereignet hat,
ist von keinem Interesse.
Die
Schüler beider Bildungssysteme - des jüdisch-israelischen und des
palästinensisch-arabischen – wachsen mit völlig verschiedenen historischen
Narrativen auf.
ICH
TRÄUME von dem Tag, an dem in allen Schulen dieses Landes in Israel und
Palästina Juden und Araber nicht nur beide Narrative lernen, sondern die
komplette Geschichte des Landes, die alle Perioden und Kulturen einschließt.
Sie
werden z.B. lernen, dass als die Kreuzfahrer das Land eroberten, Muslime und
Juden zusammen gegen die grausamen Eroberer standen und gemeinsam massakriert
wurden. Sie werden lernen, dass in Haifa die einheimischen Juden die
Verteidigung anführten und für ihren Heldenmut bewundert wurden, bis sie Seite
an Seite mit den Muslimen ermordet wurden. Solch eine Identifizierung mit der
Geschichte des Landes kann als solide Basis für eine Versöhnung zwischen den
Völkern dienen.
1995
schrieb ich – vom unvergesslichen Feisal al-Husseini inspiriert – im Auftrag von Gush
Shalom ein Manifest für Jerusalem. In einem seiner
Absätze heißt es: „Unser Jerusalem ist ein Mosaik aller Kulturen, aller
Religionen und aller Perioden, die die Stadt bereichert haben, von der ältesten
Antike bis zum heutigen Tag – Kanaaniter und Jebusiter
und Israeliten, Juden und Griechen, Römer und Byzantiner, Christen und Muslime,
Araber und Mameluken, Ottomanen und Briten, Palästinenser und Israelis. Sie und
alle anderen, die der Stadt ihren Beitrag geleistet haben, haben einen Platz in
der geistigen und physischen Landschaft der Stadt.“
In
dieser Liste fehlen die Kreuzfahrer – und keinesfalls durch einen Irrtum. Sie
waren in unserm ursprünglichen Text. Aber als ich den bekannten arabisch-israelischen
Schriftsteller Emil Habibi fragte, ob er
beim Unterschreiben der erste sein möge, rief er aus: „Ich werde kein Dokument
unterschreiben, das diese abscheulichen Mörder erwähnt!“
Fast
alles, was über Jerusalem gesagt wird, gilt auch für Akko.
Seine Geschichte beginnt in prähistorischen Zeiten und setzt sich bis in die
Gegenwart fort. Und der arabische General Issa Al-Awan
gehört dazu wie der englische Kreuzfahrer Richard Löwenherz und die Irgunkämpfer, die die Gefängnismauern durchbrachen.
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)