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Uri Avnery, 13.6.2015
BENJAMIN
NETANJAHU kratzte sich am Kopf. Seine ganze Karriere gründet sich auf
Panikmache. Da Juden seit Jahrtausenden in
Angst lebten, ist dies einfach, sich darauf zu berufen. Sie sind ( geradezu)
süchtig.
Seit
Jahren hat Netanjahu seine Karriere auf die Angst vor der iranischen Bombe
gebaut. Die Iraner sind ein verrücktes Volk. Wenn sie erst mal die Bombe
erlangt haben, werden sie sie auf Israel fallen lassen, selbst, wenn Israels
Atombombe bei einem zweiten Schlag den Iran mit seiner jahrtausendealten Kultur
sicher vernichten wird.
Aber
Netanjahu sah mit wachsender Sorge, dass die iranische Bedrohung ihre Schärfe
verlor. Die US haben anscheinend ein Abkommen mit dem Iran erreicht, das den Bau
einer Bombe verhindert. Sogar Sheldon der Große konnte das Abkommen nicht
verhindern. Was nun?
Er
schaute sich um. Da tauchten drei Buchstaben auf: BDS. Sie bedeuten Boykott,
Divestment und Sanktionen, eine weltweite Kampagne, um Israel
wegen seiner 48 Jahre langen
Unterwerfung des palästinensischen Volkes zu boykottieren.
Ah, hier
haben wir eine wirkliche Bedrohung, schlimmer als die Bombe. Ein zweiter
Holocaust droht. Das tapfere kleine
Israel steht vor der kompletten üblen
antisemitischen Welt.
Stimmt,
bis jetzt hat Israel keinem wirklichen Schaden gelitten. BDS
ist eher eine symbolische Geste als eine wirkliche wirtschaftliche Waffe.
Aber wer zählt nach? Die Legionen von Antisemiten sind auf dem Vormarsch.
Wer wird
uns retten? Bibi, der Große,
natürlich.
EHRLICHE
OFFENLEGUNG: meine Freunde und ich
initiierten den ersten Boykott, der gegen die Produkte der Siedlungen gerichtet
war.
Unsere
Friedensbewegung Gush Shalom
überlegte, wie man die Ausbreitung der Siedlungen anhalten könne – von denen
jede eine Landmine auf dem Weg zum Frieden ist. Der Hauptgrund für den
Siedlungsbau ist, die Zwei-Staaten-Lösung zu verhindern – die einzige
Friedenslösung, die es gibt.
Unsere
Untersuchungen machten eine große Runde zu den Siedlungen und registrierten die
Unternehmungen/Firmen, die von den Werbemaßnahmen der Regierung in eine Falle
gelockt wurden, um
Einkaufsmöglichkeiten jenseits der grünen Linie zu eröffnen. Wir
veröffentlichten die Liste und ermutigten die Kunden, diese Produkte nicht
einzukaufen.
Ein
Boykott ist ein demokratisches Mittel zu protestieren. Es geschieht ohne Gewalt.
Jede Person kann dies privat ausprobieren, ohne sich einer Gruppe anzuschließen
oder sich in der Öffentlichkeit zu zeigen.
Unser
Hauptziel war es, dass die israelische Öffentlichkeit klar zwischen israelischen
Waren und denen aus den Siedlungen in den besetzten Gebieten unterscheiden
könne. Im März 1997 hielten wir eine Pressekonferenz, um die Kampagne
anzukündigen. Es war ein einmaliges Ereignis. Ich hatte
schon Pressekonferenzen
abgehalten, die voller Journalisten waren – z.B.
nach meinem ersten Treffen mit Yassir Arafat im belagerten West-Beirut.
Ich hatte Pressekonferenzen mit wenigen Besuchern gehalten. Aber diese hier war
wirklich besonders: kein einziger israelischer Journalist
zeigte sich.
Doch die
Idee verbreitete sich. Ich weiß nicht, wie viele tausend Israelis die Produkte
der Siedlungen im Augenblick boykottieren.
Doch
waren wir von der Haltung der EU-Behörden aufgebracht , die
die Siedlungen anprangerten, während sie in der Praxis ihre Produkte
mit Zoll /Steuerfreibeträgen subventionierten wie reale Waren aus Israel.
Meine Kollegen und ich gingen nach Brüssel, um zu protestieren. Von höflichen
Bürokraten wurde uns gesagt, dass Deutschland und andere
jeden Schritt in Richtung Siedlungsboykott behinderten.
Schließlich bewegten sich die Europäer, doch sehr langsam.
Sie verlangen jetzt, dass die Produkte der Siedlungen klar gekennzeichnet
werden.
DIE
BDS-Bewegung hat eine sehr andere Agenda. Sie wollen den Staat Israel als
solchen boykottieren.
Ich sehe
dies immer als großen strategischen Irrtum an. Statt die Siedlungen zu isolieren
und sie von den durchschnittlichen Israelis zu trennen, treibt ein allgemeiner
Boykott alle Israelis in die Arme der Siedler. Es weckt wieder uralte Ängste.
Vor einer allgemeinen Gefahr zu stehen, vereinigt die Juden.
Netanjahu könnte sich nichts Besseres wünschen. Er reitet jetzt auf der Welle
jüdischer Reaktionen. Jeden Tag gibt es Schlagzeilen über einen anderen Erfolg
der Boykottbewegung und jeder
Erfolg ist ein Pluspunkt für Netanjahu.
