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Eine
Fantasie
Uri Avnery
8. Mai
2010
ICH BEWUNDERE Professor
John Mearsheimer. Seine strenge Logik. Seine klare Darstellung. Sein selten
moralischer Mut.
Ich
fühlte mich sehr geehrt, ihn und seinen Kollegen Professor Stephen Walt in Tel
Aviv
als Gäste zu haben, nachdem ihr Buch über die Israellobby
in den USA Furore provozierte.
Und
ich stimme nicht mit seinen Schlussfolgerungen
überein.
VOR EIN paar
Tagen hielt Prof. Mearsheimer einen eindrucksvollen Vortrag in Washington DC. Er
bestand aus einer tiefgründigen Analyse der Überlebenschancen für Israel. Jeder
Israeli, der über die Zukunft seines Staates nachdenkt, sollte sich mit dieser
Analyse aus einander setzen.
Der Professor
selbst fasst seine Schlussfolgerungen wie folgt zusammen:
„Im
Gegensatz zu den Wünschen der Obama-Regierung und der meisten Amerikaner –
einschließlich vieler amerikanischer Juden – wird Israel den Palästinensern
nicht erlauben, einen eigenen lebensfähigen Staat in Gaza und der Westbank zu
haben. Bedauerlicherweise ist die Zwei-Staaten-Lösung jetzt eine Fantasie.
Stattdessen werden diese Gebiete in ein „Groß-Israel“ integriert, der ein
Apartheidstaat sein wird, der große Ähnlichkeit mit dem von Weißen regierten
Süd-Afrika haben wird.
Trotz alledem
wird ein jüdischer Apartheidstaat politisch
auf Dauer nicht lebensfähig sein. Am Ende wird es
ein demokratischer bi-nationaler Staat werden, dessen Politik von seinen
palästinensischen Bürgern
dominiert werden wird. Mit anderen Worten: er wird
aufhören, ein jüdischer Staat zu sein, was
das Ende des zionistischen Traumes sein wird.“
WARUM
GLAUBT
der Professor, dass die Zwei-Staaten-Lösung eine Fantasie
geworden ist?
Weil seiner Meinung nach die meisten Israelis nicht bereit
sind, für die Erfüllung
dieser Lösung die nötigen Opfer zu bringen. Die 480
000 Siedler in der Westbank und in Ost-Jerusalem haben eine gewaltige Macht.
Viele von ihnen werden mit Waffengewalt Widerstand gegen jede Art Lösung
leisten. Binyamin Netanyahu ist nicht bereit, einen palästinensischen Staat zu
akzeptieren. Die israelische Öffentlichkeit ist scharf nach rechts
gerückt. Es gibt in Israel jetzt keine wirksame
pro-Frieden-Partei. Es ist kein Führer von Rang in Sicht, der in der Lage wäre,
die Siedler
aus den Siedlungen zu entfernen. Und das Wichtigste:
„Der Kern der Überzeugung des Zionismus ist
gegenüber einem palästinensischen Staat zu tiefst feindselig“.
Von Barack Obama wird keine Rettung kommen. Die ungeheuer
mächtige pro-Israel-Lobby wird jeden Versuch, Druck auf Israel auszuüben,
zunichte machen. Obama hat schon vor Netanyahu kapituliert, und so wird er
es auch in Zukunft tun.
Der Professor verbirgt seine Meinung nicht, dass die
Zwei-Staatenlösung bei weitem die beste wäre. Aber er glaubt, dass diese
tot sei. Großisrael, das über
all die Gebiete zwischen Mittelmeer und dem Jordan
herrscht,
besteht schon. Es ist ein Apartheidstaat, der sich immer
mehr konsolidiert und immer brutaler werden
wird – bis er kollabiert.
DIES IST eine erschreckende
Prognose. Sie ist auch sehr logisch. Wenn die
gegenwärtige Entwicklung in gerader Linie weitergeht, wird genau dies geschehen.
Aber ich glaube nicht an gerade Linien. In der Natur gibt es
kaum gerade Linien, und es gibt im Leben der Nationen und Staaten auch keine
geraden Linien.
In den 86 Jahren meines Lebens haben sich unzählige nicht
voraus zu sehende Dinge ereignet, und unzählige Dinge, die man erwartete, haben
sich nicht
ereignet. Das Schicksal von Nationen wird von unerwarteten
Faktoren gesteuert. Sie werden von Menschen gestaltet, die von Natur
unberechenbar sind.
Wer sah 1929 voraus, dass Adolf Hitler in Deutschland an
die Macht kommen würde? Wer sah 1941 voraus, dass die Rote Armee die
unbesiegbare Wehrmacht stoppen würde?
Wer sah 1939 den Holocaust voraus? Wer sah 1945 die
Schaffung des Staates Israel voraus? Wer sah 1989 den Kollaps der Sowjetunion
voraus? Wer sah einen Tag vor dem Fall der Berliner Mauer diesen voraus? Wer sah
die Khomeini-Revolution voraus? Wer sah die Wahl eines schwarzen US-Präsidenten
voraus?
Natürlich kann man keine Pläne für das Unerwartete schmieden.
