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Die
Johnny-Prozedur
Uri Avnery, 18.7.09
WIE
DER Geist von Hamlets Vater lässt uns der böse Geist
des Gaza-Krieges nicht zur Ruhe kommen. In der vergangenen Woche kam er zurück
und störte den Frieden der Verantwortlichen des Staates und der Armee.
„Breaking the Silence“ („Das
Schweigen brechen“), eine Gruppe mutiger früherer Kampfsoldaten, hat einen
Bericht veröffentlicht, der die Zeugenaussagen von 30 Gazakämpfern
veröffentlicht. Ein schwer-verdaulicher Bericht über Aktionen, die man als
Kriegsverbrechen bezeichnen kann.
Die
Generäle nahmen automatisch die Haltung ein, alles zu leugnen. Warum geben die
Soldaten nicht ihre Identität preis, fragen sie unschuldig. Warum verstecken
sie ihre Gesichter bei den Videozeugnissen? Warum halten sie ihre Namen und
Einheiten geheim?
Wie
können wir sicher sein, dass sie keine Schauspieler sind, die einen Text
vorlesen, den Feinde Israels vorbereitet haben? Wie können wir wissen, dass
diese Organisation nicht von Ausländern manipuliert wurde, wer finanziert ihre
Aktionen? Und wie können wir wissen, dass sie nicht aus reiner Boshaftigkeit
lügen?
Man
kann mit einem hebräischen Sprichwort antworten: „ Hier steckt das Gefühl der
Wahrheit drin.“ Jeder, der einmal ein
Kampfsoldat im Krieg - egal in welchem Krieg - war, erkennt sofort die Wahrheit
in diesen Berichten. Jeder von ihnen ist einem Soldaten begegnet, der nicht
ohne ein X auf seinem Gewehr nach Hause kehren wollte, was bedeutete, dass er
wenigstens einen Feind getötet hat. (Solch eine Person erscheint in meinem Buch
„Die Kehrseite der Medaille“, das vor 60 Jahren geschrieben wurde. Und auf
Deutsch als 2. Teil meines Buches „In den Feldern der Philister“, 2005
erschienen ist).
Die
Zeugenaussagen über die Anwendung von weißem Phosphor, über die massive
Bombardierung der Gebäude, über die „Nachbar-Prozedur“, (bei der Zivilisten als
menschliche Schutzschilde gebraucht werden), über das Töten von „allem, das
sich bewegt“, über die Anwendung aller Methoden, die Todesfälle auf unserer
Seite vermeiden – all dies stimmt mit früheren Aussagen über den Gazakrieg überein. Es kann keinen vernünftigen Zweifel über
ihre Authentizität geben. Durch den Bericht erfuhr ich, dass die
„Nachbar-Prozedur“ jetzt „Johnny-Prozedur“ genannt wird. Gott weiß, warum nicht „Ahmed-Prozedur“?
Der
Gipfel an Heuchelei wird von den Generälen mit ihrer Forderung erreicht, dass
die Soldaten sich melden und ihre Beschwerden vor den Armeebehörden aussprechen
sollten, damit die Armee sie über die Dienstwege untersuchen könne.
Zunächst
kennen wir die Farce, wie sich die Armee selbst untersucht.
Zweitens
– und das ist der Hauptpunkt: nur eine Person, die Märtyrer werden will, würde
dies tun. Der Soldat einer Kampfeinheit ist Teil einer fest zusammenhaltenden
Gruppe, die treu zu ihren Kameraden steht und an ihrem höchsten Prinzip
festhält: „Du sollst nicht petzen!“ Wenn er
fragwürdige Taten enthüllt, von denen er Augenzeuge war, wird er als
Verräter angesehen und geächtet. Sein Leben wird zur Hölle. Er weiß, dass all
seine Vorgesetzten, vom Truppenleiter bis herauf zum Divisionskommandeur ihn
verfolgen werden.
Dieser
Aufruf, durch „offizielle Kanäle“ zu gehen, ist eine abscheuliche Methode der
Generäle – der Mitglieder des
Generalstabschefs, der Armeesprecher, Armeeanwälte – um die Diskussion von den
Anklagen selbst auf die Identität der Zeugen abzulenken. Nicht weniger
abscheulich sind die Zinnsoldaten, die „militärische Korrespondenten“ genannt
werden, die mit ihnen zusammenarbeiten.
