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Es kann
hier geschehen
Uri Avnery,
16. Juli 2011
VOR JAHREN sagte ich, dass
es in Israel nur zwei Wunder gibt: die hebräische Sprache und die Demokratie.
Hebräisch ist viele
Generationen lang eine tote Sprache gewesen, mehr oder weniger wie Lateinisch,
als es noch in der katholischen Kirche benützt wurde. Dann plötzlich, zusammen
mit dem Auftauchen des Zionismus - aber unabhängig davon - kam sie wieder zum
Leben. Dies geschah mit keiner anderen Sprache.
Theodor Herzl lachte bei
dem Gedanken, dass Juden in Palästina Hebräisch sprechen würden. Er wollte, dass
wir Deutsch sprechen. „Werden sie eine Bahnkarte auf Hebräisch kaufen?“ spottete
er.
Nun, wir kaufen Flugkarten
auf Hebräisch. Wir lesen die Bibel in ihrem originalen Hebräisch und freuen
uns unglaublich darüber.
Abba Eban sagte einmal, wenn König David im Jerusalem von heute zum Leben käme,
dann könnte er die Leute auf der Straße verstehen. Wenn auch mit einiger
Schwierigkeit, weil unsere Sprache korrupt geworden ist wie die meisten
anderen Sprachen.
Auf jeden Fall ist die
Position des Hebräischen sicher. Kleine Kinder und Nobelpreisträger sprechen es.
Das Schicksal des anderen
Wunders ist weit weniger gesichert.
DIE ZUKUNFT – tatsächlich
die Gegenwart – der israelischen Demokratie ist in Zweifel gehüllt..
Sie ist ein Wunder, weil
sie nicht langsam während Generationen wuchs wie in der angelsächsischen
Demokratie. Im jüdischen Stetl gab es keine Demokratie. Auch in der
jüdisch-religiösen Tradition gab es so etwas nicht. Aber die zionistischen
Gründungsväter, meist westliche und mitteleuropäische Juden, strebten nach den
höchsten sozialen Idealen ihrer Zeit.
Ich habe immer warnend
darauf hingewiesen, dass unsere Demokratie sehr dünne und zarte Wurzeln hat und
eine sorgfältige Pflege braucht. Wo kamen die Juden denn her, die Israel
gründeten und hier aufwuchsen. Aus der Diktatur des britischen Hochkommissars,
des russischen Zaren, der Diktatur des Proletariats, des Königs von Marokko, aus
Pilsudskys Polen und ähnlichen Regimen. Diejenigen von uns, die aus
demokratischen Ländern wie der Weimarer Republik oder den USA kamen, waren eine
winzige Minderheit.
Doch den Gründern Israels
gelang es, eine lebendige Demokratie zu errichten – wenigstens bis 1967 -
die keineswegs minderwertig und in gewisser Weise sogar den britischen
und amerikanischen Modellen überlegen war. Wir waren stolz auf sie, und die Welt
bewunderte uns. Die Bezeichnung
„die einzige Demokratie im Nahen Osten“ war kein hohler Propaganda-Slogan.
Einige behaupten, dass mit
der Besetzung der palästinensischen Gebiete, die seit 1967 unter harschem
Militärregime ohne die geringste Spur von Demokratie und Menschenrechten lebten,
diese Situation schon zu einem Ende kam. Aber was immer man darüber denken mag,
Israel hat tatsächlich in seinen Grenzen von vor 1967 bis vor kurzem einen
vernünftigen Rekord gehalten. Für den normalen Bürger war die Demokratie noch
eine Tatsache des Lebens. Selbst Araber , obwohl selbst sehr benachteiligt,
erfreuten sich demokratischer Rechte , die es in keinem arabischen Staat gab.
In dieser Woche wird dies
in Zweifel gezogen. Einige sagen, dieser Zweifel sei nun zerstreut worden
und eine starke Realität habe sich offenbart.
CHARLES BOYCOTT, der Agent
eines englischen Landbesitzers in Irland, hätte sich niemals vorstellen können,
dass er einmal eine Rolle in einem Land spielen würde, das sich Israel nennt,
130 Jahre, nachdem sein Name zu einem weltweiten Symbol geworden war.
Hauptmann Boycott vertrieb
die irischen Pächter, die die Pacht wegen verzweifelter wirtschaftlicher
Schwierigkeiten zu zahlen versäumten. Die Iren reagierten mit einer neuen Waffe:
keiner sprach mit ihm, arbeitete mit ihm, kaufte von ihm. Sein Name wurde ein
Synonym für diese Art von gewaltfreier Aktion.
Die Methode selbst war
schon früher aufgekommen. Die Liste ist lang. Schon 1830 erklärten die „Neger“
in den USA einen Boykott der Produkte, die von Sklaven hergestellt wurden. Die
spätere Bürgerrechtsbewegung begann mit einem Boykott der
Montgomery-Busgesellschaft, bei der die Schwarzen und Weißen getrennt sitzen
mussten. Während der amerikanischen Revolution erklärten die Aufständischen
einen Boykott der britischen Waren. Genau so tat dies später auch Mahatma Gandhi
in Indien.