Aber man muss damit rechnen. Es ist irrational, das Irrationale nicht zu
berücksichtigen.
Ich akzeptiere das Urteil des Professors nicht, dass „die
meisten Israelis
dagegen wären, Opfer zu bringen, die nötig sein
würden, um einen lebensfähigen palästinensischen Staat zu schaffen.“ Als ein in
Israel lebender und kämpfender Israeli bin ich davon überzeugt, dass die
Mehrheit der Israelis bereit ist, die nötigen Bedingungen zu akzeptieren, die
allen wohl bekannt sind: ein palästinensischer Staat mit seiner Hauptstadt in
Ost-Jerusalem, den Grenzen von 1967 mit kleinem Landtausch, eine
beiderseits annehmbare Lösung der Flüchtlingsfrage.
Das wirkliche Problem ist, dass die meisten Israelis nicht
glauben, dass überhaupt Frieden möglich ist. Viele Jahre
voller Propaganda haben sie davon überzeugt, dass
„wir keinen Partner für den Frieden haben“. Ereignisse vor Ort (durch
israelische Augen gesehen)
haben sie in dieser Ansicht bestätigt. Wenn diese
Einschätzung
aufgelöst wird, dann ist alles möglich.
Hier könnte Präsident Obama eine große Rolle spielen. Ich
glaube, dass dies seine wirkliche Aufgabe ist: zu beweisen, dass dies möglich
ist. Dass es
einen Partner gibt. Dass es eine Garantie für Israels
Sicherheit gibt. Und
- jawohl – dass die Alternative erschreckend ist.
KÖNNEN DIE Siedlungen entfernt werden? Wird es je eine
israelische Regierung geben, die den Mut hat, dies zu tun? Wo ist der Führer,
der diese Herkulesaufgabe
auf sich nehmen wird?
Der Professor hat Recht, dass er
jetzt „keinen in der israelischen Politik sieht, der
dazu in der Lage wäre“. Und dass es „keine größere Friedenspartei oder Bewegung
gibt“.
Doch die Geschichte zeigt, dass außergewöhnliche Führer oft
dann erscheinen, wenn sie gebraucht werden. Ich habe in meinem Leben einen
gescheiterten und allgemein verachteten Politiker mit Namen Winston Churchill
gesehen, der ein nationaler Held wurde. Und einen reaktionären General mit Namen
Charles de Gaulle, der Algerien befreite. Und einen grauen kommunistischen
Apparatschik mit Namen Mikhail Gorbachov, der ein riesiges Reich ohne
Blutvergießen demontierte. Und die Wahl eines Burschen mit Namen Barack Obama.
Ich habe auch einen brutalen General mit Namen Ariel Sharon
gesehen, der Vater der Siedlungen, der eine Reihe Siedlungen zerstörte. Seine
Absichten mögen fragwürdig gewesen sein, aber die Fakten können nicht
abgestritten werden: er forderte die Siedlerbewegung heraus -
die Professor Mearsheimer als furchtbare Bedrohung
beschreibt – und
gewann leicht. Angesichts der totalen Opposition der
Siedler und ihrer Verbündeten evakuierte er etwa zwanzig Siedlungen im
Gazastreifen und auf der Westbank. Keine einzige Militäreinheit meuterte. Keine
einzige Person wurde getötet oder schwer verletzt.
Gewiss, da gibt es einen quantitativen und qualitativen
Unterschied zwischen Sharons „Trennung“ und der uns
bevorstehenden Aufgabe. Aber es ist ein großer
Fehler, die Siedler als einen monolithischen Block anzusehen. Es sind
verschiedene Gruppierungen – die Bewohner der
Ost-Jerusalemer Vororte ähneln nicht den Westbanksiedlern, den Käufern billiger
Wohnungen in Ariel und Maale Adumim und diese nicht den Zeloten von Yitzhar und
Tapuach, die Orthodoxen in Modiin-Illit und Immanuel gleichen nicht denen der
Hügeljugend.
Wenn ein Friedensabkommen erreicht wird, wird es notwendig
sein, die Evakuierung mit Entschlossenheit
durchzuführen, aber auch mit Finesse. Für die
Bewohner der Vororte Ost-Jerusalems wird eine Lösung im Rahmen der Abkommen über
Jerusalem gefunden werden. Eine große Anzahl Siedler in der Nähe der Grünen
Linie wird bleiben, wo sie sind – im Rahmen eines fairen Austauschs von Land.
Ein anderer Teil wird nach Israel
zurückkehren, wenn sie wissen, dass Wohnungen für
sie im Tel Aviver Großraum zur Verfügung stehen. Für einige von ihnen wird es
vielleicht eine Möglichkeit geben, mit der Palästinensischen Regierung eine
Übereinstimmung zu finden. Am Ende wird der harte Kern der messianischen Siedler
nicht leicht aufgeben. Sie könnten Waffen benützen. Aber ein starker Führer wird
den Test
bestehen, wenn die große Mehrheit der israelischen
Öffentlichkeit das Friedensabkommen unterstützen wird.