ABER
BEVOR man die Soldaten anklagt, die die in den Zeugenaussagen beschriebenen
Taten begingen, sollte man fragen, ob die Entscheidung, den Krieg zu beginnen,
nicht selbst schon zum unvermeidlichen Verbrechen führte.
Professor
Assa Kasher, der Vater des
Armee-„Ethik-Kodex’“ und einer der eifrigsten Unterstützer des Gazakrieges, behauptete in einem Aufsatz zu diesem Thema,
dass ein Staat das Recht habe, nur wegen Selbstverteidigung einen Krieg zu
beginnen und nur wenn der Krieg „ ein letzter Ausweg“ ist. „Alle anderen
Alternativen“, um das richtige Ziel zu erreichen, „müssen ausgeschöpft worden
sein“.
Die
offizielle Ursache des Krieges war das Abfeuern der Raketen aus dem
Gazastreifen gegen südisraelische Städte und Dörfer. Natürlich ist es Pflicht
eines jeden Staates, seine Bürger gegen Raketen zu schützen. Aber waren alle
Mittel, um dieses Ziel ohne Krieg zu erreichen, wirklich ausgeschöpft? Kasher antwortet mit einem klaren „Ja“. Sein entscheidendes
Argument ist, dass „es keine Rechtfertigung gibt, von Israel zu verlangen, mit
einer Terrororganisation direkt zu verhandeln, die es nicht anerkennt und sein
Recht zu existieren leugnet“.
Dieses
Argument besteht den Test der Logik nicht. Das Ziel von Verhandlungen war
mutmaßlich nicht die Anerkennung des Staates Israel und sein Existenzrecht (wer
benötigt diese denn?) durch die Hamas, sondern sie dahin zu bringen, mit dem
Abfeuern von Raketen auf israelische Bürger aufzuhören. Bei solchen
Verhandlungen würde die andere Seite wahrscheinlich das Aufheben der Blockade
gegen die Bevölkerung des Gazastreifens und die Öffnung der Versorgungspassagen
verlangt haben. Es ist berechtigt, anzunehmen, dass mit ägyptischer Hilfe solch
ein Abkommen hätte erreicht werden können, sogar einschließlich eines
Gefangenenaustausches.
Doch
diese Vorgehensweise war nicht ausgeschöpft worden, ja, sie wurde nicht einmal
versucht. Die israelische Regierung hat sich unnachgiebig geweigert, mit einer
„terroristischen Organisation“ zu verhandeln, nicht einmal mit der
palästinensischen Einheitsregierung, die kurze Zeit existierte und in der die
Hamas vertreten war.
Deshalb
war die Entscheidung, den Krieg gegen den Gazastreifen mit einer zivilen
Bevölkerung von 1,5 Millionen zu beginnen, nicht gerechtfertigt, auch nach den
Kriterien von Kasher selbst nicht. „Alle alternativen
Vorgehensweisen“ waren nicht ausgeschöpft, ja, tatsächlich nicht einmal
versucht worden.
Aber
wir wissen alle, dass abgesehen von der offiziellen Ursache, es noch eine
inoffizielle gab: die Hamas-Regierung im Gazastreifen zu stürzen. Im Laufe des
Krieges erklärten offizielle Sprecher, dass noch ein „Preisschild“ angehängt
werden müsse – mit andern Worten, Tod und Zerstörung zu verursachen, nicht um
die „Terroristen“ selbst zu treffen, (was fast unmöglich gewesen wäre), sondern
um das Leben der zivilen Bevölkerung in eine Hölle zu verwandeln, um sie dahin
zu bringen, sich zu erheben und die Hamas zu stürzen.
Die
Unmoral dieser Strategie entspricht ihrer Ineffektivität: unsere eigene Erfahrung
hat uns gelehrt, dass solche Methoden die Bevölkerung nur stärken und rund um ihre mutige Führung vereinen.
WAR
ES überhaupt möglich, diesen Krieg zu führen, ohne Kriegsverbrechen zu begehen?
