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Lieber Salman
Uri Avnery
17.5.2014
VOR JAHREN war ich zu einer UN-Konferenz über die palästinensischen Flüchtlinge
eingeladen. Ich sollte als Israeli mit der Debatte
beginnen, nach dem der palästinensische Vertreter Salman Abu-Sitta aus
einem Beduinenstamm im Negev als Palästinenser die Konferenz eröffnet hatte.
Vor der Debatte wurde ich gewarnt, Abu Sitta sei der extremste der Flüchtlinge,
ein berüchtigter Israelhasser. Als ich an die Reihe kam, sagte ich, ich müsse
wählen zwischen einer mündlichen
Antwort oder dem Lesen meines vorbereiteten Textes.
Ich entschied mich. meinen Text zu lesen und versprach ihm, ihn zu einem
privaten Essen einzuladen und mit ihm seine Punkte zu diskutieren.
Als ich meinen Text gelesen hatte, erinnerte mich Abu-Sitta an dieses
Versprechen. Wir aßen in einem ruhigen Pariser Restaurant zu Mittag und ich
fand, dass Abu-Sitta eine sehr sympathische Persönlichkeit ist. Rachel, meine
Frau, war tief bewegt von dem Bericht
seiner Flucht als Junge während der Nakba . Ich auch.
Abu Sitta, jetzt ein sehr wohlhabender internationaler Bauunternehmer, hat sein
Leben dem Elend der palästinensischen Flüchtlinge gewidmet, und vielleicht ist
er der beste Experte über die Nakba in der Welt..
In dieser Woche erhielt ich von ihm einen Brief, bei dem ich die Notwendigkeit
fühlte sie hier wörtlich
abzuschreiben:
LIEBER URI
Ich las in Haaretz mit großem
Interesse Dein Interview über Dein so ereignisreiches Leben. Du hältst seit den
frühen Fünfzigern an Deinen
Prinzipien fest, nachdem Du herausgefunden hattest, die alte Doktrin wäre nicht
mehr durchführbar und nicht
moralisch.
Ich erinnere mich lebhaft an unser Gespräch beim Mittagessen in Paris mit Deiner
lieben Frau Rachel – gesegnet sei ihre Seele.
Du beschriebst Deine frühen Jahre als junger Deutscher mit dem Namen Helmut;
dass du dich später der Terrororganisation Irgun angeschlossen hast und
ein Maschinengewehr auf
einen Hügel bei Hulayqat getragen
hast ( wo jetzt ein Denkmal steht, um die gefallenen Soldaten zu „ehren“ ) . wie
du das Menschenmeer vertriebener Flüchtlinge beobachtetest, die in Richtung Gaza
entlang der Küste liefen.
Ich erzählte Euch auch meine Geschichte: wie ich ein Flüchtling wurde, ohne je
einen Juden gesehen zu haben, und
wie ich Jahre verbrachte, um
herauszufinden, wer es tat, den Namen, das Gesicht und das Bataillon.
Ich erinnere mich, wie ich Dich fragte „wärest du mit meiner Rückkehr in mein
Haus, einverstanden, wenn es neben dem Deinigen stünde?“
Du sagtest nachdrücklich NEIN.
Ich schrieb das alles in meinen
Memoiren, die in diesem Jahr in Europa und Amerika erscheinen werden.
Ich erinnere mich an eine ähnliche Geschichte mit einem anderen Schluss. Ich
spreche von Dr. Tikva Honig-Parnass
(„Reflexionen einer Tochter der
48er-Generation“). Es ist ein
bewegender Bericht, wie Wahrheit und Realität sich ihr darboten, als
Palmach-Soldatin mit der schwerwiegenden Ungerechtigkeit, die man den
Palästinensern antat. Seitdem setzt
sie ihre Energie ein um deren Rechte zu verteidigen, einschließlich des
Rückkehrrechtes.
Ich sah weder Spur noch
Hinweis auf einen Rückzieher in Deinem Interview, was ich gehofft hatte,
nämlich die Anerkennung des Rückkehrrechtes oder
Sühne und Heilung der größten Sünde: die ethnische Säuberung der
Palästinenser. Wäre
es nicht die passende letzte Station eines langen Lebens
(und ich wünsche Dir ein längeres), wenn du wieder auf der Hügelkuppe
stehen und rufen würdest, dass es alle hören - Deine Lebenserfahrungen zusammen
fassend: die Flüchtlinge müssen zurückkehren, wir müssen die Sünde der
ethnischen Säuberung bereuen?
Ist diese Frage an einen Mann mit Prinzipien, wie Du es bist, zu viel, dies zu
tun? Ich frage dies jetzt nicht im
Namen der Palästinenser, denn zweifellos WERDEN sie zurückkehren.
