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Der Liebhaber des Landes

 

Uri Avnery, 8.8.09

 

EINEN TAG nach dem Sechs-Tage-Krieg kam Amos Kenan in mein Redaktionsbüro. Er stand noch unter Schock. Als Reserveoffizier war er gerade Zeuge der Vertreibung der Bewohner dreier Dörfer in der Latrungegend ( Amwas, Yalu, Beit Nuba) geworden, Männer und Frauen, alte Leute und Kinder, die in der brennenden Junihitze zu Fuß in Richtung Ramallah - Dutzende Kilometer entfernt - vertrieben wurden. Es erinnerte ihn an Holocaust-Szenen.

Ich bat ihn, sich hinzusetzen und sofort einen Augenzeugenbericht zu schreiben. Ich eilte zur Knesset (deren Mitglied ich damals war) und gab den Bericht Ministerpräsident Levy Eshkol und mehreren Ministern, auch Menachem Begin und Victor Shem-Tov. Aber es war zu spät – die Dörfer waren schon dem Erdboden gleich gemacht. An ihrer Stelle wurde später der Kanada-Park geschaffen – mit Hilfe eben dieses Landes und zu dessen ewiger Schande.

 

(Ein anderer Augenzeugenbericht über die Zerstörung der Stadt Qalqilia hatte  jedoch positive Auswirkung. Nachdem ich den Bericht den Ministern übergeben hatte, wurde die Zerstörung gestoppt, und die zerstörten Stadtteile wurden sogar wieder aufgebaut.)

 

Kenans Bericht ist ein menschliches und literarisches Dokument. Es sagt viel über seinen Autor aus, der in dieser Woche starb. Amos Kenan war ein moralisch denkender und handelnder Mensch.

 

 

DAS LAND war das Zentrum seines geistigen Universums. Es war der Fokus seiner Weltanschauung, seines Lebenswerkes und seiner Handlungen. Ich zögere nicht, wenn ich sage, er war der Liebhaber dieses Landes.

 

In seiner Jugend gehörte er eine Zeit lang zur „Kanaaniter“-Gruppe und nahm einige ihrer Ideen auf. Aber er kam zu vollkommen anderen Schlussfolgerungen als ihr Gründer, der Dichter Yonathan Ratosh, der allein schon den Gedanken an  eine arabische Nation leugnete, wie auch die Existenz des palästinensisch-arabischen Volkes. Kenan war – wie ich – davon überzeugt, dass die Zukunft Israels mit der Zukunft Palästinas verbunden ist, weil das gemeinsame Land eine Partnerschaft der beiden Völker erfordert.

 

(Eine persönliche Bemerkung: wenn eine Person  einen Nachruf auf jemanden hält, erwähnt sie zwangsläufig auch sich selbst – was häufig Stirnrunzeln hervorruft. Ich denke jedoch, dass dies kaum vermieden werden kann; denn der Trauerredner redet über den Verstorbenen so, wie er ihn kannte, und so wird die Persönlichkeit des Verstorbenen im Spiegel des Nachrufredners reflektiert. Man möge mir dies, wenn möglich, verzeihen.)

 

DAS ERSTE  Mal traf ich Kenan während des Krieges 1948 bei einem Fronturlaub. In der Wohnung eines Freundes stieß ich mit einem jungen Soldaten zusammen (der vier volle Jahre jünger war als ich), der gerade auch auf Urlaub war.

 

Er war im Lande geboren, war also ein Sabre. Er war ein Mitglied der linken Hashomer- Hatzair- Jugendbewegung („Junge Wächter“), deren idealistisch-moralische Ideologie sicherlich dazu beitrug, seinen Charakter zu formen. Wie viele linke Jugendliche jener Zeit schloss er sich der Lehi (Sterngruppe), einer Untergrundgruppe, an, die damals eine pro-sowjetische Orientierung hatte. Mit der Gründung des Staates wurden alle Lehi-Mitglieder in die neue israelische Armee übernommen.