Wenn eine Regierung sich entscheidet, seine regulär bewaffneten Kräfte gegen
eine Guerilla-Organisation zu werfen, die ihrem Wesen nach mitten aus einer
zivilen Bevölkerung kämpft, ist es vollkommen klar, dass der Bevölkerung
schreckliches Leid zugefügt wird. Das Argument, dass das der Bevölkerung
zugefügte Leid und das Töten von mehr als 1000 Männern, Frauen und Kindern
unvermeidbar war, sollte selbst zu dem Schluss führen, dass die Entscheidung,
diesen Krieg zu beginnen, von Anfang an ein schrecklicher Akt war.
Das
Verteidigungsestablishment machte es sich leicht. Die Minister und Generäle
behaupteten einfach, dass sie den palästinensischen und den internationalen
Berichten über Tod und Zerstörung nicht glaubten, und erklärten – wieder in Kashers Worten – sie seien „grundlos und falsch“. Und um
sicher zu gehen, entschieden sie, die UN-Kommission zu boykottieren, die zur Zeit den Krieg und seine Folgen untersucht. Obwohl sie
von dem respektierten südafrikanischen Richter Goldstone geleitet wird, der
Jude und Zionist ist.
Assa Kasher nimmt
eine ähnliche Haltung ein, wenn er sagt: „Jemand, der nicht alle Details einer
Aktion kennt, kann sie nicht in ernst zu nehmender, professioneller und
verantwortlicher Weise beurteilen und sollte das deshalb nicht tun, trotz aller
emotionaler oder politischer Versuchungen“. Er verlangt, dass wir warten, bis
die israelische Armee ihre Untersuchungen abgeschlossen hat, bevor man über die
Angelegenheit spricht.
Wirklich?
Jeder Organisation, die sich selbst untersucht, mangelt es an Glaubwürdigkeit –
erst recht einer hierarchischen Körperschaft wie die der Armee. Außerdem kann
die Armee keine Aussagen von den Hauptaugenzeugen erhalten, von den Bewohnern
des Gazastreifens. Eine Ermittlung, die sich allein auf Aussagen der Täter
gründet und nicht auf die der Opfer ist lächerlich. Jetzt werden sogar die
Zeugenaussagen der Soldaten von „Breaking the Silence“ unberücksichtigt gelassen, weil sie ihre
Identität nicht preis geben können.
IN
EINEM Krieg zwischen einer mächtigen Armee, die mit den raffiniertesten Waffen
der Welt ausgerüstet ist, und einer Guerilla-Organisation, erheben sich einige
grundlegende Fragen. Wie sollten sich Soldaten benehmen, wenn sie mit einem
Ziel konfrontiert sind, das nicht nur aus feindlichen Kämpfern besteht, die sie
töten „dürfen“, sondern auch mit unbewaffneten Zivilisten, die zu töten ihnen
„verboten“ ist?
Kasher zitiert mehrere solcher Situationen. Z.B:
ein Gebäude, in dem sich „Terroristen“ und Nicht-Kämpfer befinden: sollte es
vom Flugzeug aus bombardiert werden, wobei alle getötet werden, oder sollten
Soldaten hineingeschickt werden, die nur Kämpfer töten, aber so ihr Leben
riskieren? Seine Antwort: Es gibt keine Rechtfertigung, das Leben unserer
Soldaten zu riskieren und so das Leben von feindlichen Zivilisten zu retten.
Einem Angriff aus der Luft oder mit Artillerie muss der Vorzug gegeben werden.
Das
beantwortet nicht die Frage über die Anwendung der Luftwaffe, die Hunderte von
Häusern zerstört, genügend weit weg von
unsern Soldaten, sodass sie nicht in Gefahr waren. Es beantwortet auch nicht
die Frage über das Töten einer Menge Rekruten der palästinensischen zivilen
Polizei, die gerade vereidigt werden sollten, und auch nicht über das Töten von
UN-Personal in einem mit Lebensmittel beladenen Konvoi; auch nicht die illegale
Anwendung von weißem Phosphor gegen Zivilisten, wie in den Zeugenaussagen
beschrieben wird und von „Breaking the Silence“ gesammelt wurden, und auch nicht die
Anwendung von Depleted Uranium
und anderen krebserzeugenden Substanzen.
Das
ganze Land war durch die TV-Livesendung Zeuge, wie eine Granate die Wohnung
eines in Israel bekannten Arztes traf
und fast seine ganze Familie auslöschte. Nach Zeugenaussagen palästinensischer
Zivilisten und internationaler Beobachter haben viele solcher Vorfälle
stattgefunden.
