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Uri Avnery, 21. April 2012
“MIT BLUT und Schweiß / wird sich eine Rasse für uns erheben / stolz, großzügig
und brutal…“ So schrieb Vladimir (Ze’ev) Jabotinsky, der Gründer des extremen
rechten Zionismus, der auch ein Schriftsteller und Dichter war. Die heutigen
Likudführer sehen ihn als ihren Gründungsvater an, so wie Stalin Karl Marx als
den seinen ansah.
Das Wort „brutal“ fällt auf, weil es unglaubwürdig erscheint, dass Jabotinsky
wirklich dieses Wort meinte. Sein Hebräisch war nicht sehr gut, und er meinte
wahrscheinlich etwas wie „hart“.
Falls Jabotinsky den heutigen Likud
sähe, würde er schaudern. Er war eine Mischung von extremem Nationalismus,
Liberalismus und Humanismus des 19.Jahrhunderts.
Paradoxerweise ist Brutalität der einzige der drei Wesenszüge, der in unserm
Leben heute auffällig ist, besonders in den besetzten palästinensischen
Gebieten. Es gibt dort nichts, auf das man stolz sein könnte – und Großzügigkeit
ist etwas, das zu den verachteten Linken gehört.
DIE TÄGLICHE Routinebrutalität, die in den besetzten Gebieten herrscht, wurde in
dieser Woche auf Video aufgenommen.
Ein scharfer Blitz in der Dunkelheit.
Es geschah auf der Straße 90, einer Schnellstraße, die am Jordan entlang Jericho
mit Beth Shean verbindet. Es ist die Hauptstraße im Jordantal, das unsere
Regierung in irgend einer Weise annektieren will. Diese Straße ist allein dem
israelischen Verkehr vorbehalten und für Palästinenser gesperrt.
(Es gibt dazu einen palästinensischen Witz. Während der Nach-Oslo-Verhandlungen
bestand das israelische Team darauf, diese Straße zu behalten. Der
palästinensische Chefunterhändler, der gerade aus Tunis zurückgekommen war,
wandte sich an seine Kollegen und rief aus: „Was
- zum Teufel - wenn wir 89 andere Straßen bekommen haben, warum sollten
wir auf dieser einen bestehen?“)
Eine Gruppe junger internationaler pro-palästinensischer Aktivisten entschied,
gegen die Schließung dieser Straße zu demonstrieren. Sie luden ihre
palästinensischen Freunde zu einer fröhlichen Fahrradtour auf dieser Straße ein
. Sie wurden von einer israelischen Armee-Einheit angehalten. Einige Minuten
standen sie sich gegenüber, die Fahrradfahrer, einige mit der arabischen Keffije
über den Schultern und die Soldaten mit ihren Waffen.
In solchen Situationen ist die Armee dahingehend gedrillt, dass sie die Polizei
rufen soll, die für solche Fälle trainiert ist und die die Mittel hat, um eine
Menge mit nicht-tödlichen Mitteln aus einander zu treiben. Aber der Kommandeur
der Armeee-Einheit entschied anders.
Was dann geschah, wurde auf einem Videoclip von einem der Demonstranten
aufgenommen. Es ist total klar, eindeutig und unmissverständlich.
Der Offizier, ein Oberstleutnant, steht einem blonden jungen Mann, einem Dänen,
gegenüber, der nur zusieht, nichts sagt und nichts tut. Um die beiden
stehen Demonstranten und Soldaten. Kein Anzeichen von irgendwelcher
Gewalt .
Plötzlich hob der Offizier sein Gewehr, hielt es horizontal, mit einer Hand am
Kolben mit der andern am Lauf und
schlug mit dem vorspringenden Stahlmagazin mit voller Kraft den jungen
Dänen direkt ins Gesicht . Das Opfer fiel rückwärts auf den Boden. Der Offizier
grinste befriedigt.
AM ABEND zeigte das israelische Fernsehen den Filmausschnitt. Bis jetzt hat fast
jeder Israeli dies hundert Male gesehen. Und je öfter man dies sieht, um so mehr
ist man geschockt. Die schiere Brutalität des völlig unprovozierten Aktes
lässt einen zurückschrecken.
Für Veteranen von Demonstrationen in den besetzten Gebieten war dieser Vorfall
nichts Neues. Viele haben unter solcher Brutalität in verschiedenen Formen
gelitten.