 

Zuvor hatte er an der brutalen Irgun- und Lehi-Aktion in Deir Yasin teilgenommen. Er hatte damit  immer ein Problem. Er behauptete, es sei kein Massaker beabsichtigt gewesen oder aber dass es überhaupt nicht stattgefunden habe. Er bestand darauf, dass der Kommandeur getötet worden sei, und es so keine Kontrolle mehr über die Kämpfer gegeben habe. Er sei gleich bei Beginn der Aktion verletzt worden, beteuerte er, und habe nicht gesehen, was im weiteren geschah. Ich war von seiner Version nicht vollständig überzeugt.

 

Wir entdeckten, dass wir ähnliche Gedanken über die Zukunft des Staates  hatten, der gerade gegründet worden war. Wir glaubten beide, dass wir nicht nur einen neuen Staat geschaffen hatten, sondern auch eine neue Nation – die Hebräische Nation, die nicht nur ein weiterer Teil der jüdischen Diaspora war, sondern eine ganz neue Entität mit einer neuen Kultur und einem neuen Charakter. Da diese Nation in diesem Lande entstanden war, gehört sie nicht zu Europa oder Amerika, sondern zu der Region, deren geographischer Bestandteil sie ist. Und alle Völker dieser Region sind unsere natürlichen Verbündeten.

 

Auf Grund dieser Einstellung waren wir gegen den 1956er-Krieg, in dem Israel zwei kolonialistischen Regimes diente, die sich bereits die Hände schmutzig gemacht hatten, nämlich dem französischen und dem britischen. Während der Krieg noch andauerte, kam eine Gruppe zusammen und entschied, einen anderen Weg für den Staat zu skizzieren. Wir nannten uns „Semitische Aktion“, und außer Kenan und mir selbst schloss sie den früheren Lehiführer Natan Yellin-Mor, Boaz Evron und andere vernünftige Leute ein. Innerhalb eines Jahres veröffentlichten wir ein Dokument, das wir „Das hebräische Manifest“ nannten. Es hatte mehr als hundert Punkte, die eine revolutionäre, neue Herangehensweise für fast alle Staatsprobleme anbot. Seine Hauptpunkte lauteten: wir sind eine neue Nation, die in diesem Land geboren wurde. Neben dem Staat Israel muss der Staat Palästina entstehen. Die beiden Staaten sollten eine Art Föderation bilden, die auch Jordanien einschließen könnte. Die arabischen Bürger Israels müssen gleichberechtigte Partner im Staat Israel sein, in dem es eine totale Trennung von Staat und Religion geben wird.

 

Da zu jener Zeit alle palästinensischen Gebiete unter Besatzung standen ( unter jordanischer die Westbank, unter ägyptischer der Gazastreifen), wollten wir, dass Israel die Palästinenser mit Geld, Waffen und einer Radiostation ausrüstet, um ihnen zu helfen, sich zu erheben und selbst zu befreien. Israel war natürlich mit dem jordanischen Regime verbunden.

 

Unmittelbar nach dem 1967er, dem Sechstage-Krieg, gründete dieselbe Gruppe eine Organisation, die sich „Israel-Palästina-Föderation“ nannte, und in der auch Kenan eine Rolle spielte. Wir befürworteten die sofortige Gründung des Staates Palästina in allen palästinensischen Gebieten, die wir gerade erobert hatten und die Gründung einer Föderation von Israel und Palästina. Viele, die damals dagegen waren, erkennen jetzt, dass es der richtige Gedanke zum richtigen Zeitpunkt war.

 

Als ich 1974 der erste „zionistische“ Israeli war, der geheime Kontakte mit der PLO-Führung knüpfte, versuchte ich in Übereinstimmung mit ihr, in Israel eine öffentliche Körperschaft zu gründen, um diese Kontakte öffentlich führen zu können. Mehrere Treffen wurden gehalten, viele Diskussionen durchgeführt. Es kam aber leider nichts dabei heraus. Also entschieden wir uns, den Stier bei den Hörnern zu packen: wir veröffentlichten einen Aufruf zur Schaffung einer Organisation für einen  israelisch-palästinensischen Frieden. Der Aufruf trug drei Unterschriften: Yossi Amitai, Amos Kenan und meine. (Tatsächlich war Kenan zu dieser Zeit in Frankreich, aber bevor er wegflog, gab er mir die Erlaubnis, seinen Namen unter jedes Dokument zu setzen, das ich für richtig hielt).

 

Dieser Aufruf führte zur Entstehung des „Israelischen Rats für einen israelisch-palästinensischen Frieden“, dessen Gründungsmanifest von einhundert Persönlichkeiten unterzeichnet wurde, einschließlich des Generals Matti Peled, Eliyahu Eljashar (dem Präsidenten der sephardischen Gemeinde), Lova Eliav, David Shaham, Alex Massis, Amnon Zichroni und Oberst Meir Pa’il.)

 

In jener Zeit flirtete auch Ariel Sharon mit uns. Es war nach dem Yom Kippurkrieg und der „Schlacht der Generäle“ (einer Schlacht der Generäle untereinander), und nachdem Sharon den von ihm selbst geschaffenen Likud verlassen hatte. Er wollte Kenan, mich und -so vermute ich- Yossi Sarid für seine Interessen einspannen. Er organisierte in seiner Wohnung eine private Ausstellung mit Kenans Gemälden und bat mich, ein Treffen mit ihm und Arafat zu arrangieren. Seine Idee war, eine neue Partei zu gründen, die "die Besten der Linken und der Rechten" anziehen würde. Amos gab der Partei den Namen seiner ältesten Tochter Shlomzion, aber  schließlich gründete Sharon eine rechte Partei, und nach ihrem schlechten Abschneiden bei den Wahlen von 1977 schloss er sich wieder dem Likud an.

 

 

DER POLITISCHE Aspekt – so bedeutsam dieser war,  war nur eine von Kenans vielen Seiten. Er war ein Satiriker, Schriftsteller, Dichter, Maler, Bildhauer, Gärtner, Koch und wer weiß noch alles, ein wirkliches Allroundtalent. Aber alle diese Seiten hatten einen gemeinsamen Nenner: das Land.

 

Auf dem Dach seines Hauses kultivierte er ein Dutzend heimischer Kräuter und Gewürze, die er beim Kochen benützte, eine Fähigkeit, auf die er ungewöhnlich stolz war. Als Schriftsteller und Dichter leistete er einen wichtigen Beitrag zur Schaffung der neuen hebräischen Sprache: eine lokale Sprache, die Sprache der Sabras, einfach und präzise, weit entfernt von der Sprache der Mishna ( die jüdische heilige Schrift, auf der der Talmud basiert) und der Sprache des berühmten Schriftstellers S.I. Agnon, die sogar von jungen Schriftstellern wie Moshe Shamir nachgeahmt wurde. Kenan schrieb seine Aufsätze, Bücher, Bühnenstücke in umgangssprachlichem und dennoch perfektem Hebräisch.

 

Sein Stern ging auf, als er für "Haaretz" eine humorvolle Kolumne namens „Usi und Co.“ zu schreiben begann. Er konnte die tiefsten Wahrheiten in wenigen Zeilen einer beißenden Satire ausdrücken. Einige davon sind hebräische Klassiker geworden.

 

Im Juli 1952 veröffentlichte der religiöse Minister für Transportwesen David Zwi Pinkas Gesetze, die praktisch die Verwendung des Autos am Shabbat verbot. Viele von uns demonstrierten im Zentrum von Tel Aviv gegen diesen religiösen Zwang. Aber Amos ging weiter: er legte eine Bombe vor die Tür von Pinkas’ Wohnung. Er wurde auf frischer Tat ertappt und angeklagt. Er weigerte sich hartnäckig zu reden und wurde schließlich aus Mangel an Beweisen frei gesprochen.

 

Als der Chef der Tel-Aviver Polizei persönlich kam, um ihn im Gefängnis zu verhören, und ihm anbot, mit ihm „von Mann zu Mann“ zu reden, entgegnete Kenan mit ruhiger Stimme: „Heute ist schönes Wetter.“

 

Als Folge dieser Affäre wurde Kenan gezwungen, Haaretz zu verlassen, und ich hieß ihn mit offenen Armen bei Haolam Hazeh willkommen. Er lieferte unserem Magazin einige der feinsten Artikel, die wir je veröffentlichten – einige davon sind fast prophetisch.

 

Auf seine Bitte hin schickten wir ihn nach Paris. Dort fand er bald seinen Platz bei der intellektuellen Elite und lebte dort zusammen  mit der jungen französischen Schriftstellerin Christiane Rochefort, die ihr erstes Buch über ihn schrieb („Le Repos du Guerrier“), das mit Brigitte Bardot verfilmt wurde. Dort verliebte er sich auch in eine Besucherin aus Israel, eine junge Frau, die er in seinem Kohlenkeller beherbergte, und heiratete sie. Nurit Gertz war das genaue Gegenteil von ihm und war – so glaube ich – das einzige menschliche Wesen, das in der Lage war, mit ihm länger zusammen zu leben.

 

Als ich das erste Mal nach Frankreich kam, arrangierte Kenan für mich ein Treffen mit Jean-Paul Sartre, der unsere Ideen über einen israelisch-palästinensischen Frieden mochte. Ich erinnere mich an die Worte, die er mir auf Französisch sagte: „Monsieur, sie wälzen einen Stein von meinem Herzen. Ich kann die Politik der israelischen Regierung nicht gut heißen, aber ich will sie auch nicht verurteilen, denn ich will mich nicht im selben Lager mit den Antisemiten wiederfinden, die ich verabscheue. Wenn Sie aus Israel kommen und einen neuen Weg vorschlagen, bin ich glücklich.“

 

Danach gingen Amos und ich zu einer großen Demonstration gegen den Krieg in Algerien, und die Bullen schlugen uns beide brutal zusammen.

 

 

KENAN WAR ein streitbarer Mensch, der sehr schnell zornig und aggressiv wurde. Er hatte eine Neigung, genau die zu verletzen, die ihn liebten. „Es gibt nur einen Weg, sich nicht mit dir zu streiten,“ sagte ich einmal zu ihm, „nämlich alle Verbindungen zu kappen und nicht mehr mit Dir zu sprechen."

 

Das letzte Mal, als wir uns stritten, war, als Gush Shalom zu einem Boykott der Produkte aus den Siedlungen aufrief. Kenan weigerte sich, sich uns anzuschließen, angeblich, weil wir die Golansiedlungen mit einschlossen.  „Ich will den Golanwein nicht aufgeben,“ sagte er halb im Scherz. Aber er hasste die Siedlungen, nicht nur weil sie gebaut wurden, um den Frieden mit den Palästinensern zu zerstören, sondern weil sie in seinen Augen auch allgemein die Landschaft verunstalteten. Er erzählte mir einmal, was er empfand, als er von einem Flugzeug aus das Land betrachten konnte: "Der Staat Israel hat das Land Israel zerstört."

 

In ihrem fast biographischen Buch über ihren Mann, das vor noch nicht allzu langer Zeit auf Hebräisch erschien, erzählt Nurit Gertz über seine schwierige Kindheit, und dass sein Vater eine ganze Weile in einer psychiatrischen Einrichtung verbracht hatte. Ich habe den Verdacht, dass er sein ganzes Leben lang im Stillen Angst hatte, dass er die Krankheit geerbt haben könnte. Das könnte seine Anfälle von Alkoholismus erklären. Zum Glück hatte er eine außergewöhnliche Mutter, Frau Levin, eine kleine, energische und resolute Frau, die Amos und seine beiden jüngeren Brüder praktisch alleine groß zog.

 

Die wenigen Male, in denen ich bemerkte, dass seine Gesichtszüge weich wurden, waren Momente in denen er Nurit oder ihre beiden Töchter Schlomzion und Rona ansah. Ich vergebe ihm alle beleidigenden und zornigen Angriffe, weil sein kreatives Talent um Vieles bedeutsamer war.

 

 

ER VERSCHWAND schon vor einigen Jahren von der Bildfläche, weil er ein Opfer der Alzheimer Krankheit geworden war. Tatsächlich verblasste er zusammen mit eben jener Kultur, die er mit geschaffen hatte.

 

Die hebräische Kultur, die in den frühen 40ern aufkam, starb in den 60ern. Die schweren Verluste unserer Generation im 1948er Krieg und die Masseneinwanderung, die den Staat in seinen ersten Jahren überflutete, bedeutete den Tod dieser einzigartigen Kultur und ihren Ersatz durch die banale  israelische Kultur, wie wir sie jetzt kennen .

 

Amos Kenans Tod markiert das Ende des letzten Vertreters jener hebräischen Kultur.

 

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz vom Verfasser autorisiert)