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Der Gipfel von
Kitsch
Uri Avnery, 5.12.09
ES
WÄRE der Inbegriff von politischem Kitsch
gewesen.
Benyamin
Netanyahu und zehn seiner Minister sollten eine gemeinsame Kabinettsitzung mit
Angela Merkel und zehn ihrer Minister aus ihrem deutschen Kabinett halten.
Wofür?
Um Deutschlands Liebe zu Israel zu demonstrieren.
Im
letzten Augenblick meldete Netanyahu, er
sei krank; das Treffen wurde gestrichen. Ich nehme an, dass Netanyahu darüber
nicht sehr traurig war. Wozu brauchte er dies? Die israelische Regierung erhält
sowieso alles aus Deutschland, was sie sich wünscht.
Ein
deutscher Journalist fragte mich danach
wie man in Israel auf den Besuch
des neuen Außenministers Guido Westerwelle reagiert habe. Ich musste ihn
enttäuschen. Die meisten Israelis haben noch nicht einmal von ihm gehört. Noch ein deutscher Würdenträger hat Blumen in Yad Vashem hingelegt. Noch ein
Verkehrsstau in Jerusalem.
Wie
es oft geschieht, gibt es keine Gleichheit bei dieser Liebe. Die deutsche Braut
liebt den israelischen Bräutigam viel
mehr als er sie.
VON
ZEIT zu Zeit muss das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel neu überdacht
werden.
Die
Deutschen vergessen den Holocaust nicht. Sie sind ständig mit diesem Thema beschäftigt. Es erscheint auf TV-Programmen, bei
kulturellen und künstlerischen Veranstaltungen.
So
sollte es auch sein. Dieses monströse Verbrechen darf nicht aus ihrem
Gedächtnis verdrängt werden. Junge Deutsche müssen sich immer wieder fragen,
wie es möglich war, dass ihre Großväter und -mütter bei diesen unglaublichen
Untaten Helfershelfer sein konnten – diejenigen, die direkt daran teil nahmen, und
diejenigen, die still zustimmten und
jene, die aus Furcht oder Gleichgültigkeit schwiegen.
Die
deutsche Regierung – die jetzige und alle ihre Vorgänger – zogen aus dem
Holocaust eine eindeutige Schlussfolgerung: Israel, „der Staat der Opfer“, muss
verwöhnt werden. Alle seine Taten müssen ohne Vorbehalte unterstützt werden.
Kein einziges Wort der Kritik ist erlaubt.
Als
die neue deutsche Republik gegründet wurde, war das eine kalkulierte Politik.
Der schreckliche Krieg, der von Adolf
Hitler über die Menschheit gebracht worden war, war gerade beendet worden. Die
Naziverbrechen waren noch ganz frisch im Gedächtnis der Menschen. Deutschland
war ein Pariastaat. Konrad Adenauer entschied, dass allein massive
Unterstützung für Israel (zusätzlich zu den Wiedergutmachungsgeldern für die
individuellen Opfer) die Tore der Welt
öffnen würden.
Er
fand in seinem israelischen Kollegen einen loyalen Partner: David Ben Gurion.
Der glaubte, dass die Konsolidierung des Staates Israel wichtiger sei als das
Gedenken an die Vergangenheit. Er stellte dem „anderen Deutschland“ eine Kosher-Bescheinigung
als Gegenleistung für massive deutsche Hilfe an Israel aus.
Seitdem
ist viel Wasser den Rhein und den Jordan
heruntergeflossen. Nun sollten einige Fragen gestellt werden.
FRAGE
EINS: Während die deutsche Freundschaft mit uns ein moralischer Imperativ ist,
schließt dies notwendigerweise auch
unmoralische Aktionen mit ein?
Mehr
als einmal hörte ich den Satz: nach den schrecklichen vom deutschen Volk
gegenüber dem jüdischen Volk begangenen Verbrechen, haben wir Deutschen kein
Recht, den jüdischen Staat zu kritisieren. Die Söhne der Täter können nicht die
Söhne der Opfer kritisieren!“
Ich
habe es schon früher gesagt: in diesen Sätzen liegt etwas, das mich sehr stört. Irgendwie erinnern sie mich an
das deutsche Wort „Sonderbehandlung“ , das
schreckliche Assoziationen weckt. In den KZs
war es der Deckname für
Exekutionen.
