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Sehen wir uns die
Apartheid genauer an
Uri Avnery
26.10 .2013
IST ISRAEL ein
Apartheidstaat? Diese Frage taucht immer wieder auf, ja, sie erhebt alle paar
Monate ihren Kopf.
Der Terminus
„Apartheid“ wird oft zu reinen Propagandazwecken benützt. Apartheid, wie
Rassismus und Faschismus, sind Ausdrücke, die man
benützt, um seinen Widersacher zu verunglimpfen.
Aber
„Apartheid“ ist auch ein Ausdruck mit genauem Inhalt.
Er wird für ein besonderes Regime benützt.
Mit einem anderen Regime gleich zu setzen, mag
akkurat sein, teilweise korrekt oder
nur falsch. Genauso sind die Schlussfolgerungen, die man aus dem
Vergleich zieht.
VOR KURZEM
hatte ich die Möglichkeit, über dieses Thema mit einem Experten zu diskutieren,
der während der ganzen Apartheidzeit in Südafrika lebte. Ich lernte eine Menge
darüber.
Ist Israel ein
Apartheidstaat? Nun, da muss man
erst die Frage stellen: welches Israel?
Das eigentliche Israel innerhalb der grünen Linie oder das israelische
Besatzungsregime in den besetzten palästinensischen Gebieten oder beides
zusammen?
Kommen wir
darauf später zurück.
DIE
UNTERSCHIEDE zwischen den beiden sind offensichtlich.
Als erstes
gründete sich das SA-Regime
wie seine Nazi-Mentoren auf
rassischer Überlegenheit. Rassismus war
ihr offizieller Glaube. Die zionistische Ideologie Israels ist
– in diesem Sinne - nicht
rassistisch, sondern gründet sich eher
auf eine Mischung von Nationalismus und Religion. Obwohl die frühen Zionisten
meistens Atheisten waren.
Die Gründer
des Zionismus wiesen immer Rassismus-Anklagen als
absurd zurück. Es sind die Antisemiten, die Rassisten sind. Zionisten wären
liberal, sozialistisch, progressiv. (Soweit ich weiß, hat nur ein einziger
zionistischer Führer offen den
Rassismus angenommen: Arthur Ruppin, der deutsche Jude, der der Vater der
zionistischen Siedlungen im frühen 20. Jahrhundert war.
Dann sind da
die Zahlen. In Südafrika war eine riesige schwarze Mehrheit. Die Weißen waren
etwa ein Fünftel der Bevölkerung.
Im
eigentlichen Israel stellten die arabischen Bürger eine Minderheit von etwa 20%
dar Im ganzen Gebiet unter israelischer
Herrschaft zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan ist etwa die Zahl der Juden
und Araber fast gleich Die Araber mögen jetzt schon eine kleine Mehrheit
darstellen – genaue Zahlen sind kaum zu bekommen. Diese arabische Mehrheit wird
langsam größer werden.
Außerdem war
die weiße Wirtschaft in SA total von der
Arbeit der Schwarzen abhängig. Zu Beginn der israelischen Besatzung der Westbank
und des Gazastreifens 1967 hörte das zionistische Bestehen auf „jüdischer
Arbeit“ auf und billige arabische
Arbeiter fluteten aus den besetzten Gebieten herein. Doch mit Beginn der ersten
Intifada wurde diese Entwicklung
mit überraschender Geschwindigkeit gestoppt. Viele ausländische Arbeiter wurden
importiert: Ost-Europäer und Chinesen für das Bauen, Thais für die
Landwirtschaft, Philippinen für persönliche Pflege, etc.
Eine der
Hauptaufgaben der israelischen Armee ist jetzt, Palästinenser daran zu hindern,
die Grüne Linie nach hier illegal zu überqueren, um dort Arbeit zu suchen.
Dies ist ein
fundamentaler Unterschied zwischen den beiden
Fällen, zwischen SA und Israel.
Ein Unterschied, der eine tiefe Auswirkung auf mögliche Lösungen hat.
Trauriger
Weise sind Palästinenser der Westbank
weithin beim Aufbauen der Siedlungen beschäftigt und arbeiten dort in
Betrieben, die meine Freunde und ich zu boykottieren aufriefen. Die
wirtschaftliche Not der Bevölkerung treibt sie in diese perverse Situation.
Im
eigentlichen Israel beschweren sich arabische Bürger über Diskriminierung, was
ihre Beschäftigung in jüdischen Unternehmen und Regierungsbüros einschränkt. Die
Behörden versprechen regelmäßig, diese Art von Diskriminierung aufzuheben.
Im großen
Ganzen ist die Situation der arabischen Minderheit innerhalb des eigentlichen
Israel wie die vieler nationaler Minderheiten in Europa und anderswo. Sie
genießen Gleichheit nach dem Gesetz, haben Stimmrecht
für die Knesset, sind durch sehr lebendige eigene Parteien vertreten, aber die
Araber leiden praktisch auf vielen Gebieten unter Diskriminierung. Dies
Apartheid zu nennen, würde äußerst
falsch sein,
ICH DACHTE
immer, dass einer der großen Unterschiede der wäre, dass das israelische Regime
in den besetzten Gebieten palästinensisches Land für jüdische Siedlungen
enteignet. Dies schließt privaten Besitz und sog. „Regierungsländereien“ mit
ein.
In
ottomanischen Zeiten wurden Landreserven der Städte und Dörfer im Namen des
Sultans registriert. Unter britischer Herrschaft wurden diese Ländereien
Regierungseigentum und dies blieb auch unter der jordanischen Herrschaft so. Als
Israel die Westbank 1967 besetzte, wurden diese Ländereien vom Besatzungsregime
übernommen und den Siedlern überlassen, und so wurde den palästinensischen
Städten und Dörfern die Landreserven genommen, die sie für ihr natürliches
Wachstum benötigen.
Übrigens
wurden schon nach dem 1948er Krieg große Strecken arabisches Land in
Israel enteignet und eine
ansehnliche Reihe Gesetze wurden
für diesen Zweck erlassen – nicht
nur der Besitz der „Abwesenden“( Flüchtlingen), sondern auch das Land der
Araber, die zu „Present Absentees“ erklärt wurden
- ein absurder Ausdruck für die Leute, die Israel
während des Krieges nicht verlassen hatten, sondern nur ihr Dorf.
Und das „Regierungsland“ in dem Teil Palästinas, das Israel wurde, diente
auch dazu, die Massen neuer jüdischer Immigranten aufzunehmen, die ins Land
strömten.
Ich dachte
immer, dass wir in dieser Hinsicht schlimmer als SA wären. Mein Freund sagte,
die Apartheid-Regierung tat aber genau dasselbe, siedelte die Schwarzen in
gewissen Gebieten an und riss sich das Land untern den Nagel, Land nur für
Weiße.
ICH DACHTE
immer, dass in SA alle Weißen engagiert
wären, gegen die Schwarzen zu kämpfen. Doch scheint es, als ob beide Seiten tief
gespalten waren.
Auf der weißen
Seite waren die Afrikaander (Buren), Nachkommen holländischer Siedler, die einen
holländischen Dialekt sprachen, den man Afrikaans nennt und
die Briten, die Englisch sprachen. Dies waren zwei Gemeinschaften von
etwa gleicher Größe, die sich nicht ausstehen konnten. Die Briten verachteten
die Afrikaander, die Afrikaaner hassten die Briten. Tatsächlich nannte sich die
Apartheidpartei „Nationalisten“, hauptsächlich, weil sie sich selbst als eine
Nation ansah, die im Lande geboren war, während die Briten
noch sehr mit ihrem Heimatland verbunden war. (Mir wurde erzählt, dass
die Afrikaander die Briten „salzige
Penisse“ nannten, weil sie mit einem Bein in England standen und mit dem andern
in SA, so dass ihre Genitalien in den Ozean tauchten.)
Die schwarze
Bevölkerung war auch in viele Gemeinschaften und Stämme
geteilt, die einander nicht mochten. Das machte es schwierig, sie für den
Befreiungskampf zu vereinigen.
DIE SITUATION
in der Westbank ist in vieler Art und Weise
dem Apartheid-regime ähnlich.
Seit Oslo ist
die Westbank in die Zonen A,B, und C getrennt, in denen Israel auf verschiedene
Weise seine Herrschaft ausübt. In SA waren es viele verschiedene Bantustans
(„Homelands“)mit verschiedenen Regimen. Einige waren offiziell voll autonom,
andere waren es nur zum Teil. Alle waren Enklaven, umgeben von Gebieten der
Weißen.