Die
israelische Armee war stolz auf ihre Methode, die Bewohner durch Flugblätter,
mit Telefonanrufen und Ähnliches zu warnen, um sie zur Flucht zu bewegen. Aber
jeder weiß – und zu aller erst die Warnenden selbst – ,
dass die Zivilisten, keinen sicheren Ort hatten, an den sie fliehen konnten,
und dass es gar keine klaren und sicheren Fluchtwege gab. Tatsächlich wurden
viele Zivilisten erschossen, als sie zu fliehen versuchten.
WIR
SOLLTEN der schwierigsten moralischen Frage nicht ausweichen: ist es erlaubt,
das Leben unserer Soldaten zu riskieren, um das Leben alter Leute, Frauen und
Kinder des „“Feindes“ zu retten? Die Antwort Asser Kashers,
dem Ideologen der „moralischsten Armee der Welt“, ist eindeutig: es ist absolut
verboten, das Leben der Soldaten zu riskieren. Der wichtigste Satz in seinem
Essay lautet: „Deshalb … muss der Staat dem Leben der Soldaten gegenüber dem
Leben (unbewaffneter) Nachbarn eines Terroristen den Vorzug geben.“
Diese
Worte sollten zwei- oder dreimal gelesen werden, um ihre Bedeutung voll zu
verstehen. Was wird hier tatsächlich gesagt: um Todesfälle unter unsern
Soldaten zu vermeiden, ist es besser,
unbegrenzt feindliche Zivilisten zu töten.
(In
der Rückschau kann man nur froh sein, dass die britischen Soldaten, die gegen
den Irgun und die Sterngruppe kämpften, nicht solch
einen „Ethik Guide“ wie Kasher hatten.)
Dies
ist das Prinzip, das die israelische Armee in den Gazakrieg
führte und - so viel ich weiß - ist dies die neue Doktrin: um den Verlust eines
einzigen unserer Soldaten zu vermeiden, ist es erlaubt, 10, 100 oder gar 1000
feindliche Zivilisten zu töten. Krieg ohne Todesfälle auf unserer Seite. Die
zahlenmäßige Folge davon gibt Zeugnis: mehr als 1000 Menschen wurden im
Gazastreifen getötet, ein oder gar zwei Drittel davon (je nach dem, wen man
fragt) sind Zivilisten, Frauen und Kinder – gegen sechs israelische Soldaten,
die von feindlichem Feuer getötet wurden (Vier weitere wurden durch „friendly“ Feuer getötet, d.h. durch die eigenen
Leute )
Kasher erklärt ausdrücklich, es sei
gerechtfertigt, ein palästinensisches Kind zu töten, das in der Gesellschaft
von hundert „Terroristen“ ist, weil die „Terroristen“ Kinder in Sderot töten könnten. In der Realität war es ein Töten von
hundert Kindern, die in der Gesellschaft eines „Terroristen“ waren.
Wenn
wir dieser Doktrin all ihre Dekorationen nehmen, bleibt ein einfaches Prinzip:
der Staat muss das Leben seiner Soldaten um jeden Preis schützen, ohne
Begrenzungen oder Gesetze. Ein Krieg mit Null Opfern. Das führt notwendigerweise
zu einer Taktik des Tötens jeder Person und der Zerstörung jedes Gebäudes, die
bzw. das eine Gefahr für die Soldaten darstellt und so einen leeren Raum für
die vorrückenden Soldaten schafft.
Es
kann daraus nur eine Schlussfolgerung gezogen werden: jede Entscheidung, einen
Krieg in einem Wohnbaugebiet zu beginnen, ist ein Kriegsverbrechen, und die
Soldaten, die sich gegen dieses Verbrechen erheben, sollten geehrt werden.
Mögen sie gesegnet sein!
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)
Würde
ein israelischer Richter
einen arabischen Dörfler,
Der
einen unbewaffneten jüdischen Dieb
in den Rücken schießt und tötet –
frei lassen?
Der
Fall von Shai Dromi ist ein Warnsignal!
Das
Verhalten von gewalttätigen
und rassistischen Siedlern
In
den besetzten Gebieten
Sickert
ins eigentliche Israel hinein.
Inserat
in Haaretz, am
17.7.09