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Weimar wiederholt sich
Uri Avnery, 19.11. 2011
„DU UND dein Weimar!“ rief
einmal einer meiner Freunde ärgerlich aus, „nur weil du selbst den Zusammenbruch
der Weimarer Republik als Kind miterlebt hast, siehst du hinter jeder Ecke
Weimar.“
Die Anklage war nicht ganz
unberechtigt. 1960, während des Eichmann-Prozesses schrieb ich ein Buch über den
Zusammenbruch der deutschen Republik. Sein letztes Kapitel hieß: „Es kann auch
hier geschehen.“ Seit damals komme ich immer wieder einmal auf diese Warnung
zurück.
Aber jetzt bin ich nicht
mehr allein damit. Während der letzten paar Wochen tauchte der Name Weimar in
den Artikeln vieler Kommentare auf.
Er sollte in riesigen
Buchstaben an die Wände gesprüht
werden.
ISRAELS DEMOKRATIE steht
unter Belagerung. Keiner kann dies ignorieren.
Es ist das Hauptthema in der Knesset, die den Angriff anführt, und in den
Medien, die sich unter den Opfern
befinden.
Dies geschieht nicht in den
besetzten Gebieten. Dort hat es nie eine Demokratie gegeben. Besatzung ist das
direkte Gegenteil von Demokratie: eine Verweigerung aller Menschenrechte, des
Rechts auf Leben, Freiheit, Bewegung, fairen Prozess und
freie Meinungsäußerung, geschweige denn nationale Rechte.
Nein, ich meine das
eigentliche Israel, das Israel innerhalb der Grünen Linie, die „einzige
Demokratie im Nahen Osten“.
Die Angreifer sind
Mitglieder von Binjamin Netanjahus Regierungskoalition, die halbfaschistische
und offen faschistische Elemente einschließt. Netanjahu selbst versucht, diskret
im Hintergrund zu bleiben, aber es kann keinen Zweifel geben, dass jedes
einzelne Detail mit ihm abgesprochen wurde.
In den ersten zwei Jahren
dieser Koalition waren die Angriffe sporadisch. Doch jetzt sind sie bestimmt,
systematisch und koordiniert.
Im Augenblick greifen die
antidemokratischen Kräfte auf breiter Front an. Die drei Hauptpfeiler der
Demokratie – die Gerichte, die Medien und die Menschenrechtsorganisationen –
sind unter gleichzeitigem, tödlichem Angriff. (Denk an Weimar!)
DER OBERSTE GERICHTSHOF ist
die Bastion der Demokratie. Israel hat keine Verfassung, die Knessetmehrheit
ist total hemmungslos, nur das Gericht kann (wenn auch zögerlich) die
Annahme antidemokratischer Gesetze verhindern.
Ich bin kein blinder
Bewunderer des Gerichtes. In den besetzten Gebieten ist er ein Arm der
Besatzung, konzentriert auf die „nationale Sicherheit“, die die schlimmsten
Ereignisse billigt.
Nur in seltenen Fällen hat
es sich gegen die schlimmsten Praktiken ausgesprochen. Aber im
eigentlichen Israel ist es ein hartnäckiger Verteidiger der Bürgerrechte.
Die extremen Rechten in der
Knesset sind entschlossen, dem ein Ende zu setzen. Ihr Mann an der Spitze ist
der Justizminister, der von Avigdor Lieberman ernannt wurde. Er
ist dabei, eine Reihe von skandalösen Gesetzesvorlagen ad hominem
durchzuboxen. Eine von ihnen ist dafür
bestimmt, die Zusammensetzung des öffentlichen Komitees, das die Richter wählt,
zu verändern - und zwar mit der unverschleierten Absicht, die Ernennung eines
besonderen Richters vom rechten Flügel ins Oberste Gericht zu bringen.
Eine andere Gesetzesvorlage
hat den unverhüllten Zweck, die bestehenden Gerichtsregeln zu verändern, um
einen gewissen „konservativen“ Richter auf den Stuhl des Gerichtspräsidenten zu
bringen. Der erklärte Zweck ist, die Herrschaft eines unabhängigen Gerichtes
aufzuheben, das wagt, wenn auch nur in seltenen Fällen, die
„verfassungswidrigen“ Gesetze, die von der Knessetmehrheit erlassen wurden, zu
blockieren. Sie wollen, dass das Gericht „den Willen des Volkes vertritt“ (Man
erinnere sich an Weimar!).
Bis jetzt – seit den ersten
Tagen des Staates – wurden die Richter praktisch von einer Kooptation
gewählt. Das hat 63 Jahre lang perfekt funktioniert. Um Israels Oberstes
Gericht beneiden uns viele Länder. Jetzt ist dieses System in tödlicher Gefahr.