Die
Haltung der deutschen Regierung gegenüber Israel ist eine Sonderbehandlung. Es
sagt wieder: Die Juden sind etwas Besonderes. Der „jüdische Staat“ muss anders
behandelt werden als andere Staaten. Das heißt, Juden sind anders als andere
Völker, ihr Staat ist anders als andere Staaten, ihre Moral ist anders als die
der anderen.
Eine
deutsche Zuhörerschaft amüsierte sich, als ich kürzlich von einer Demonstration
von Kommunisten in New York erzählte. Die Polizei kam und begann die Demonstranten zu verprügeln. Einer
schrie: „Schlagt mich nicht1 Ich bin doch ein Anti-Kommunist!“ Ein Polizist
antwortete ihm: „Ich bin nicht daran interessiert, welche Art von Kommunist du
bist.“ Extreme Philosemiten erinnern mich an extreme Antisemiten. Man fragt
sich ob Wenn jemand in der Lage ist, eine
Art von Sonderbehandlung zu
praktizieren, ob er dann nicht ist er auch zu einer anderen fähig wäre.
Sonderbehandlung?
Nein danke! Das war nicht unsere Absicht, als wir diesen Staat gründeten. Wir
wollten einen Staat wie alle anderen, eine Nation wie alle anderen.
FRAGE
ZWEI: Was bedeutet Freundschaft
wirklich?
Wenn
dein Freund betrunken ist und darauf besteht, mit seinem Wagen nach Hause zu
fahren – sollte er dazu ermutigt werden? Ist das ein Ausdruck von Freundschaft?
Oder würde die Freundschaft dich
verpflichten, ihm zu sagen: Hör zu, du bist jetzt nicht in der Lage, Auto zu
fahren, leg’ dich hin, bis du nüchtern bist ?
Intelligente
Deutsche wissen, dass unsere augenblickliche Politik für Israel und die ganze
Welt eine Katastrophe ist. Sie führt zu einem permanenten Krieg, stärkt die
Macht den radikalen fundamentalistischen Islam in der ganzen Region, führt zur
Isolierung Israels in der Welt und zu
einem Besatzungsstaat, in der Juden zu einer unterdrückerischen tyrannischen
Minderheit werden.
Wenn
dein betrunkener Freund direkt in einen Abgrund fährt – was bist du dem Freund
schuldig?
FRAGE
DREI: Freundschaft gegenüber Israel – aber gegenüber welchem Israel?
Israel
ist weit davon entfernt, eine monolithische Gesellschaft zu sein. Es ist eine
pulsierende/ dynamische, brodelnde Gesellschaft mit vielen Tendenzen: von der
extremen Rechten bis zur extremen Linken. Im Augenblick haben wir eine
Regierung der extremen Rechten – aber es
gibt auch ein Friedenslager. Es gibt
zwar Soldaten, die sich weigern, Siedlungen abzubauen, aber es gibt auch
Soldaten, die sich weigern, eine Siedlung zu bewachen. Nicht wenige Menschen
widmet ihre Zeit und Kraft, um gegen die Besatzung zu kämpfen, manchmal begeben
sie sich dabei sogar in Lebensgefahr.
Natürlich
muss eine Regierung mit Regierungen verhandeln. Die deutsche Regierung
muss mit der israelischen Regierung
verhandeln. Aber von da bis zum kitschigen Verhalten wie einer gemeinsamen
Kabinettssitzung ist ein großer Schritt.
Die
Netanyahu Regierung hat für das
Zwei-Staaten-Prinzip nur ein Lippenbekenntnis abgegeben und verletzt es
täglich. Sie hat ein völliges Einfrieren des Siedlungsbaus in den besetzten
Gebieten zurückgewiesen - genau in den
Gebieten, in denen alle Regierungen ( (auch die deutsche) den Staat Palästina
sehen wollen. Sie baut wie wahnsinnig in Ost-Jerusalem, das auch nach der
deutschen Regierung die Hauptstadt Palästinas werden soll. Sie führt in
Jerusalem etwas aus, das sehr nah an ethnische Säuberung herankommt. Sollte Frau Merkel diese
Regierung umarmen und ihr Antlitz mit Küssen bedecken?
