Israel Palästina Nahost Konflikt Infos
Uri Avnery,
15.3.14
ETWAS SEHR
Bedeutendes geschah in dieser Woche am unwahrscheinlichsten Ort: in der Knesset.
Auf der
Tagesordnung standen drei Gesetze, eines schlimmer als das andere.
Eines war über
„Regierungsgewalt“. Seine
Hauptbestimmung erhöht die „
Prozent-Blockade“ – d.h. das Minimum, das eine Wahlliste benötigt, um in die
Knesset zu kommen– von 2% bis 3,25%.
Die klare Absicht ist, die drei Listen, die ihre Stimmen aus dem
arabischen Sektor erhalten und die etwa diese Prozentzahl oder weniger haben,
abzuhängen.
Im zweiten
Gesetz ging es um „ die
gleichmäßige Verteilung der Last“.
Sein erklärtes Ziel ist, Tausende
orthodoxer Jugendlichen zum Militärdienst zu zwingen, von dem sie
jetzt befreit sind.
Praktisch befreit das neue Gesetz
sie vier weitere Jahre. Israelis nennen dies „Israbluff“.
Das dritte
Gesetz geht um Frieden oder sein Nicht-vorhanden-sein. Es besagt, dass jedes
Abkommen, das jetzt israelisches
Land aufgibt, von einem Referendum bestätigt werden müsste. Bis jetzt ist in
Israel ein Referendum unbekannt gewesen. Dieses Gesetz würde selbst bei noch so
kleinem Landtausch angewandt werden.
Welche
Verbindung gibt es zwischen diesen drei Gesetzesvorlagen?
Keine – außer, dass sie auf Papier gedruckt wurden. Doch jede von ihnen
ist von mindestens einer der sechs Fraktionen, die die Regierung unterstützen,
nicht annehmbar, was ihre Annahme
unmöglich macht.
Damit sie alle
angenommen werden, hat die Regierungskoalition all ihren Mitgliedern eine
drakonische Maßnahme aufgezwungen:
Sie müssen für alle drei zusammen
abstimmen. Eins nach dem andern.
Dies hat sich
nie zuvor ereignet. Es ist ein weiteres Symptom für die schleichende Unreife
des rechten Flügels, das Kennzeichen
dieser Knesset.
UM SICH selbst
zu verteidigen, haben die Oppositionsparteien etwas getan, was vorher in Israel
noch nie geschah: sie haben dem Knesset-Plenum einen Boykott erklärt.
Nicht ein einziges Oppositions-Mitglied
war während der Debatte über
diese Gesetzesentwürfe und ihre
Abstimmung im Plenum. Sie errichteten ein „alternatives Plenum“, wo sie eine
lebhafte Debatte führten.
Die Opposition
besteht aus verschiedenen Elementen, die gewöhnlich nicht zusammenarbeiten.
Da gibt es die
linken zionistischen Parteien: Die Laborpartei und Meretz.
Es gibt die
beiden orthodox-religiösen Fraktionen: Die Torah-Jüdische Fraktion (aus zwei
getrennten Parteien) und die
orientalisch-orthodoxe Partei, die Shas.
Und da gibt es
noch die drei arabische Parteien: die
nationalistische Balad-Partei, die moderate islamische
und die kommunistische Partei, in der auch eine kleine jüdische Gruppe ist.
All diese
verschiedenen politischen Gruppierungen kamen zusammen, um ihre Empörung über
die diktatorischen Maßnahmen des rechten Flügels auszudrücken. Ihr beispielloser
Boykott der Knesset-Stimmen unterstreicht die Ernsthaftigkeit der
parlamentarischen Krise, obwohl diese nicht die Annahme der Gesetze verhinderte.
Die
Aufregung der Medien über die Krise
verbarg jedoch einen viel
ernsteren Aspekt, einen, der eine fundamentale Auswirkung auf die Zukunft
Israels haben kann.
ALLE DREI
israelischen Fernsehkanäle widmeten dem, was sich im Knesset-Plenum
ereignete, nur ein paar Minuten, sie
konzentrierten sich viel mehr auf interessantere Geschehnisse im Kontra-Plenum.
Sie zeigten
z.B. den Führer von Shas, Arieh Deri, wie er mit seinem Kopf den Kopf des
prominenten Laborabgeordneten Eitan Kabel berührte. Es war mehr als eine
brüderliche Geste. Es war eine politische Erklärung.
Seit dem
ersten Tag des Staates Israels, während 29 Jahren, wurde das Land von der
Laborpartei regiert – in enger Zusammenarbeit mit den religiösen jüdischen
Parteien. (Vorher hatte dieselbe Koalition die jüdische Gemeinschaft in
Palästina seit 1933 „regiert“)
Der
historische Wandel, 1977, den die Likud an die Macht brachte, geschah, als die
religiösen Parteien der Labor-Partei ihren Rücken zuwandten und sich der
neuen rechten Koalition von Menachem
Begin anschlossen. Dies war mehr als ein politisches Manöver. Es war eine
tektonische Bewegung, die die Landschaft Israels veränderte.
Seit damals
hat die religiöse Koalition vom
rechten Flügel Israel regiert (Wenn man von kleinen Unterbrechungen absieht.) Es
schien unerschütterlich und verurteilte Israel
zu einer dunklen Zukunft der Apartheid, Besatzung und der Siedlungen.
Es schien auch
ganz natürlich. Die jüdische Religion beteuert, dass Gott persönlich den
Israeliten das ganze Heilige Land
verheißen hat. Religiöse Schulen lehren ganz
jüdisch konzentrierte Aussichten,
die die Rechte der anderen ignorieren. Die Ergebnisse dieser Ausbildung scheinen
die natürlichen Verbündeten der Likud-Ideologie zu sein: das „Ganze Land Israel
gehört uns“.