Was bei diesem Fall ungewöhnlich war, war, dass er photographiert wurde. Und
nicht einmal durch eine versteckte Kamera. Es gab eine Menge Kameras rund herum.
Nicht nur die der Demonstranten, sondern auch die der Armeephotographen.
Der Offizier muss sich dessen
bewusst gewesen sein. Es war ihm aber völlig egal.
Die unerwünschte Veröffentlichung verursachte einen nationalen Aufschrei.
Offensichtlich war es nicht die Tat als solche, die das Militär und die
politische Führung aufregte, sondern die Publicity, die damit verbunden war.
Gerade nach der ruhmreichen Verteidigung des Tel Aviver Flughafens durch 700
Polizisten und Polizistinnen gegen die
schreckliche Invasion von etwa 60 internationalen
Menschenrechtsaktivisten war solch eine zusätzliche Veröffentlichung
auf keinen Fall erwünscht.
Der Armeestabschef verurteilte den Offizier und
suspendierte ihn sofort. Alle ranghohen Offiziere folgten seinem
Beispiel, der Ministerpräsident äußerte sich auch dazu. Wie ja bekannt ist, ist
unsere Armee „die moralischste auf der Welt“, was also hier geschah, war die
unverzeihliche Tat eines einzelnen Schurkenoffiziers.
Es wird eine gründliche Untersuchung geben etc. etc.
DER HELD dieser Affäre ist der Oberstleutnant Shalom Eisner (ein deutscher Name
der wie „eiserner Mann“ klingt.)
Weit davon entfernt, eine Ausnahme zu sein, scheint er der Inbegriff des
Armeeoffiziers zu sein, ja, tatsächlich der Inbegriff eines Israeli.
Das erste, was ein Fernsehzuschauer bemerkte, war die Kippa auf seinem Kopf. „
Ach natürlich“, murmelten viele zu sich selbst. Seit Jahrzehnten infiltriert
die national-religiöse Bewegung systematisch das Offiziers-Corps der
bewaffneten Kräfte, indem sie mit Offizierskursen beginnt und langsam
mit dem Ziel hochklettert, einer von ihnen möge Stabschef werden. Jetzt
sind schon Kippa tragende
Oberstleutnants normal – wie es Kibbuzniks am Anfang unserer Armee waren. Zu dem
Zeitpunkt des Vorfalls war Eisner ein stellvertretender Brigadekommandeur.
Die national-religiöse Bewegung, zu der der Kern der Siedler gehört, war auch
die Heimat von Yigal Amir, dem Mörder von Yitzhak Rabin, und von Baruch
Goldstein, dem Massenmörder in der Moschee in Hebron (1994).
Eine der Stützen dieser Bewegung
ist die Jeshiva Merkaz Harav („Zentrum des Rabbi“), wo Eisners Vater ein
prominenter Rabbiner war. Während Ariel Sharons Evakuierung der Siedler aus dem
Gazastreifens war Eisner jr. unter den Protestierenden. Im letzten Jahr wurde
Eisner an genau derselben Stelle auf der Straße 90 photographiert, wie er sich
mit extrem rechten Demonstranten verbrüdert, die auch dort auf Fahrrädern
protestierten.
Er nahm den offiziellen Tadel nicht an. Mit beispielloser Unverschämtheit griff
er den Stabschef, den Kommandeur der Zentralfront und seinen Divisionskommandeur
an. Er winkte mit seiner verbundenen Hand, um zu beweisen, dass er zuerst
angegriffen worden sei und in Selbstverteidigung gehandelt habe. Er zeigte sogar
die Bestätigung eines Arztes, dass
einer seiner Finger gebrochen sei.
Das ist ziemlich unwahrscheinlich. Zunächst wäre die Art und Weise, wie er
auf dem Video sein Gewehr
hielt, mit einem gebrochenen Finger
unmöglich gewesen. Zweitens zeigt
das Video, dass sein Handeln nicht die Reaktion auf irgend eine Gewalt war.
Drittens gab es mehrere Armeephotographen rund herum, die jedes Detail aufnahmen
(um als Beweis zu dienen, wenn die Demonstranten zur Anklage vor ein
Militärgericht gebracht werden.) Wenn irgend ein Gewaltakt stattgefunden hätte,
wäre er von der Armee noch am selben Tag vorgeführt worden. Viertens,
schlug Eisner in ähnlicher Weise zwei Demonstrantinnen ins Gesicht und
einem Demonstranten auf den Rücken – leider ohne Kamera.