Eine andere Gesetzesvorlage
hätte die Kandidaten für das Oberste Gericht
gezwungen, sich vor einem
Knesset-Komitee einem Verhör auszusetzen, um seine Zustimmung zu erhalten. Dem
Komitee sitzt ein anderer Politiker, der von Liebermann ernannt worden war, vor.
Im letzten Augenblick wurde diese Vorlage von Netanjahu selbst zurückgehalten.
Er hatte schon seine Billigung gegeben, schrak dann aber vor der allgemeinen
Verurteilung zurück – und steht nun als Verteidiger der Demokratie da.
Der Vorstand des
juristischen Komitees der Knesset, der wie gesagt von Liebermann ernannt wurde,
ist dabei, diese Gesetze übereilt durch sein Komitee zu bringen – im Widerspruch
zu den üblichen Prozeduren. In einer stürmischen Sitzung in dieser Woche hat ihn
ein weibliches Mitglied einen „groben Rowdy“ genannt. Er erwiderte: „Du bist
nicht einmal eine Kuh.“
Ein minimaler Zweck dieser
Gesetzesvorlagen ist, die Richter einzuschüchtern, damit sie die anderen
erlassenen antidemokratischen Gesetzesvorlagen, nicht mit einem Veto
belegen. Man sagt, dass die Auswirkungen schon zu spüren sind.
In mehreren berühmten
Fällen missachtet die Regierung offen die Order des Obersten Gerichthofes,
besonders was die Evakuierung von Siedlungsaußenposten betrifft, die auf Land
gebaut wurden, das palästinensischen Bauern gehört.
Wer wird das Gericht
verteidigen? Der frühere Gerichtspräsident Aharon Barak, der von den Rechten
wegen seines bahnbrechenden „juristischen Aktivismus’“ gehasst wurde,
sagte mir einmal: „Das Gericht hat keine Divisionen. Seine Macht beruht allein
auf der Unterstützung der
Öffentlichkeit.“
DER ANGRIFF auf die Medien
begann schon früher, als der amerikanische Kasinobaron Sheldon Adelson, ein
naher Freund von Netanjahu, begann, ein tägliches Boulevardblatt herauszugeben
zu dem ausdrücklichen Zweck, Netanjahu zu helfen. Es wird kostenlos verteilt und
ist jetzt die am weitesten verbreitete Zeitung im Land, die nun die Existenz
aller anderen bedroht (sie aber
auch besticht, indem er ihnen riesige Druckaufträge
gibt.) Geld ist kein Problem. Riesige Summen werden ausgegeben.
Und das war nur der Anfang.
1965 hat die
Laborpartei-Regierung ein neues Verleumdungsgesetz herausgegeben (das
buchstäblich das „Gesetz der bösen Zunge“ genannt wurde), das klar dafür
bestimmt war, dem Massennachrichten Magazin „Haolam Hazeh“, das ich herausgab,
einen Maulkorb anzulegen. Es hatte in Israel den Enthüllungsjournalismus
eingeführt. Ich wandte mich an die Öffentlichkeit, damit sie mich aus Protest in
die Knesset schicken solle, und 1,5% der Wähler waren wütend genug, um dies zu
tun.
Nun will die Bande vom
rechten Flügel in der Knesset dieses Anti-Mediengesetz
noch verschärfen.
Die neue Änderung
gewährt jedem bis zu 100 000
Euro Schadenersatz, der behauptet, durch die Medien geschädigt worden zu sein,
ohne dass er überhaupt Schaden nachweisen muss. Für Zeitungen und TV-Kanäle, die
sich schon jetzt in einer prekären finanziellen
Situation befinden, bedeutet dies, dass sie besser alle investigativen
Berichte und jede Kritik an
einflussreichen Politikern und Magnaten aufgeben.
Die neuen Winde werden schon gespürt.
Journalisten und TV-Editoren werden eingeschüchtert. In dieser Woche gab ein
Programm im Kanal 10, der als der liberalste angesehen wird, fünf Minuten lang
ein Lied zum Besten, das den verstorbenen „Rabbi“ Meir Kahane glorifizierte
Er war vom Obersten Gericht als Faschist bezeichnet worden, und seine
Organisation wurde verboten, weil sie befürwortete, was das Gericht „Nürnberger
Gesetze“ nannte. Ein bekennendes Mitglied dieser Organisation, das noch lebt und
unter einem anderen Namen läuft, ist heute ein lautstarkes Mitglied in der
Knesset. (Man denke an Weimar!)