DIE ZWEI-STAATEN-Lösung ist nicht die beste Lösung. Es ist die
einzige Lösung.
Die Alternative ist nicht ein demokratischer säkularer
bi-nationaler Staat, weil so ein Staat nicht entstehen wird. Keines der beiden
Völker will ihn.
Wie der Professor richtig behauptet, solange es keinen
Frieden gibt, wird Israel vom Meer bis zum Fluss, herrschen.
Die gegenwärtige Situation wird schlimmer werden:
der souveräne Staat Israel wird an den besetzten
Gebieten festhalten.
Außer einer winzigen Gruppe von Träumern, die man in einem
mittelgroßen Raum versammeln könnte, gibt es keine Israelis, die davon träumen,
in einem bi-nationalen Staat zu leben, in dem die Araber die Mehrheit
darstellen. Wenn solch ein Staat entstünde,
würden die israelischen Juden auswandern. Aber es
ist viel plausibler, dass das Gegenteil passiert: die Palästinenser
werden lange davor auswandern.
Ethnische Säuberung muss nicht in Form einer dramatischen
Vertreibung geschehen wie 1948. Es kann im Stillen stattfinden als schleichender
Prozess, wenn immer mehr Palästinenser
einfach aufgeben. Das ist der große Traum der
Siedler und ihrer Partner: das Leben der Palästinenser so unerträglich zu
machen, dass sie ihre Familien nehmen und gehen.
So oder so, das Leben in diesem Land wird zur Hölle werden.
Nicht für ein Jahr, sondern viele Jahre lang. Beide Seiten werden gewalttätig
werden. Die Idee eines palästinensischen „gewaltfreien Widerstandes“ ist ein
Hirngespinst. Die Hoffnung des Professors, dass im mutmaßlichen bi-nationalen
Staat die Palästinenser die Juden nicht so behandeln werden, wie die
Juden sie
jetzt behandeln, ist von den Juden selbst widerlegt
worden – die Verfolgung, die sie Jahrhunderte lang durchlitten haben, hat sie
nicht dagegen geimpft, selbst Täter zu werden.
IN DER Analyse des Professors gibt es eine Lücke: er
erklärt nicht, wie der gewalttätige israelische Apartheidstaat sich in einen
bi-nationalen Staat
entwickeln wird. Seiner Meinung nach wird dies
„schließlich“ nach
einigen Jahren kommen. Nach wie vielen ? Und warum?
OK, es wird Druck geben. Die Weltöffentlichkeit wird sich
gegen Israel wenden. Die Juden in der Diaspora werden sich distanzieren. Aber
wie wird dies alles einen bi-nationalen Staat hervorbringen?
Jeder Vergleich mit Südafrika ist
einfach falsch. Es gibt keine Ähnlichkeit zwischen
der Situation, die dort vorherrschte, und der Situation, die hier besteht oder
in Zukunft bestehen wird. Abgesehen von einigen Methoden der Verfolgung, all die
Umstände, in allen Bereichen sind sehr anders.
(Um nur eines zu erwähnen: das Apartheidregime wurde
schließlich nicht durch internationalen Druck
zu Fall gebracht, sondern durch die massiven
und lähmenden Streiks der schwarzen arbeitenden
Kräfte. In diesem Land tun die Besatzungsbehörden alles, um die Palästinenser
vom Arbeiten in Israel abzuhalten.
Schließlich ist es eine Sache der Logik: wenn es
internationalem Druck nicht gelingt, die Israelis zu überzeugen, die
Zwei-Staaten-Lösung anzunehmen, die ihrer nationalen Entität nicht schadet, wie
will sie sie zwingen, alles aufzugeben – ihren Staat, ihre Identität, ihre
Kultur, ihre Wirtschaft, alles, was sie mit riesiger Anstrengung in 120 Jahren
aufgebaut haben ?
Ist es nicht viel
überzeugender zu vermuten, dass Israel, lange bevor
der Staat unter dem
internationalen Druck zusammenbricht, die
Zwei-Staaten-Lösung annehmen wird?
Ich stimme mit dem Professor völlig überein: Das
Haupthindernis zum Frieden ist geistiger Natur. Was dringend nötig ist, ist eine
tiefgründige Chance von
Bewusstseinsveränderung, bevor die israelische
Öffentlichkeit dahin gebracht werden kann, die Realität zu erkennen und den
Frieden zu akzeptieren mit allem, was damit verbunden ist.
Das ist die Hauptaufgabe des israelischen Friedenslagers: die
grundlegenden Wahrnehmungen der Öffentlichkeit zu ändern. Ich bin sicher, dass
dies möglich ist. Wir sind schon einen langen Weg gegangen von den Zeiten, in
denen es hieß : „Es gibt keine Palästinenser!“ und „Jerusalem, vereint in alle
Ewigkeit“ Professor Mearsheimers Analyse mag zu diesem Prozess beitragen.
Ein Apartheidstaat oder ein bi-nationaler Staat?
Weder noch. Sondern der freie Staat Palästina, Seite
an Seite mit dem freien Staat Israel in
der gemeinsamen Heimat .
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom
Verfasser
autorisiert)