Ich hoffe, dass dies die Errungenschaften Deines Lebens im israelischen
Milieu krönen würde.
Wie ich wiederholt schrieb: die
Geschichte der Juden wird nicht mehr von dem angeblichen Töten Christi markiert
noch von den Brutalitäten der Nazis
im 2. Weltkrieg, sondern wird
unauslöschlich von dem markiert,
was sie den Palästinensern absichtlich und dauernd angetan haben, ohne
schlechtes Gewissen, Bedauern oder Rechtsmittel. Dies reflektiert jene
Seite des menschlichen Geistes, der aus der Geschichte nichts lernt und der von
seiner eigenen moralischen Haltung ablässt.
Mit freundlichen Grüßen
Salman Abu Sitta
LIEBER SALMAN
ICH
WAR von diesem Brief tief bewegt.
Ich brauchte Tage, bis ich den Mut fand, auf diesen Brief zu antworten. Ich
versuche es so ernsthaft wie möglich.
Als ich im Krieg 1948 verwundet wurde, entschied ich mich, meine Lebensaufgabe
sollte der Frieden zwischen unsren
beiden Völkern sein. Ich hoffe, dass ich mein Versprechen gehalten habe.
Nach einem so langen und bitteren Konflikt Frieden zu machen, ist
eine moralische und
politische Bemühung. Oft liegt da ein Widerspruch zwischen den beiden Aspekten.
Ich habe großen Respekt vor den paar Leuten in Israel, die wie Tikva sich
vollkommen der moralischen Seite
der Flüchtlingstragödie widmen, egal, welche Folge dies für die Chance des
Friedens hat. Meine eigene moralische
Einstellung sagt mir, dass der Frieden das erste Ziel sein muss, vor und
über allem anderen.
Ich erinnere mich auch lebhaft an unser Gespräch in Paris und schrieb darüber im
2. Band meiner Memoiren, die im Laufe dieses Jahres auf Hebraeisch erscheinen
werden. Es mag für Leser interessant sein, unsere beiden Beschreibungen
desselben Gesprächs zu vergleichen. Über die Szene in der Nähe von Hulayqat habe
ich im 1. Band geschrieben, der schon auf Hebräisch herauskam.
Der Krieg von 1948 war eine schreckliche menschliche Tragödie. Beide Seiten
glaubten, es sei eine existentielle Schlacht, dass ihr
Leben an einem Faden hing. Es wird oft vergessen, dass ethnische
Säuberung (den Terminus gab es damals noch nicht) von beiden Seiten praktiziert
wurde. Unsere Seite besetzte große Gebiete und schuf so ein riesiges
Flüchtlingsproblem; während es der
palästinensischen Seite gelang, nur ein kleines
Gebiet zu besetzen, wie die Altstadt von Jerusalem und den jüdischen
Ezion-Siedlungsblock bei Bethlehem. Aber kein einziger Jude
blieb dort.
Der Krieg war, wie später der bosnische Krieg, ein ethnischer Krieg, in dem
beide Seiten versuchten , ein
größtmögliches Stück Land zu erobern – OHNE Bevölkerung.
Als Augenzeuge und Teilnehmer kann ich die Tatsache
bezeugen, dass die Ursprünge des Flüchtlingsproblems extrem kompliziert
sind. Während der ersten sieben Monate des Krieges waren die Angriffe auf die
arabischen Dörfer militärisch
absolut notwendig. Zu dieser Zeit
waren wir die schwächere Seite. Nach einer Anzahl sehr grausamer Schlachten
drehte sich das Rad, und ich glaube, dass eine absichtliche Politik der
Vertreibung von der zionistischen Führung
ergriffen wurde.
Aber die wirkliche Frage ist: Warum wurde den 750 000 Flüchtlingen nach den
Feindseligkeiten nicht erlaubt, nach Hause zurückzukehren?
MAN MUSS sich an die Situation erinnern. Es war drei Jahre, nachdem die
rauchenden Kamine von Auschwitz und
den anderen Lagern kalt
geworden waren. Hunderttausende von elenden Überlebenden waren in überfüllten
Flüchtlingslagern in Europa und
wussten nicht wohin, außer in das neue Israel. Sie wurden hierher geführt und
eilig in die Häuser der geflohenen Palästinenser gebracht.
All dies löschte unsere moralische Verpflichtung nicht aus, der schrecklichen
Tragödie der palästinensischen Flüchtlinge ein Ende zu bereiten. 1953
veröffentlichte ich in meinem Magazin Haolam Hazeh einen detaillierten Plan für
die Lösung des Flüchtlingsproblems.