Es
handelt sich um die Spaltung zwischen
den Orthodoxen, deren Judentum die
alte Religion des Stetl ist, und den
zionistischen „Nationalreligiösen“, deren Judentum eine stammesmäßige
Mischung von „Blut und Boden“ ist. Für
die Orthodoxen ist das Judentum nicht
der Feind des Friedens. Im Gegenteil: Shalom/Frieden und die gute
Behandlung von nicht-jüdischen
Einwohnern sind Gebote Gottes.
Falls diese
Idylle zwischen dem
säkular-orthodox-arabischen Dreieck
hält, könnte Vorläufer einer neuen
politischen Wende sein, das Ende der Ära, die 1977 begann.
UM ZU
VERSTEHEN, was geschehen ist, muss man die Bedeutung von „Verstehen“ verstehen;
d.h.
andere Verstehen.
Die orthodoxe
Gemeinschaft ist eine getrennte Sektion von Israel, ganz ähnlich wie die
arabische Sektion und vielleicht sogar noch mehr. Sie sind anders als der
Mainstream Israels in fast allem – die kulturelle Ansichten, die historische
Orientierung, die Sprache (viele
sprechen jiddisch), die Kleidung, ja
sogar die Körpersprache.
Die
gegenwärtige Krise wird nicht von ihrer Antipathie gegen die Armee und der
ganzen zionistischen Ideologie verursacht. Es geht viel tiefer. Ihr Hauptziel
ist das Überleben in einer zunehmend feindseligen Welt. Sie müssen eine absolute
Kontrolle über ihre Söhne und
Töchter halten– von der Geburt bis zum
Tod. Sie erlauben ihnen nicht, in Kontakt mit Nicht-Orthodoxen zu kommen – in
keinem Stadium ihres Lebens. Deshalb kann es ihnen nicht erlaubt werden, normale
Schulen zu besuchen, in die Armee zu gehen, an gewöhnlichen Arbeitsplätzen zu
arbeiten, in säkularen Stadtteilen zu leben. Sie dürfen nicht mit
nicht-orthodoxer Gesellschaft essen oder -
Gott bewahre - säkulare Mädchen
treffen. Totale Isolierung ist ihr Überlebensrezept.
Israelis vom
rechten Flügel mit ihren fixierten
und egozentrischen Ansichten sind völlig unfähig, dies zu verstehen, so wie sie
nicht in der Lage sind, die Gesinnung der arabischen Bürger zu verstehen.
Um Gottes willen! Warum sollte eine israelisch jüdische
Mutter eines Soldaten schlaflose Nächte verbringen, weil sie sich Sorgen
um ihren Sohn macht, während diese Drückeberger sich des Lebens erfreuen?
Für einen
orthodoxen Jungen ist es natürlich
undenkbar, mit dem Talmudstudium aufzuhören, wie es für einen arabischen Jungen
undenkbar ist, auf palästinensische Brüder zu schießen.
Die Armeechefs
wollen übrigens keinen von beiden. Sie schaudern bei dem Gedanken
arabische Jugend zu trainieren und zu bewaffnen, außer ein paar
beduinischen Söldnern. Es schaudert sie bei dem Gedanken, Tausende von
Orthodoxen in die Armee aufzunehmen, die getrennte Lager brauchen, um nicht mit
jemandem in Kontakt zu kommen, einschließlich Augenkontakt mit Mädchen. Ganz zu
schweigen von der Notwendigkeit von Synagogen, rituellen Bädern, spezielle
koschere Nahrung und ihre eigenen Rabbiner, der jeden Befehl eines normalen
Offiziers ins Gegenteil wenden könnte.
Doch
kein Armeeoffizier wird dies offen sagen. Die alte zionistische Vision
verbietet dies. Unsere Armee ist eine Bürgerarmee, jeder dient darin ohne
Diskriminierung; bei der Verteidigung
des Heimatlandes ist Gleichheit
heilig.
Deshalb
sind komplizierte legale
Tricks der Selbsttäuschung seit Jahrzehnten in Übung. Jetzt muss sich das Land
damit aus einander setzen.
Meiner Meinung
nach sollten wir der Realität ins Auge schauen: Die Orthodoxen
(und die arabischen Bürger) sind besondere Minderheiten, die auch einen
Sonderstatus benötigen. Die augenblickliche
Situation sollte legalisiert werden, ohne Tricks. Die Orthodoxen(und die
Araber) sollten offiziell eine
Ausnahmebehandlung bekommen. Vielleicht sollte
unsere Armee westlichen Beispielen
folgen und sollten selbst alle in eine
professionelle Freiwilligen-Armee begeben.
ABER DIES ist
ein Seitenaspekt. Die Hauptfragen sind diese:
Kann die alte
Verbindung zwischen dem linken Flügel und
dem orthodoxen erneuert werden?
Kann es einen
fundamentalen Wandel in der Verteilung der politischen Kräfte geben?
Kann die
Koalition der Rechten und des „national-religiösen“ messianischen Lagers,
einschließlich seiner faschistischen Ränder wieder eine politische Minderheit
werden?
Kann eine
Gegen-Koalition der Linken und der Orthodoxen (ja,mit den arabischen Bürgern)
zur Macht kommen?
Es ist nicht
unmöglich, doch müsste man ein Optimist sein, um das zu glauben.
Doch
man muss überhaupt ein Optimist sein, um
an Gutes zu denken.
(Aus dem Englischen Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)