Es
gibt viele Möglichkeiten für die deutsche Regierung, ihre Freundschaft dem
„anderen Israel“ zu zeigen, dem Israel, das Frieden sucht und die
Menschenrechte achtet. Schade, dass es dies nicht tut.
ES
GIBT einen anderen deutschen Weg. Vor
zwei Wochen erlebte ich ihn.
Eine
Zuhörerschaft von Hunderten versammelte sich in Berlin zu einer Feier, in der
ich den „Blue Planet Award“ erhielt. Der Name hängt mit der Tatsache zusammen,
dass die Erde vom Weltenraum aus blau aussieht.
Der
Preis wurde von der Ethecon Stiftung vergeben, die
davon überzeugt ist, dass die Ideale von Frieden, Menschenrechten, der
Erhaltung des Planeten und einer ethischen Wirtschaft mit einander verbunden
sein sollten. Dies ist auch meine Überzeugung.
Die
Verleihung des diesjährigen Preises an einen israelischen
Friedensaktivisten drückt – so glaube
ich es wenigstens - wirkliche Freundschaft
des anderen Deutschland für das
andere Israel aus. Abscheu vor den Nazi-Verbrechen hat diese Deutschen dahin
gebracht, sich für eine bessere Welt zu engagieren, in der es keinen Platz für
den Rassismus gibt, dessen Kopf an vielen Stellen Europas wieder zum Vorschein
kommt.
DAS
FÜHRT uns natürlich dorthin, was gerade im Lande Wilhelm Tells geschehen ist.
Die
Schweiz hat in einem Volksentscheid
entschieden, dass keine Minarette gebaut werden dürfen. Das ist nicht gut. Es
ist nicht schlecht. Das ist widerlich..
Antisemitismus
scheint vom einen zum anderen semitischen Volk übergegangen zu sein. Im Europa
nach dem Holocaust ist es schwierig, antijüdisch zu sein, so wurden die
Antisemiten Anti-Muslime. Im Hebräischen sagen wir: die selbe
Dame – nur in einem anderen Gewand.
Vom
ästhetischen Standpunkt aus gesehen, ist es eine dumme Entscheidung. In jeder Anthologie der
schönsten Gebäude der Welt nimmt die
islamische Architektur einen Ehrenplatz ein. Von der Alhambra in Granada bis
zum Felsendom in Jerusalem, - geschweige denn zum Taj
Mahal -
erregen Hunderte von islamischen Bauten Bewunderung. Ein oder zwei
Minarette würden in der städtischen Landschaft Berns Wunder tun.
Aber
es geht hier nicht um Architektur, eher um einen primitiven, brutalen Rassismus, dem die Deutschen gerade
entkommen sind. Auch die Schweizer haben viel zu sühnen. Ihre Großväter und
-mütter benahmen sich während des
Holocausts auch schändlich, als sie erklärten, „das Boot sei voll“ und Juden,
denen es gelungen war, bis an die Schweizer Grenze zu gelangen, zu den
Nazihenkern zurückschickten.
(Diese
Erinnerung sollte uns Israelis veranlassen, gegen das Verhalten unserer eigenen
Regierung gegenüber den sudanesischen Flüchtlingen zu protestieren, denen es
gelingt, von Ägypten aus unsere Grenze zu erreichen. Sie schickt sie zu den
Ägyptern zurück, die sie dann bei mehr als einer Gelegenheit erschossen haben.)
Übrigens
sollte das Schweizer Referendum jenen zu denken geben, die versucht sind,
anzunehmen, dass das System des Referendums
besser als das parlamentarisches
System günstig sei. Ein Referendum öffnet Tür und Tor für die schlimmsten
Demagogen, die Schüler Joseph Goebbels,
der einmal schrieb: „Wir müssen uns wieder an die primitivsten Instinkte der
Massen wenden.“
Jean
Paul Sartre sagte einmal, wir seien alle
Rassisten. Es gibt nur den Unterschied zwischen denen, die dies erkennen und
gegen ihren Rassismus ankämpfen und jenen, die ihm nachgeben. Die Mehrheit der
Schweizer - so leid es mir tut, dies
sagen zu müssen – haben diesen Test nicht bestanden.
Und
wie ist es mit uns?
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)