Es schloss (a) eine Entschuldigung bei den Flüchtlingen ein und
im Prinzip auch die Anerkennung
des Rückkehrrechts, (b) die Rückkehr und Wiederansiedlung einer
beträchtlichen Zahl, (c) eine
großzügige Wiedergutmachung für den ganzen Rest. Da die israelische Regierung
sich aber weigerte, die Möglichkeit der Rückkehr auch nur von einzelnen
Individuen in Betracht zu ziehen, wurde der Plan nicht einmal diskutiert.
WARUM STEHE ich nicht auf einer
Hügelkuppe und rufe nach der Rückkehr aller Flüchtlinge?
Frieden wird zwischen Parteien
gemacht, die beide bereit sind, einzuwilligen.
Es gibt absolut keine Chance, dass die
große Mehrheit der Israelis mit der Rückkehr aller Flüchtlinge und ihrer
Nachkommen(6 oder 7 Millionen) einverstanden ist.
Es wäre etwa dieselbe Anzahl wie
die Anzahl von Israels jüdischen Bürgern. Dies wäre das Ende des
„Jüdischen Staates“ und der Beginn eines „bi-nationalen Staates“ gegen den 99%
der Israelis sind. Dies könnte nur durch Krieg erreicht werden, der
augenblicklich wegen Israels unendlich militärischer Überlegenheit,
einschließlich Nuklearwaffen, unmöglich ist.
Ich kann auf der Hügelkuppe stehen und rufen – aber das würde keinem den Frieden
(und einer Lösung) nur einen Schritt näher bringen.
Meiner Ansicht nach ist das Warten auf eine Lösung in hundert Jahren, während
der Konflikt und die Misere weitergehen, nicht wirklich moralisch.
LIEBER SALMAN, ich habe aufmerksam Deiner Darlegung zugehört.
Du meinst, Israel könnte leicht all
die Flüchtlinge im Negev aufnehmen,
der fast leer sei. Das stimmt.
Die überwältigende Mehrheit der
Israelis würde dies zurückweisen, weil sie äußerst entschlossen ist, eine
große jüdische Mehrheit in Israel zu haben. Aber ich frage mich auch
selbst: Was ist die Logik darin?
Als ich mich während des Krieges
1982 mit Yassir Arafat in Beirut
traf, besuchte ich auch mehrere palästinensische Flüchtlingslager. Ich fragte
viele Flüchtlinge, ob sie nach Israel zurück wollten. Die meisten sagten, sie
wollten zurück in ihre Dörfer (die
aber seit langem zerstört sind),
aber nicht irgendwohin in Israel.
Welchen Sinn hat es, sie den harten Bedingungen der Wüste auszusetzen – in einem
zionistisch dominierten und hebräisch sprechenden Land, weit weg von ihren
ursprünglichen Wohnstätten? Würden sie das wollen?
Arafat und seine Nachfolger begrenzten und begrenzen
ihr Ziel auf eine „gerechte
und beiderseitig übereinstimmende
Lösung“, die der israelischen Regierung ein Vetorecht gibt. Das bedeutet
praktisch, höchstens die Rückkehr einer symbolischen Anzahl.
Mein letzter Vorschlag ist: der israelische Präsident möge sich entschuldigen
und das tiefe Bedauern des israelischen Volkes zum Ausdruck bringen, für ihren
Anteil an der Schaffung der Tragödie und ihrer Dauer.
Die israelische Regierung muss das moralische Recht der Rückkehr der Flüchtlinge
anerkennen.
Israel sollte jedes Jahr die Rückkehr von 50 000 Flüchtlingen
zehn Jahre lang anerkennen
(Damit bin ich fast allein in Israel, der diese Anzahl verlangt. Die meisten
Friedensgruppen würden dies auf 100 000 zusammen
reduzieren).
Alle anderen Flüchtlinge sollten Kompensationen erhalten, in etwa nach den
Kompensationen, wie sie Deutschland
jüdischen Opfern gezahlt hat. (natürlich
kein Vergleich)
Mit der Gründung des Staates Palästina würden alle Flüchtlinge palästinensische
Pässe erhalten und in der Lage sein, in ihrem Lande zu siedeln.
In nicht zu weiter Zukunft, wenn die beiden Staaten, Israel und Palästina, Seite
an Seite neben einander leben, mit offenen Grenzen und mit ihren Hauptstädten in
Jerusalem – vielleicht innerhalb des Rahmens einer regionalen Union
– wird das Problem seinen Stachel
verlieren.
ES FÄLLT mir schwer, diesen Brief zu schreiben. Für mich sind die Flüchtlinge
kein abstraktes „Problem“, sondern
menschliche Wesen mit menschlichen Gesichtern. Aber ich will Dich nicht anlügen.
Ich wäre mir eine Ehre, neben Dir
(selbst in der Negev-Wüste) zu leben.
Salamaat, Uri
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)