In gewisser
Hinsicht war die Situation in SA mindestens offiziell besser als in der
Westbank. Nach dem SA-Gesetzwaren die Schwarzen mindestens offiziell „getrennt
aber gleich“. Das Hauptgesetz galt allen. In unseren besetzten Gebieten ist dies
nicht der Fall, wo die lokale Bevölkerung dem militärischen Gesetz unterworfen
ist, das ziemlich willkürlich ist, während ihre Siedlernachbarn dem
demokratischen zivilen israelischen Gesetz unterworfen sind.
EINE STRITTIGE
Frage ist, wie weit – wenn überhaupt – half der internationale Boykott der
Niederlage des Apartheidregimes in SA?
Als ich
Erzbischof Desmond Tutu fragte, antwortete er, dass die Wirkung vor allem
moralisch war. Er hob die Moral der schwarzen Gemeinde. Mein neuer Freund
sagte dasselbe – aber meinte die Weißen. Ihre Moral wurde unterminiert.
Wie weit half
es zum Sieg? Mein Freund schätzte
etwa 30%.
Der
wirtschaftliche Effekt war geringer. Der psychologische Effekt war weit
bedeutender. Die Weißen betrachteten sich als Vorhut des Westens im Kampf gegen
den Kommunismus. Die Undankbarkeit des Westens erstaunte sie.(Sie würden
mit ganzem Herzen das Versprechen von Theodor Herzl, dem Gründer der
zionistischen Bewegung, gutheißen,
dass der zukünftige jüdische Staat
die Vorhut Europas und eine Mauer gegen die asiatische bzw. arabische
Barbarei sei.)
Es war kein
Zufall, dass die Apartheid ein paar
Jahre nach dem Kollaps der Sowjetunion zusammenbrach. Die US verlor das
Interesse. Kann dies bei unsern Beziehungen mit den US auch geschehen?
(Übrigens
junge südafrikanische Schwarze, die vom
Afrikanischen National-Kongress in die Sowjetunion zum Studium gesandt
wurden, waren vom Rassismus schockiert,
den sie dort antrafen. „sie sind schlimmer als die Weißen“ kommentierten sie.)
DAS GEBIET, in
dem der Boykott die Apartheidleute am meisten traf, war der Sport. Kricket ist
eine nationale Manie in SA. Als sie
nicht länger an internationalen Wettbewerben teilnehmen konnten, fühlten sie den
Schlag. Ihr Selbstvertrauen war gebrochen.
Ihre
internationale Isolierung veranlasste sie, intensiver über die Moral der
Apartheid nachzudenken. Immer mehr
wurde dies hinterfragt. Bei den letzten Wahlen nach dem Abkommen
stimmten viele Weiße, einschließlich vieler Afrikaander für ein Ende der
Apartheid.
Wird ein
Boykott Israels dieselbe Wirkung haben? Ich bezweifle es; Juden sind daran
gewöhnt, isoliert zu sein. „Die ganze Welt ist gegen uns,“ ist für sie eine
natürliche Situation. In der Tat habe ich manchmal das Gefühl, dass viele Juden
sich nicht wohl fühlen, wenn die Situation anders wäre.
Ein sehr
großer Unterschied zwischen den beiden Fällen ist, dass alle Südafrikaner –
schwarz, weiß, farbig oder indisch – einen Staat wünschten. Da gab es keine, die
die Teilung wollten (David Ben-Gurion, ein großer Anhänger einer Teilung wie in
Palästina, schlug einmal vor, alle Weißen in SA in der Kap-Region zu
konzentrieren und dort einen weißen
Staat im Israelstil zu errichten. Keiner war daran interessiert. Einem ähnlichen
Vorschlag Ben Gurions für Algerien ging es genauso.)
In unserm Fall
wünscht die große Mehrheit auf jeder Seite, in einem eigenen Staat zu leben. Die
Idee eines vereinigten Landes, in dem hebräisch sprechende Israelis und arabisch
sprechende Palästinenser als
Gleiche neben einander leben, in derselben Armee dienen und dieselben Steuern
zahlen, erscheint ihnen ganz und gar nicht attraktiv.
APARTHEID
WURDE von den Schwarzen selbst überwunden. Keine versteckte
kolonialistische Haltung kann diese Tatsache tilgen.
Der
Massenstreik der afrikanischen Arbeiter, von denen die weiße Wirtschaft abhing,
machte die Position der herrschenden Weißen unmöglich. Der Massenaufstand der
Schwarzen, der unglaublich physischen
Mut bewies, war entscheidend. Am Ende befreiten sich die Schwarzen selbst.
Und noch ein
Unterschied: In SA gab es einen Nelson Mandela und einen Frederik de Klerk.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)