Amerikanische Juden
boykottierten die Autos des berüchtigten antisemitischen Henry Ford. Juden in
vielen Ländern nahmen am Boykott deutscher Waren unmittelbar, nachdem die Nazis
1933 zur Macht gekommen waren, teil.
Die Chinesen boykottierten
Japan, nachdem diese ihr Land überfallen hatten. Die USA boykottierten die
Olympischen Spiele in Moskau. Menschen mit Gewissen in aller Welt boykottierten
die Waren und die Athleten des Apartheidregimes Südafrikas und halfen so mit, es
auf die Knie zu zwingen.
Alle diese Kampagnen
benützten ein fundamentales demokratisches Recht: jede Person ist berechtigt,
sich zu weigern, bei Leuten einzukaufen, die sie verachtet. Jeder kann sich
weigern, mit seinem Geld Dinge zu unterstützen, die seinen innersten moralischen
Überzeugungen widersprechen.
Es ist dieses Recht, das in
dieser Woche auf den Prüfstand geführt hat.
1997 ERKLÄRTE Gush Shalom
einen Boykott der Produkte aus den Siedlungen in den besetzten
palästinensischen Gebieten. Wir glauben, dass diese Siedlungen, die zum
ausdrücklichen Zweck dorthin errichtet wurden, um die Gründung eines
palästinensischen Staates zu verhindern, die Zukunft Israels gefährden.
Die Pressekonferenz, bei
der wir diesen Schritt ankündigten, wurde von keinem einzigen israelischen
Journalisten besucht. Aber der Boykott kam in Gang. Hunderttausende Israelis
kaufen keine Siedlungsprodukte. Die EU, die ein Handelsabkommen hat, bei dem
Israel praktisch wie ein Mitglied der Union behandelt wird, wurde veranlasst,
die Klausel einzuhalten, dass Produkte aus den Siedlungen von diesen Privilegien
ausgeschlossen sind.
Inzwischen gibt es Hunderte
von Fabriken in den Siedlungen. Sie wurden buchstäblich gezwungen oder verführt,
dort nieder zu lassen, weil das (gestohlene) Land dort viel billiger ist als im
eigentlichen Israel. Sie genossen großzügige Regierungssubventionen und
Steuerbefreiung, und sie können palästinensische Arbeiter für einen lächerlichen
Lohn ausnützen. Die Palästinenser haben keine andere Möglichkeit, ihre Familie
zu unterstützen, als sich bei ihren Unterdrückern zu plagen.
Unser Boykott war u.a.
dafür gedacht, diesen Vorteilen entgegenzuarbeiten. Und tatsächlich haben
mehrere große Unternehmen schon aufgegeben und sind unter Druck ausländischer
Investoren und Käufer umgezogen. Davon alarmiert, befahlen die Siedler ihren
Lakaien in der Knesset, ein Gesetz zu erlassen, das diesem Boykott
entgegenwirkt.
Am letztn Montag wurde das
„Boykott-Gesetz“ erlassen und ließ einen noch nie da gewesenen Sturm im Lande
losbrechen. Schon am Dienstagmorgen reichte Gush Shalom beim Obersten
Gerichtshof ein 22-seitiges Gesuch ein, dieses Gesetz zu annullieren.
DAS „BOYKOTT-GESETZ“ ist
ein sehr kluges Stück Arbeit. Offensichtlich war es nicht von parlamentarischen
Einfallspinseln, die es vorstellten, ausgearbeitet worden, sondern von einigen
sehr juristischen Köpfen
durchdacht, die wahrscheinlich von Casinobaronen und evangelikalen Verrückten in
den USA bezahlt wurden, die die extremen Rechten in Israel unterstützten.
Zunächst ist das Gesetz als
Mittel kaschiert, um gegen die Delegitimierung des Staates Israel in aller Welt
anzukämpfen. Das Gesetz verbietet alle Boykottaufrufe gegen den Staat Israel,
„einschließlich der Gebiete, die unter Israels Kontrolle sind“. Da es kein
Dutzend Israelis gibt, die zu einem Boykott des Staates aufrufen, ist es klar,
dass der wirkliche und einzige Zweck ist, den Siedlungsboykott zu verbieten.
In seinem ersten Entwurf
machte das Gesetz dies zu einer kriminellen Tat. Das würde uns gut passen: wir
wären bereit, dafür ins Gefängnis zu gehen. Aber in seiner endgültigen Form
verhängt es drakonische Sanktionen –
und das ist etwas anderes.
Nach dem Gesetz kann jeder
Siedler, der sich vom Boykott geschädigt fühlt, eine unbegrenzte Kompensation
von jeder Person oder Organisation verlangen, die zum Boykott aufruft – ohne
dass er den tatsächlichen Schaden beweisen muss. Das bedeutet, dass jeder der
300 000 Siedler Millionen von jedem einzelnen Friedensaktivisten fordern kann,
der mit dem Boykottaufruf verbunden ist – womit die ganze Friedensbewegung
zerstört wäre.
WIE WIR in unserem Antrag
beim Obersten Gerichtshof hinwiesen, entspricht das Gesetz nicht der Verfassung.
Israel hat zwar keine offizielle Verfassung, aber mehrere „Grundgesetze“ werden
vom Obersten Gerichtshof als solche angesehen.
Erstens widerspricht das
Gesetz klar dem Grundrecht der freien Meinungsäußerung. Ein Boykottaufruf ist
ein legitimer politischer Akt, soviel wie eine Straßendemonstration, ein
Manifest oder eine Massenpetition.
Zweitens, das Gesetz
widerspricht den Prinzipien der Gleichheit. Das Gesetz wird bei keinem anderen
Boykott , der jetzt in Israel praktiziert wird, angewandt: vom religiösen
Boykott der Läden, die nicht koscheres Fleisch verkaufen (Poster, die dazu
aufrufen, bedecken die Wände in den religiösen Vierteln in Jerusalem und
anderswo), bis zu den kürzlichen, sehr erfolgreichen Boykottaufrufen gegen die
Produzenten von Hüttenkäse wegen ihres hohen Preises. Der Aufruf von rechten
Gruppen, um Künstler zu boykottieren, die nicht in der Armee gedient haben, wird
legal sein, die Erklärung der linken Künstler, dass sie nicht in Siedlungen
auftreten, wird illegal sein.
Da diese und andere
Bestimmungen des Gesetzes klar die Grundgesetze verletzen, veröffentlichte der
Rechtsberater der Knesset in einem ungewöhnlichen Schritt seine Meinung,
dass das Gesetz nicht verfassungsgemäß sei und den „Kern der Demokratie“
untergrabe. Sogar die oberste
juristische Regierungsbehörde, der „Rechtsberater der Regierung“, hat ein
Statement veröffentlicht, das besagt, dass das Gesetz „an der Grenze“ von
Verfassungswidrigkeit sei. Da er vor den Siedlern tödliche Angst hat, fügte er
hinzu, er wolle das Gesetz trotzdem vor Gericht verteidigen. Die Gelegenheit
dafür ist nicht fern: Der Oberste Gerichtshof hat ihm 60 Tage Frist gegeben, um
auf unsere Petition zu antworten.
EINE KLEINE Gruppe von
unbedeutenden Parlamentariern terrorisiert die Mehrheit in der Knesset und kann
jedes Gesetz verabschieden. Die Macht der Siedler ist immens, und die Moderaten
des rechten Flügels fürchten sich berechtigterweise, dass, wenn sie nicht
radikal genug sind, sie vom Likud-Zentralrat, der die Kandidaten der Parteiliste
auswählt, nicht wieder gewählt werden. Dies verursacht eine Wettbewerbsdynamik:
wer kann am radikalsten erscheinen.
Kein Wunder, dass ein anti-demokratisches Gesetz nach dem anderen folgt: ein Gesetz, das arabische Bürger praktisch aus Orten mit weniger als 400 Familien aussperrt. Ein Gesetz, das Pensionsrechte von früheren Knessetmitgliedern wegnimmt, die sich nicht zu polizeilichen Untersuchungen meldeten ( wie Azmi Bishara). Ein Gesetz, das die Staatsbürgerschaft von Leuten nimmt, denen nachgewiesen wird, sie hätten „Terrorismus unterstützt“. Ein Gesetz, das NGOS verpflichtet, Spenden von ausländischen Regierungsinstituten aufzudecken. Ein Gesetz, das Leute, die in der Armee dienten, für zivile Dienstpositionen bevorzugt; (So werden fast alle arabischen Bürger automatisch ausgeschlossen). Ein Gesetz, das jedes Gedenken an die Nakba 1948 (die Vertreibung der arabischen Einwohner aus den von Israel eroberten Gebieten) verbietet. Eine Erweiterung des Gesetzes, das fast ausschließlich arabischen Bürgern verbietet, einen Partner aus den besetzten Gebieten zu heiraten und mit ihm in Israel zu leben.
Bald wird ein Gesetz
erlassen, das NGOs verbietet, Spenden von mehr als 5000 $ aus dem Ausland
anzunehmen, ein Gesetz, das eine Einkommenssteuer von 45% jeder NGO auferlegt,
die nicht speziell von der Regierung ausgenommen wird, ein Gesetz, das
Universitäten, Schulen und Kindergärten zwingt, bei jeder nur möglichen
Gelegenheit die Nationalhymne zu singen; eine Ernennung einer parlamentarischen
Untersuchungskommission , um die finanziellen Ressourcen von linken
Organisationen zu prüfen.
Über allem anderen lauert
die explizite Bedrohung der rechten Fraktionen, den gehassten „liberalen“
Obersten Gerichthof anzugreifen, um ihm sein Recht zu nehmen, die
verfassungswidrigen Gesetze zu streichen und die Ernennungen der Richter des
Obersten Gerichtes unter
Regierungskontrolle zu stellen.
VOR 51 JAHREN, am Vorabend
des Eichmannprozesses schrieb ich ein Buch
über Nazi-Deutschland. Im letzten Kapitel fragte ich: „Kann dies auch
hier geschehen?“
Meine Antwortet lautet
immer noch: Ja, es kann.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)