Er bestand hartnäckig darauf, dass
er genau das Richtige getan habe. Schließlich habe er
die Demo abgebrochen, nicht wahr?
Aber er war nicht ganz ohne Reue. Er gab öffentlich zu, dass er einen Fehler
gemacht haben könnte, als er in Gegenwart der Kameras so handelte. Darin
stimmten die Armee und viele Kommentatoren aus vollem Herzen überein: sie
kritisierten nicht seine Brutalität, sondern seine Dummheit.
ALS INDIVIDUUM ist Eisner nicht sehr interessant. Wenn dumme Leute erst gar
nicht vom Militär einberufen würden, wohin würden wir dann kommen?
Das Problem ist, dass Eisner keine Ausnahme ist, sondern ein Vertreter einer
Norm. Es gibt ein paar ausgezeichnete Leute in der Armee, aber Eisner verkörpert
viele Offiziere, die aus dem militärischen Schmelztopf kommen.
Und nicht nur in der Armee. Um Jabotinsky zu paraphrasieren: unser
Bildungssystem produziert „ eine
Rasse / dumm und gemein und brutal“. Wie könnte dies nach 60 Jahren nicht
nachlassender Indoktrination und 45 Jahren Besatzung anders sein? Jede
Besatzung, jede Unterdrückung eines anderen Volkes, korrumpiert den Besatzer und
macht den Unterdrücker dumm.
Während ich noch ein Teenager war, arbeitete ich als Angestellter bei einem an
der Oxforduniversität studierten jüdisch-britischen Anwalt; viele seiner
Klienten waren Mitglieder der britischen Kolonialverwaltung. Ich fand sie
meistens freundlich, intelligent und höflich, mit einem angenehmen Sinn für
Humor. Doch die britische Verwaltung handelte mit einem erstaunlichen Mangel an
Intelligenz.
In jener Zeit war ich Mitglied des
Irgun, deren Ziel es war, die Briten
aus dem Land zu vertreiben. In meiner Wohnung war ein kleines Lager von
Pistolen, die dazu dienten, sie umzubringen.
Das war ein Leben zwischen zwei Welten. Ich fragte mich ständig: wie können
diese netten Engländer sich so dumm verhalten?
Meine Schlussfolgerung ist die, dass keine Kolonialherren sich intelligent
verhalten können. Die koloniale Situation selbst zwingt sie, gegen ihre eigene
bessere Natur und ihr besseres Urteil zu handeln.
Während der ersten Jahre der israelischen Besatzung wurde sie weithin als
„fortschrittlich“ und „liberal“ gepriesen. Der damalige Verteidigungsminister
Moshe Dayan gab die Order, die Palästinenser so großzügig wie möglich zu
behandeln. Er ließ sie mit dem Feind Handel treiben und
nach Belieben die feindlichen Radiosender hören. In einer Geste ohne
Präzedenzfall hielt er die Brücken zwischen der besetzten Westbank
und Jordanien, einem Feindesland, offen. (Ich scherzte damals, Dayan habe
nie ein Buch gelesen und wisse deshalb nicht, dass dies unmöglich sei).
Hinter seiner Politik steckte kein Wohlwollen -
nur die Überzeugung, dass, falls den Arabern erlaubt würde, ihr tägliches
Leben in Frieden zu führen, sie
keinen Aufstand machen würden, sondern sich mit einer ewigen Besatzung abfinden.
Dies funktionierte tatsächlich mehr oder weniger 20 Jahre lang. Bis eine neue
Generation die erste Intifada anfing und die Besatzung – nun, dumm und gemein
und brutal wurde - zusammen mit den verantwortlichen Offizieren.
VOR ZWEI Tagen beging Israel den jährlichen Holocaust-Gedenktag. Dazu würde ich
gern Albert Einstein, einen Juden und Zionisten zitieren:
„Sollten wir unfähig sein, einen Weg zu ehrenhafter Zusammenarbeit zu finden und
einen ehrlichen Pakt mit den Arabern zu schließen, dann haben wir absolut nichts
während der zwei tausend Jahre Leiden gelernt und verdienen all das, was auf uns
zukommen wird“.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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