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Uri Avnery
16. Juli 2016
Willkommen! Bienvenue!
FÜR MICH ist Frankreich das Land der Freiheit.
Als ich gerade 10 Jahre alt war, floh ich mit meiner
Familie von Nazi-
Deutschland nach Frankreich, auf unserem Weg nach
Palästina. Wir
befürchteten, an der Grenze verhaftet zu werden. Als
unser Zug den Rhein
überquerte, wir Deutschland hinter uns ließen und in
Frankreich einreisten,
atmete ich tief durch. Aus der Tyrannei in die
Freiheit, von der Hölle ins
Paradies.
Ich vergaß dieses Gefühl nie. Immer, wenn ich
Frankreich besuchte, überkam
es mich.
Ich erinnerte mich diese Woche wieder daran, als ich
einen viel zitierten TV
“Untersuchungsbericht” über “Antisemitismus in
Frankreich” sah. Es war ein
Haufen Propaganda-Nonsens.
"ANTI-SEMITISMUS IN Frankreich" ist nun der letzte
Schrei in Israel. Eine
riesiger Propagandaaufwand wird in diese Kampagne
investiert. Das Ziel ist,
die französischen Juden dazu bewegen, nach Israel zu
kommen, um "Alija zu
machen" (eine entsetzliche Entstellung des
Hebräischen).
Juden in Frankreich sind laut
"Untersuchungsberichten'' mit einer furchtbaren
Gefahr konfrontiert. Sie können einen zweiten
Holocaust jeden Moment
erwarten. Sie werden auf den Straßen angegriffen. Sie
haben Angst, die
Kippa in der Öffentlichkeit zu tragen. Zum Wohl ihrer
Kinder müssen sie nach
Israel kommen. Und zwar schnellstens, - jetzt!
Als ich mir den TV-Bericht näher ansah, bemerkte ich
eine Besonderheit: fast
alle männlichen Juden, die interviewt wurden, trugen
eine Kippa. Seltsam, ich
habe kaum jemals einen französischen Juden getroffen,
der eine Kippa trug.
Dann bemerkte ich eine weitere Besonderheit: es
erschien mir, als ob alle
Juden, die interviewt wurden, wie Nordafrikaner
aussahen, besonders
algerisch.
Auch wurden alle erwähnten gewaltsamen Zwischenfälle
von Muslimen
verursacht. Sie fanden nicht auf der Avenue des Champs
Elysées statt,
sondern in den Vororten, wo arme nordafrikanische
Muslime mit
nordafrikanischen Juden auf engstem Raum
zusammenleben.
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Warum ereignen sich diese Zwischenfälle? Warum dort?
Und was haben sie
mit französischem Anti-Semitismus zu tun?
WENN ich “französischer Anti-Semitismus” höre, sehe
ich in meiner
Vorstellung die lange Tradition der Aversion des
christlichen Frankreichs
gegenüber Juden. Sogar nach der Französischen
Revolution, die auch die
Juden befreite, gab es eine Menge Anti-Semitismus in
Frankreich. Man muss
sich nur an die Dreyfus-Affäre am Ende des 19.
Jahrhunderts erinnern, als ein
französischer jüdischer Offizier der Armee
fälschlicherweise als deutscher
Spion angeklagt war und auf die Teufelsinsel,
Französisch Guyana, verbannt
wurde. Massen von Franzosen marschierten über die
Champs Elysées und
schrien: "Tod den Juden!" Einer der Zuschauer war ein
jüdischer Journalist
aus Wien, Theodor Herzl genannt, der den Schluss
daraus zog, dass alle
Juden Europa verlassen und ihren eigenen Staat
errichten mussten. Der
Zionismus wurde geboren.
Diese Art von christlichem Anti-Semitismus, der
(glaube ich) von der
Geschichte über den Tod von Jesus im neuen Testament
ausgeht, existierte
schon immer in Frankreich, genauso wie in den meisten
anderen
europäischen Ländern. Seit dem Holocaust, ist es ein
Rand-Phänomen
geworden. Ich glaube, dass das in Frankreich auch so
ist.
DiE MUSLIMISCH-JÜDISCHE Feindschaft, die sich nun in
den Vororten von
Paris abspielt, ist etwas gänzlich Anderes und hat
nichts zu tun mit
Antisemiten. Zufällig sind beide Seiten Semiten.
Es begann vor langer Zeit in Algerien. Die Franzosen
eroberten das Land und
siedelten dort in großer Anzahl. Dann taten sie etwas
ziemlich Kleveres: Sie
übertrugen die französische Staatsangehörigkeit auf
die Juden vor Ort, aber
nicht auf die Muslime, die die breite Mehrheit
bildeten. Wie die alten Römer zu
sagen pflegten: “ Teile und herrsche.”
Als der algerische Unabhängigkeitskrieg ausbrach (in
1954), standen die
Juden, die stolze französische Bürger waren, auf der
Seite des Unterdrückers
gegen die Unterdrückten.
Mehr noch. Als die französische Armee signalisierte,
dass sie abziehen
wollte, stellten die Siedler eine
Untergrund-Militärorganisation auf, die OAS,
um die Muslime zu terrorisieren. Die Juden vor Ort
waren involviert. Nach und
nach begannen die französischen Siedler, nach
Frankreich zurückzukehren
und die Juden blieben. Die OAS wurde dann fast eine
jüdische Organisation.
Ich war irgendwie involviert. Die algerische Nationale
Befreiungsfront, die
FLN, die spürte, dass sie kurz vor dem Sieg standen,
war sehr besorgt, dass
die Juden Algerien verlassen würden. Da die Juden eine
große Rolle in dem
algerischen wirtschaftlichen und intellektuellen Leben
spielten, fürchteten die
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FLN-Führer, dass eine derartige Abwanderung einen
großen Verlust für den
entstehenden Staat bedeuten würde.
Sie kamen auf mich zu mit der Bitte, in Israel eine
Organisation aufzustellen,
um die algerische Unabhängigkeit zu unterstützen. Als
ich den “Israelischen
Rat für ein freies Algerien” gründete, baten sie uns,
Material in Hebräisch zu
veröffentlichen, das sie ins Französische übersetzten
und unter den Juden
verteilten.
Erfolglos. Am Ende setzte Charles de Gaulle einen
Termin für den Rückzug
der französischen Armee. Über eine Million
französische Siedler flohen
beinahe über Nacht nach Frankreich und mit ihnen
praktisch alle Juden.
Algerische Juden kamen nicht nach Israel. Sie waren zu
gut in die
französische Kultur integriert. Marokkanische und
tunesische Juden spalteten
sich: die gebildeten gingen nach Frankreich, alle
anderen kamen hierher.
Was sich heute abspielt, ist die Fortsetzung dieses
algerischen Konfliktes auf
französischem Boden. Der Hass, der einst in den
Straßen von Algier und
Oran herrschte, wird in den Straßen von Paris und
Marseilles ausgefochten.
Tragisch? In der Tat. Traurig? Gewiss. Anti-Semitismus
– keineswegs. Es hat
nichts mit dieser alten europäischen Geißel zu tun.
UM EIN richtiges Bild zu bekommen, muss man die Anzahl
der muslimischen
Gewalttaten gegen Juden in Frankreich mit der Anzahl
der Gewalttaten der
christlichen Franzosen gegen die Muslime vergleichen.
Ich habe keine derartigen Statistiken gesehen,
wahrscheinlich weil Frankreich
darauf besteht, dass es keinen Unterschied zwischen
Franzosen aller
Hautfarben, Glaubensrichtungen und Rassen gibt.
Dennoch würde ich 100 prozentig darauf wetten, dass
die Gewalttaten gegen
Muslime beiweitem zahlreicher sind als Gewalttaten
gegen die Juden.
Französischer Neo-Faschismus, angeführt von der sehr
klugen Marine Le
Pen, ist gänzlich zentriert auf den Hass gegen die
Muslime, wohingegen sie
alles Erdenkliche tut, um den Juden zu schmeicheln.
Einige Juden sind sogar
in der Partei. Sie bewundert uns, sie liebt uns. Sie
warf ihren eigenen Vater
hinaus, weil er sich nicht zurückhalten konnte, Sätze
zu äußern, die einen
Rest von Antisemitismus widerspiegelten.
Also, woher kommt die gegenwärtige Furcht vor dem
französischen
Antisemitismus?
Ah, es gibt mehrere gute Gründe.
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Grundsätzlich sind Zionismus und Anti-Semitismus
Zwillinge. Es ist der
moderne europäische Antisemitismus, der den modernen
Zionismus schuf.
Wie erwähnt, wurde Herzl zum Zionisten, als er die
(französischen)
Antisemiten sah. Meine Familie kam nach Palästina
wegen des (deutschen)
Antisemitismus. So war es mehr oder weniger bei allen
israelischen Juden.
Man könnte sagen, dass, wenn der Antisemitismus nicht
bereits existiert
hätte, die Zionisten ihn hätten erfinden müssen.
Gemäß der zionistischen Ideologie existiert der Staat
Israel als eine
Zufluchtsstätte für verfolgte Juden. Wo auch immer
Juden in der Welt in einer
Notlage sind, retten wir sie und bringen sie hierher.
(Auch wenn Israel
vielleicht der am wenigsten sichere Platz in der Welt
für Juden ist.)
Wenn der Anti-Semitismus zu schwach ist, um “den Job
zu machen”, müssen
wir ihm dabei helfen, wie wir es 1952 im Irak taten,
als wir Bomben in
Synagogen legten, um die Juden anzuspornen, das Land
zu verlassen und
nach hier zu kommen.
Es scheint so, dass gerade jetzt ein Mangel an
Anti-Semitimus vorherrscht.
Russische Juden kommen nicht mehr, auch keine
amerikanischen. Also
muss Frankreich die Lücke schließen.
Es gibt auch eine noch zynischere Erklärung. Israel
hat ein aufwendiges
Instrumentarium errichtet, um Juden hierher zu
bringen. Es gibt
Einwanderungs-Beamte in israelischen Botschaften. Es
gibt die “Jewish
Agency” (Jüdische Agentur) eine weltweite
Organisation, die sich
hauptsächlich der Aufgabe verschrieben hat, Juden nach
Israel zu bringen.
Was würde mit diesem ganzen Heer von Gesandten,
Organisatoren,
Bürokraten, politischen Beauftragten und dergleichen
geschehen, wenn keine
Juden mehr nach hier kommen wollen und den Boden bei
ihrer Ankunft
küssen?
Glücklicherweise gibt es diese "Welle von
Anti-Semitismus" in Frankreich und
ist jeder voll und ganz beschäftigt. Politiker
schwingen Reden, Journalisten
produzieren emotionale “Untersuchungs-” Serien, die
zionistische Seele ist
aufgewacht, der Zionismus ist voll im Gange. Flugzeuge
voller Kippa
tragender Juden kommen an. Hallelujah!
WAS GESCHIEHT mit all diesen Einwanderern, die die
“Alija machen”,
sobald sie nach hier kommen?
Das ist eine gute Frage. Einige Bürokraten sind
beauftragt, sich um sie zu
kümmern. Wir haben ein ganzes Ministerium, das sich
der “Immigranten
Absorption" gewidmet hat. (Man kann behaupten, dass es
der letzte
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wünschenswerte Job für Politiker ist, eine Art
Zwischenparkplatz, bis sich
etwas Besseres findet).
Wenn die neuen Einwanderer einmal hier sind, scheinen
viele begeisterte
Zionisten das Interesse an ihnen zu verlieren.
Praktisch alle Einwanderer aus
islamischen Ländern seit der Geburt des Staates, sie
und ihre Nachkommen,
beschweren sich nun, benachteiligt zu werden.
Das Problem ist nun das Zentrum einer lebhaften
Debatte. Ein Komitee, das
von einem blinden orientalischen Poeten geleitet wird,
hat gerade einen
ausführlichen Bericht erstellt und verlangt, dass
sämtliche Geschichtsbücher
neu geschrieben werden, um Platz zu schaffen für
orientale jüdische Politiker,
Rabbis, Künstler und Schriftsteller, auf der Basis der
Gleichheit mit Juden
europäischer Abstammung.
Halboffizielle Schätzungen sind, dass ca. 30% der
neuen “französischen”
Einwanderer wahrscheinlich nach Frankreich
zurückkehren werden. Das
scheint als normal akzeptiert zu werden.
Aber wenn 70% bei uns bleiben, ist das ein Reingewinn.
Bienvenue, mes
amis!
(Aus dem Englischen übersetzt von Inga Gelsdorf)