Israel Palästina Nahost Konflikt Infos
Uri Avnery,
9.7.11
SEIT MEHREREN Wochen
befinden sich unsere Armee und Marine in einem hohen Alarmzustand, um tapfer
eine tödliche Bedrohung unserer bloßen Existenz zu verhindern: zehn kleine Boote
versuchen, Gaza zu erreichen. In den Booten sitzt eine gefährliche Bande
bösartiger Terroristen, in Person
älterer Veteranen aus
Friedenskampagnen bestehend.
Binyamin Netanyahu hat
unsere unerschütterliche Entschlossenheit, unser Land zu verteidigen, bestätigt:
Wir werden niemanden die Blockade brechen lassen, um Raketen zu den Terroristen
in Gaza zu schmuggeln, die sie dann abfeuern, um unsere unschuldigen Kinder zu
töten.
Dies ist sogar für
Netanyahu eine Art Rekordleistung: kein einziges Wort ist wahr. Die Flotilla
transportiert keine Waffen – die Vertreter respektierter internationaler Medien
in den Booten versichern uns dies. Ich denke, wir können uns auch auf den Mossad
verlassen, der wenigstens in jedes Boot einen Agenten setzt (Wofür zahl ich
schließlich meine Steuern?). Die Hamas hat seit langem keine Raketen
abgeschossen – sie hat sehr gute eigene Gründe, sich an das inoffizielle
„Tahdiyeh“ („Ruhe“)-Abkommen zu halten.
Wenn der Flotilla erlaubt
worden wäre, Gaza zu erreichen, hätte es für ein paar Stunden Nachrichten
gegeben – und das wäre es dann gewesen. Israels totale Mobilisierung, das
Training der Marinekommandos, um die Boote abzufangen, die Sabotageakte, die in
griechischen Häfen ausgeführt wurden, der immense politische Druck, den Israel
und die USA auf das arme, bankrotte Griechenland ausgeübt haben – all dies hat
diese kleine Initiative wochenlang in den Nachrichten gehalten und hat so die
Aufmerksamkeit auf die Blockade des Gazastreifens gezogen.
Wofür ist diese Blockade
gut? Es gibt bis jetzt keinen feststellbaren Grund, falls es je einen gegeben
hat. Um die Bevölkerung zu terrorisieren, damit sie die Hamasregierung stürzt,
die Siegerin von demokratischen Wahlen? Nun, das hat ja nichts geholfen? Die
Hamas zu zwingen, ihre Bedingungen für einen Gefangenenaustausch zu verändern,
der Gilad Shalit frei kommen ließe? Auch das kam nicht zustande. Den
Waffenschmuggel in den Gazastreifen verhindern? Die Waffen
kommen ungestört durch einen der hundert Tunnel aus Ägypten, falls wir
glauben, was uns unsere Armee erzählt. Also welchem Zweck dient die Blockade?
Keiner scheint es zu wissen. Aber es ist der Felsen unserer Existenz. Das ist
klar.
Als ein Ergebnis des
Druckes aus aller Welt, der der Flotilla im letzten Jahr folgte, wurde die
Blockade beträchtlich gelockert. Doch Gazas Fabrikanten und Landwirte werden
immer noch daran gehindert, ihre Produkte to exportieren – das verurteilt den
größten Teil der Bevölkerung zu Arbeitslosigkeit und bitterer Armut.
Dasselbe gilt für den
ekelhaften Handel mit menschlichen Überresten. Netanyahu versprach, die Leichen
von 84 „Terroristen“ (Fatah und Hamas) an Mahmood Abbas als Geschenk zu
vermachen. Im letzten Augenblick hielt er sein Wort nicht. Seine Leute glauben,
dass diese Überreste, die kaum mehr zu identifizieren sind, als
Verhandlungschips im Entlassungsspiel mit Gilad Shalit dienen könnten.
Dasselbe gilt auch für die
Aktionen von gestern: der Ankunft von internationalen Friedensaktivisten am
Ben-Gurion-Flughafen. Alles, was sie wollten, ist, nach Bethlehem und nach Gaza
gehen, das nur dadurch erreicht
werden kann, dass man israelisches Gebiet überquert. Fast tausend
Polizeioffiziere wurden
mobilisiert, um der Bedrohung zu begegnen.
Am Ende wurden sie schon in
den ausländischen Flughäfen auf Befehl Israels aufgehalten. Kaum einer kam am
Ben-Gurion-Flughafen an.
All dies sind automatische
Reflexreaktionen. Wir müssen stark sein. Überall lauern tödliche Gefahren.
Israel muss sich selbst verteidigen. Sonst gibt es einen zweiten Holocaust-
DIES IST ein interessantes
Phänomen: die Leute sehen auf ihrem Bildschirmen unschuldig aussehende ältere
Menschenrechtsaktivisten und glauben, sie sähen gefährliche Provokateure, weil
die Regierung und die meisten Medien ihnen das so sagen. Unheimliche arabische
und muslimische Individuen verstecken sich in den Booten. Ein arabischer
Amerikaner auf einem der Boote ist entlarvt worden als einer, der Geld für eine
soziale Hamas-Institution gesammelt hat. Ein
gefährlicher Terrorist. Wie schrecklich!
Das Phänomen der Leute, die
etwas sehen und denken, sie würden etwas anderes sehen, hat mich immer
fasziniert. Wie können Leute ihren eigenen Augen nicht trauen, sondern den Augen
anderer?
In dieser Woche bekam ich
eine Email von einem Mann, der sich an etwas aus der Zeit erinnerte, als er ein
Schüler meiner verstorbenen Frau Rachel in der 1. Klasse war.
Rachel bat ihn, er solle
seine rechte Hand heben. Als der Junge dies tat, sagte Rachel:
„Nein, nein, das ist deine linke Hand!“ Sie wandte sich an die anderen
Kinder und fragte sie, welche Hand ist das. Ihrer Lehrerin folgend riefen sie
wie mit einer Stimme: „Die Linke, die Linke!“
Als der Junge dies sah,
wurde er unsicher. Schließlich gab er zu: „Ja, es ist die Linke.“
„Nein, du hattest zuerst
Recht!“ versicherte Rachel ihm.
„Lasst euch allen dies eine Lehre sein: wenn ihr meint, Recht zu haben, besteht
darauf. Ändert nie eure Ansicht, weil Leute das Gegenteil behaupten.“
Ganz zufällig, sah ich,
kurz nachdem ich diese Aussage gelesen hatte, im Fernsehen die Ergebnisse einer
wissenschaftlichen Untersuchung von
israelischen Forschern über „eingeflößte Gedächtnis“. Ihre Experimente zeigen,
dass Leute, die etwas mit eigenen Augen gesehen haben, denen aber von anderen
gesagt wird, sie hätten etwas anderes gesehen, damit beginnen, ihr eigenes
Gedächtnis zu unterdrücken und „sich an das erinnern“, was andere angeblich
gesehen haben. Neurologische Forschung zeigte dann , dass dies tatsächlich im
Gehirn geschieht und gesehen werden
kann: Die eingebildete Erinnerung ersetzt die wirkliche. Sozialer Druck hat dies
bewirkt: die eingebildete Erinnerung ist wirkliche Erinnerung geworden.
Ich bin davon überzeugt,
dass dies sogar noch mehr für eine ganze Nation gültig ist, die natürlich aus
Individuen zusammen gesetzt ist. Ich habe dies viele Male beobachtet.
Zum Beispiel: elf Monate
vor dem 1.Libanonkrieg war kein einziger Schuss aus dem Libanon nach Israel
abgeschossen worden. Gegen alle Erwartung war es Yasser Arafat gelungen, eine
totale Feuerpause sogar bei seinen palästinensischen Gegnern zu erreichen. Doch
nachdem Ariel Sharon den Krieg begonnen hatte, „erinnerten“ sich praktisch alle
Israelis deutlich, dass die Palästinenser jeden einzelnen Tag über die Grenze
geschossen und so das Leben in Israel zur Hölle gemacht hätten.
Ich nenne dies „umgedrehte
Parkinson“ – während Patienten mit fortgeschrittener Parkinson sich nicht an
Dinge erinnern, die geschehen sind, erinnern sich diese Patienten an Dinge, die
nie geschehen sind.
ES GIBT eine psychische
Krankheit, die man „Paranoia vera“ nennt. Patienten nehmen eine verrückte
Vermutung an – z.B. „Jeder hasst mich“ – und dann bauen sie eine komplizierte
Struktur rund herum. Jede kleinste Information, die dies zu unterstützen
scheint, wird eifrig aufgenommen; alles, was dem widerspricht, wird unterdrückt.
Alles wird so interpretiert, dass es die erste Vermutung bestärkt. Das Muster
ist streng logisch - je
vollständiger und je logischer die Struktur ist, um so ernster ist die
Krankheit.
Zu den begleitenden
Symptomen gehören streitlustiges Verhalten, wiederkehrende Verdächtigungen,
Trennung von der realen Welt, Verschwörungstheorien und Narzissmus.
Es scheint, dass ganze
Nationen Opfer dieser Krankheit werden. Die unsrige hat sie sicher.
Die ganze Welt ist gegen
uns. Jeder ist darauf aus, uns zu zerstören. Jeder Schritt ist für unsere bloße
Existenz eine Bedrohung. Jeder der die israelische Politik kritisiert, ist ein
Antisemit oder ein selbsthassender Jude.
Selbst wenn wir etwas Gutes
tun, wendet es sich gegen uns.
Bestätigung:: „Wir
verließen den Gazastreifen und lösten dort sogar unsere Siedlungen auf, und was
bekamen wir dafür? Qassam-Raketen!“
(Egal, ob Sharon sich
weigerte, den Gazastreifen einer palästinensischen Körperschaft zu übergeben
--und eine Leere hinterließ. Er schnitt ihn von der Welt ab und machte
ihn zu einem großen Gefängnislager.)
Bestätigung:: „Nach Oslo
bewaffneten wir Arafats Sicherheitskräfte, und sie wandten ihre Waffen gegen
uns!“
(Egal, dass wir unseren
Verpflichtungen nach den Oslo-Abkommen nie erfüllt haben, dass die Unterdrückung
der Besatzung immer schlimmer wurde und dass die Siedlungen auf
palästinensischem Land sprunghaft gewachsen sind. Die palästinensischen
Sicherheitskräfte haben nie gegen Israel gehandelt.)
Bestätigung: „Wir zogen uns
aus dem Südlibanon zurück, und was bekamen wir dafür? Die Hisbollah und den 2.
Libanonkrieg!“
(Egal , dass die Hisbollah
als Reaktion aus einer 18 Jahre langen Besatzung entstand, und dass wir selbst
den 2. Libanonkrieg nach einem kleinen Grenzzwischenfall angefangen haben.)
ES IST gesagt worden, dass
Paranoiker auch wirkliche Feinde haben. Das Problem ist, dass Paranoide durch
ihr offensives und misstrauisches Verhalten sich mehr und mehr wirkliche Feinde
schaffen.
Der Slogan „Alle Welt ist
gegen uns“ mag leicht als eine sich selbst erfüllende Prophetie funktionieren.
Israel ist nicht das
einzige Land, das an dieser Krankheit leidet. In einer bestimmten Zeit litten
die Deutschen auch an dieser Krankheit. Auch die Serben. Und bis zu einem
bestimmten Grad auch die US und viele andere. Leider ist der Preis der Paranoia
sehr hoch.
Drum lasst uns anfangen,
uns wie gesunde Menschen zu verhalten. Lasst die kleinen Boote nach Gaza segeln.
Lasst die am Ben-Gurion-Flughafen ankommenden Aktivisten nach Palästina fahren
und Oliven pflücken, wenn es das ist, was sie wollen.
Selbst wenn wir uns wie
eine normale Nation verhalten, wird Israel weiter existieren. Dies verspreche
ich!
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs; vom Verfasser autorisiert)