Es ist
auch ein Pluspunkt für seinen Gegner, Omar al-Barghouti, den palästinensischen
Organisator von BDS. In Palästina
gibt es viele Barghoutis. Es ist eine große Familie, die in
mehreren Dörfern nördlich von Jerusalem prominent ist.
Der
berühmteste ist Marwan al-Barghouti, der zu mehrmals lebenslänglich verurteilt
worden ist, weil er die Fatah-Jugendbewegung
leitete. Er wurde nicht
dafür beschuldigt, an „terroristischen“ Akten teilgenommen zu haben, sondern für
seine Führungsrolle als Verantwortlicher für die Organisation . Tatsächlich
waren wir Partner beim Organisieren mehrerer gewaltfreier Protestdemos gegen die
Besatzung.
Als er
vor Gericht angeklagt wurde, protestierten wir im Gerichtsgebäude. Einer meiner
Kollegen verlor bei dem sich ergebenden Kampf mit den gewalttätigen
Gerichtswärtern dabei einen Zehennagel. Marwan ist noch immer im Gefängnis, und
viele Palästinenser betrachten ihn (trotzdem) als potentiellen Erben von Mahmoud
Abbas.
Ein
anderer Barghouti ist Mustafa, der sehr liebenswürdige Führer
einer linken Partei, der gegen die Präsidentschaft der Palästinensischen
Behörde von Abbas sich stark machte . Wir trafen einander (mehrfach)und standen
bei verschiedenen Demonstrationen gegen die Mauer der Armee gegenüber.
Omar
Barghouti , der Führer der BDS-Bewegung, war Student der Universität von Tel
Aviv. Er verlangt die freie
Rückkehr aller palästinensischen Flüchtlinge, Gleichheit
für die palästinensischen Bürger Israels und natürlich ein Ende der
Besatzung.
Doch BDS
ist keine hoch organisierte weltweite Organisation.
Sie ist eher eine Handelsmarke. Gruppen von Studenten, Künstlern und
andere machen spontan mit
und schließen sich dem Kampf für die palästinensische Befreiung an.
Hier und da versuchen, ein paar wirkliche Antisemiten sich ihnen
anzuschließen. Aber für Netanjahu sind sie alle Antisemiten.
VON
ANFANG an fürchteten wir, der Boykott Israels habe – im Unterschied zum Boykott
der Siedlungen die durchschnittlich
jüdische Bevölkerung mit den
Siedlern unter der Führung von Netanjahu vereinigt.
Das
Vaterland ist in Gefahr. „Nationale Einheit!“ ist die Order des Tages. „Der
Oppositionsführer“ Yitzhak Herzog
eilt voraus, um Netanjahu zu unterstützen, wie es fast alle andern Parteien
taten
Israels
Oberster Gerichtshof, ein
ängstlicher Schatten seines Vorgängers, hat schon darüber verfügt,
ein Aufruf zu einem Boykott
Israels, sei ein Verbrechen einschließlich der Aufrufe, die Siedlungen zu
boykottieren.
Fast
jeden Tag erreichen Boykotts Schlagzeilen. Der Biss von „Orange“, dem
französischen Zeitungsriesen, hatte sich zuerst dem Boykott angeschlossen, hat
sich dann aber schnell gedreht und trat zu einer Pilgerreise der Reue nach
Israel an. Studentenorganisationen und professionelle Gruppen in Amerika und
Europa nehmen den Boykott an. Die EU verlangt
jetzt energisch, dass die Siedlungsprodukte
gekennzeichnet werden.
Netanjahu ist glücklich. Er ruft die Weltjudenheit auf, den Kampf gegen diese
antisemitische Schandtat aufzunehmen. Der Besitzer von Netanjahu, der
Multi-Milliardär und Kasinomogul Sheldon Adelson hat einen Kriegsrat reicher
Juden nach Las Vegas einberufen. Sein Gegenspieler Pro-Labor Multi-Milliardär
Haim Saban hat sich ihm angeschlossen. Selbst die Täter der „Weisen von Zion“
hätten das nicht für möglich
gehalten-
ALS
KOMISCHER Unterstützer wetteifert ein anderer Kasino-Besitzer
um die Schlagzeilen. Er ist ein viel, viel kleinerer Operator, der nicht
mit Adelson verglichen werden kann. Er ist das neue Knesset-Mitglied Oren
Chazan, die Nummer 30 auf der Likudwahlliste, der letzte, der noch dazukam. Eine
TV-Denkschrift hat behauptet, er wäre der Besitzer eines Kasinos in Bulgarien,
der seinen Kunden Prostituierte liefert und
harte Drogen benützt. Er ist schon
als stellvertretender Knessetsprecher gewählt worden. Der Sprecher ist
jetzt vorübergehend von den
Knessetplenum-Sitzungen suspendiert worden.
Die
beiden Kasinobesitzer, der große und der kleine, beherrschen die Nachrichten.
Das ist ziemlich bizarr in einem Land, in dem Kasinos verboten sind, und wo
heimliche Kasinobesucher regelmäßig
verhaftet werden.
Nun, das
Leben ist wie ein Roulettespiel. Und das Leben in Israel ist es sogar noch mehr.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser ….