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Der bizarre Fall von Bashar
Uri
Avnery, 1. Juli 2017
CONAN DOYLE,
der Schöpfer der Legende von Sherlock Holmes würde seine Geschichte über diesen
Vorfall mit „Der bizarre Fall von Bashar al-Assad“ überschrieben haben.
Und er
ist bizarr.
Es
handelt sich um die bösen Taten von Bashar al-Assad, dem syrischen Diktator, der
sein eigenes Volk mit Sarin, einem Nervengas, bombardiert
und so unmittelbar den Tod der Opfer verursacht hat.
Wie
jeder in aller Welt hörte ich von dieser schändlichen Tat nur wenige Stunden,
nachdem sie geschah. Wie jeder andere war ich schockiert. Doch …. .
DOCH BIN
ich ein professioneller investigativer-Journalist. 40 Jahre lang meines Lebens
war ich der Chefredakteur eines
investigativen Wochen-Magazins, das fast alle größeren Skandale Israels während
dieser Jahre aufgedeckt hat. Ich habe nie einen größeren Beleidigungsprozess
verloren; in der Tat bin ich überhaupt selten
verklagt worden. Ich erwähne dies nicht, um mich damit zu rühmen, sondern
um einige Autorität dem zu leihen, was ich jetzt sagen will.
In
meiner Zeit habe ich mich entschieden, Tausende von investigativen Artikeln zu
veröffentlichen, einschließlich einiger, die sich um die bedeutendsten Leute in
Israel handeln. Weniger bekannt ist, dass ich mich auch entschieden habe, viele
Hunderte andere nicht zu veröffentlichen, bei denen mir die notwendige
Glaubwürdigkeit fehlte.
Wie
entschied ich das? Nun als erstes fragte ich nach dem Beweis. Wo ist der
Hinweis, das Indiz? Wo sind die Zeugen? Gibt es eine schriftliche Dokumentation?
Aber da
war immer etwas, das nicht definiert werden konnte.
Außer Zeugen und Dokumenten gab es etwas
im Inneren des Redakteurs, das ihm oder ihr sagt, warte, da stimmt etwas nicht.
Etwas fehlt. Etwas das nicht dazu passt.
Es ist
ein Gefühl. Man nenne es eine innere Stimme. Eine Art Intuition. Eine Warnung,
die dir sagt, die Minute, in der du über
diesen Fall zum ersten Mal hörst: Vorsicht, untersuche es
noch einmal.
Genau
dies erlebte ich, als ich am 4. April zum ersten Mal hörte, Bashar al-Assad hat
Khan Sheikhoun mit Nervengas bombardiert.
Meine
innere Stimme flüsterte: warte. Da stimmt etwas nicht. Das riecht faul.
ZU ALLERERST,
es war zu schnell. Nur wenige Stunden nach dem Vorfall wusste jeder, das war
Bashar, der dies tat.
Natürlich war es Bashar! Ein Beweis ist nicht nötig. Man muss keine Zeit
verschwenden, um dies zu untersuchen. Wer soll es denn außer Bashar sein?
Nun, da
gibt es eine Menge Kandidaten. Der Krieg in Syrien ist nicht zweiseitig, nicht
einmal drei- oder vierseitig. Es ist fast unmöglich, die Seiten zu zählen.
Hier ist
Bashar, der Diktator, und seine Verbündeten: die islamische Republik des
Iran und die Partei Gottes (Hisb-Allah) im Libanon, beides Schiiten. Da
ist Russland, ein enger Unterstützer. Und die US, der weit entfernte Feind, er
unterstützt ein halbes Dutzend (wer
zählt sie?) lokale Milizen: da sind kurdische Milizen und natürlich Daesh (oder
ISIS oder IS), der islamische Staat Irak und
al-Sham (AL-Sham ist der arabische Name für Groß-Syrien).
Dies ist
kein ordentlicher Krieg einer Koalition gegen eine andere Koalition. Jeder
kämpft mit jemand anderen gegen jemand anderen. Amerikaner und Russen mit Bashar
gegen Daesh. Amerikaner und Kurden gegen Bashar und die Russen. Die
„Rebellen“-Milizen gegen einander und gegen Bashar und den Iran. usw.
(Irgendwo ist auch Israel, aber pst!)
Wie
konnte jemand in diesem bizarren Schlachtfeld innerhalb Minuten des
Giftgasangriffes sagen, dass es Bashar war, der dies tat?
Politische Logik zeigt nicht in diese Richtung. Seit einiger Zeit ist Bashar
Sieger gewesen. Er hatte überhaupt keinen Grund, so etwas zu tun, das seine
Verbündeten ärgert, besonders die Russen.
DIE ERSTE
Frage, die Sherlock Holmes stellen würde, ist: „Was ist das Motiv? Wer wird
etwas gewinnen?
Bashar
hat gar kein Motiv. Er kann dadurch, dass er seine Bürger mit
Giftgas-bombardiert, nur verlieren.
Es sei
denn, er ist verrückt. Und nichts deutet darauf hin. Im Gegenteil. Er scheint in
voller Kontrolle seiner Sinne zu sein. Sogar normaler als Donald Trump.
Ich
liebe Diktatoren nicht. Ich mag auch Bashar al-Assad nicht, ein Diktator und der
Sohn eines Diktators (Assad bedeutet übrigens Löwe)
Aber ich verstehe, wo er ist.
Bis lang
nach dem 1. Weltkrieg war der Libanon ein Teil des syrischen Staates. Beide
Länder sind ein Mischmasch von Sekten und Völkern. Im Libanon sind es
Maronitische Christen, Melkitische Christen, Griechische Katholiken, Römische
Katholiken, Drusen, Sunnitische Muslime, Schiitische Muslime und
verschiedene andere. Die Juden haben es meistens verlassen.
All
diese existieren auch in Syrien, zusätzlich noch Kurden und die Alawiten, die
Nachfolger von Ali, der Muslim
gewesen sein mag oder nicht (das hängt von dem ab, der redet).
Syrien wird auch durch die
Städte geteilt, die einander hassen: Damaskus, die politische und religiöse
Hauptstadt und Aleppo, die
wirtschaftliche Hauptstadt, mit verschiedenen Städten – Homs, Hamat, Latakia -
zwischendrin. Der größte Teil des Landes
besteht aus Wüste.
Nach
vielen Bürgerkriegen fanden beide Länder verschiedene Lösungen. Im Libanon
stimmten sie in ein nationales Abkommen überein, nach dem der Präsident immer
ein Maronit ist und der Ministerpräsident immer ein sunnitischer Muslim, der
Kommandeur der Armee immer ein Druse und der Vorsitzende des Parlamentes, ein
machtloser Job, immer ein Schiite (bis Hisbollah waren die Schiiten auf der
niedrigsten Stufe).
In
Syrien, einem viel gewalttätigeren Ort, fanden sie eine andere Lösung, eine Art
abgestimmter Diktatur. Der Diktator
kommt aus der am wenigsten mächtigen Sekte, den Alawiten (Bibel-Leser werden
sich daran erinnern, dass, als die Israeliten ihren ersten König wählten, sie
Saul nahmen, ein Mitglied des kleinsten Stammes).
Deshalb
herrscht Bashar weiter. Die verschiedenen Sekten und Lokalitäten fürchten sich
vor einander. Sie brauchen einen Diktator.
WAS WEISS
Donald Trump über diese Komplikationen? Nun, nichts.
Er war
von den Bildern der Opfer des Gasangriffs tief geschockt. Frauen, Kinder,
wunderschöne Babies! Deshalb entschied er auf der Stelle, Bashar durch das
Bombardieren eines seiner Flugplätze zu strafen.
Nachdem
er sich entschieden hatte, rief er seine Generäle.
Sie waren zu schwach, um gegen
ihn zu stimmen. Sie wussten, dass Bashar nicht darein verwickelt war.
Obwohl sie Feinde sind, arbeiteten die amerikanischen und russischen
Luftstreitkräfte in Syrien eng zusammen (ein weiteres bizarres Detail), um
Unfälle zu vermeiden, die einen 3. Weltkrieg verursachen könnten.
Sie kennen also alle
Luftangriffe. Die syrische Luftwaffe ist Teil dieses Arrangement.
Die
Generäle scheinen die einzigen normalen Leute um Trump zu sein, aber Trump
weigerte sich, auf sie zu hören. Also schossen sie ihre Raketen ab, um ein
syrisches Flugfeld zu zerstören.
Amerika
war begeistert. Alle bedeutenden Anti-Trump-Zeitungen, von der
NY-Times und der Washington Post angeführt, eilten, ihre Bewunderung für
seinen Genius auszudrücken.
Nun
kommt Seymor Hersh, ein
weltbekannter investigativer Berichterstatter, der Mann, der das amerikanische
Massaker in Vietnam und die amerikanischen
Folterkammern im Irak entlarvt hat. Er recherchierte den Vorfall sehr
genau und fand, dass es absolut keinen Beweis gibt und fast keine Möglichkeit,
dass Bashar Nervengas in Khan Sheikhoun anwandte.
Was
geschah als nächstes? Etwas Unglaubliches: alle bekannten
US-Zeitungen, einschließlich der
NY Times und The New Yorker
weigerten sich, dies zu
veröffentlichen. Auch die angesehene
London Review of Books. Am Ende
fand er eine Zuflucht in der
deutschen „Welt am Sonntag“
Für mich
ist dies die wirkliche Geschichte. Man möchte glauben, dass die Welt – und
besonders die „westliche Welt“ -
voll ehrenhafter Zeitungen ist, die gründlich recherchieren und die Wahrheit
veröffentlichen. Das ist nicht so. Sicher, sie lügen
wahrscheinlich nicht bewusst. Aber sie
sind unbewusste Gefangenen von Lügen.
Einige
Wochen nach dem Vorfall in Syrien
interviewte mich eine israelische Radiostation übers Telefon.
Der Interviewer, ein rechter Journalist, fragte mich über Bashars
hinterhältige Anwendung von Giftgas gegen seine eigenen Bürger. Ich antwortete,
dass ich keinen Beweis seiner Verantwortlichkeit gesehen habe.
Der
Interviewer war hörbar geschockt. Er wechselte schnell das Thema. Aber der Ton
seiner Stimme verriet seine
Gedanken: „ Ich wusste immer, dass Avnery ein bisschen verrückt ist, aber jetzt
hat er seinen Verstand völlig verloren“.
Im
Unterschied zum guten alten Sherlock, weiß ich nicht, wer es tat. Vielleicht
Bashar, letzten Endes. Ich weiß nur, dass es dafür absolut keinen Beweis gibt.
(dt.
Ellen Rohlfs; vom Verfasser autorisiert)