Eine Säuberung unter
TV-Journalisten ist schon im Gange. Ein Direktor nach dem anderen von TV-Kanälen
wird von bekannten Rechten ersetzt. Es wird von der Regierung offen zugegeben,
dass die Regierung die Schließung von Kanal 10
erzwingen würde (durch Abrufung ausstehender Schulden)
wenn nicht ein bestimmter Journalist gefeuert würde. Obwohl er sonst ein
Typ des Establishments ist, hat er Netanjahu geärgert, als er seinen und seiner
Frau luxuriösen Reisestil auf Regierungskosten öffentlich gemacht hatte.
ZUR SELBEN Zeit werden
Menschenrechts- und Friedensgruppen schwer angegriffen. Die Knessetbande liefert
eine Gesetzesvorlage nach der anderen, um sie zum Schweigen zu bringen.
Eine Gesetzesvorlage ist
schon unterwegs; sie verbietet Menschenrechtorganisationen, Spenden von
ausländischen Regierungen und
„staatsähnlichen Organisationen“ wie die UN und die EU anzunehmen. Rechte
Organisationen empfangen natürlich riesige Summen Geld von
jüdisch-amerikanischen Milliardären, die die Siedlungen sponsern (die auch
indirekt vom US- Finanzministerium finanziert werden, da sog.
„Wohltätigkeitsorganisationen“ der Siedlungen von Steuern befreit sind).
Das Gesetz, das auf
Organisationen und Individuen riesige
Entschädigungssummen legt, die einen Boykott auf Siedlungsprodukte
befürworten, ist schon in Kraft. Die Anhörung eines Gesuches wegen Unterdrückung
politischen Protestes, das von Gush Shalom dem Obersten Gericht vorgelegt wurde,
ist vom Gericht immer und immer wieder vertagt worden.
Der parlamentarische
Terrorismus wird von zunehmender Gewalt der faschistischen Banden aus den
Siedlungen begleitet. Diese SA-ähnlichen Banden nennen ihre Aktionen
„Preisschild“. Gewöhnlich reagieren sie auf Einzelfälle der Armee, die ein paar
„illegale“ Gebäude in einer Siedlung demolieren, indem sie ein benachbartes
palästinensisches Dorf angreifen, in einer Moschee Feuer legen oder das
ausführen, was man nur als Pogrom bezeichnen kann. (Man denke an Weimar!)
MARTIN NIEMÖLLER, ein
deutscher U-Boot-Kapitän und später pazifistischer Pastor, der von den Nazis in
ein KZ geworfen wurde, prägte die berühmte Klage: „Als die Nazis die Kommunisten
abholten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist. Als sie die Juden
holten, habe ich geschwiegen, ich bin ja kein Jude. Als sie die Sozialdemokraten
einsperrten, habe ich nicht
protestiert. Ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie
mich holten, gab es keinen
mehr, der protestierte.“
Wovon wir jetzt Zeugen
werden, ist kein isolierter Angriff auf das eine oder andere Menschenrecht – was
wir sehen, ist ein allgemeiner Angriff auf die Demokratie als solche. Vielleicht
können nur Leute, die eine faschistische Diktatur erlebten, voll und ganz
realisieren, was das bedeutet.
Natürlich bedeuten
Ähnlichkeiten zwischen dem Zusammenbruch der deutschen Republik und dem Prozess
im heutigen Israel nicht, dass der weitere Verlauf derselbe sein muss. Der
Nationalsozialismus war auf viele Weisen einzigartig. Das Ende der wirklichen
Demokratie kann durch verschiedene Systeme erfolgen. Es gibt viele Modelle:
Ceaucescu, Franco, Putin.
Sicherlich gibt es keine
Ähnlichkeiten zwischen der kleinen deutschen Stadt Weimar und Tel Aviv. Außer
vielleicht der Tatsache, dass viele Häuser in Tel Aviv zur
Bauhaus-Architekturschule gehören – die aus Weimar kam.
Weimar war einmal ein kulturelles Zentrum, wo Genies wie Goethe und Schiller ihre Meisterwerke schrieben. Die Deutsche Republik, die 1919 nach dem 1. Weltkrieg gegründet wurde, bekam diesen Namen, weil die Nationalversammlung, die ihre sehr progressive/fortschrittliche Verfassung verkündete, hier stattfand.
Nach diesem Vorbild könnte
der gefährdete demokratische Staat Israel, dessen Unabhängigkeits-erklärung 1948
hier in Tel Aviv unterzeichnet wurde, Tel Aviver Republik genannt werden.
Wir sind noch nicht im Jahr
1932. Die Sturmsoldaten ziehen noch
nicht durch unsere Straßen. Wir haben noch etwas Zeit,
die Öffentlichkeit gegen die lauernde Gefahr zu mobilisieren. Die
Demonstration, die in dieser Woche in Tel Aviv gegen die Entdemokratisierung
Israels stattfinden wird, mag ein Wendepunkt sein.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)