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Geh in Frieden!
Uri Avnery, 24. Februar 2018
ICH MUSS
ein Bekenntnis ablegen: Ich hasse Benjamin Netanjahu nicht, ich hasse auch
Sara’le nicht.
Gewöhnlich hasse ich keine Leute. Mit der einzigen Ausnahme von Leuten, die mein
Vertrauen verraten haben und die versuchten, ein Messer in meinen Rücken zu
stechen. Es sind nicht mehr als drei oder vier in meinem ganzen Leben. Ich
werde sie nicht nennen.
Ich habe Netanjahu in meinem Leben nur zwei oder dreimal auf privatwer Ebene
getroffen
Einmal stellte er mir im Knesset-Korridor seine zweite Frau vor. Sie schien mir,
eine nette junge Frau zu sein.
Das zweite Mal traf ich ihn beim Ausgang einer Foto-Ausstellung, in der es ein
Foto von mir gab, auf dem ich die Kopfbedeckung eines Piloten trug (Ich weiß
nicht mehr wie und warum.)
„Du siehst aus wie Errol Flynn“, sagte er mir. Ich hatte nie einen Errol
Flynn-Film gesehen; doch ich nahm es als Kompliment.
Wir hatten natürlich viele Argumente auf dem Knesset-Flur, aber diese zählen
nicht.
Falls ich deshalb wünsche, Netanjahu aus der Regierung zu entfernen – und zwar
so bald als möglich – so ist es nicht wegen persönlicher Gefühle. Ich glaube
nur, dass er für Israel eine Katastrophe ist.
Die unzähligen Fälle von Bestechung, die aufgetaucht sind – und weiter
auftauchen, wie U-Boote - machen seine Entfernung sofort notwendig. Und wir
hatten noch nicht einmal die Affäre mit den in Deutschland gebauten
Unterseebooten erreicht, die viele neue Enthüllungen versprechen. Als früherer
Herausgeber eines Nachrichten-Magazins, das sich auf Ermittlungen von
Korruptions-Affären spezialisierte, kann ich dies riechen.
Eine Menge Leute würden sich freuen, „Bibi“ im Gefängnis zu sehen. Ich würde
dies nicht. Wenn es nach mir ginge, würde der Staatspräsident oder der
Generalstaatsanwalt ihm ein Abkommen im Nixon-Stil anbieten: Lege sofort dein
Amt nieder und fünf Minuten später bekommst du eine Begnadigung Du und deine
Frau. Keine Haft, kein Prozess, geh heim und freu dich deines Lebens.
Es gibt kein finanzielles Problem. Netanjahu ist ein reicher Mann und als
vorheriger Ministerpräsident mit großer Pension und mehreren Luxuswohnungen,
ganz abgesehen von den riesigen Bestechungserträgen, die er scheinbar
eingesteckt hat.
Jeder Herausgeber in der Welt würde im Voraus viel für seine Memoiren zahlen.
Es gibt also keinen Grund, ihn zu bemitleiden.
DAS PROBLEM
ist, wer wird seinen Platz einnehmen?
Der leere Knesset Sitz würde von einer anonymen Anwältin eingenommen werden,
die auf die Partei-Kandidaten-Liste als „neue (weibliche) Kandidatin
gesetzt wurde.
Aber das ist wirklich nicht wichtig.
Die wichtige Frage ist: wer wird Ministerpräsident?
Netanjahus Rücktritt würde nicht automatisch die Auflösung der gegenwärtigen
Knesset bedeuten. Falls ein anderer Kandidat eine Mehrheit in die gegenwärtige
Knesset bringen könnte, wäre er (oder sie) der nächste Ministerpräsident. Nur
ein Likud-Mitglied hätte eine Chance.
Doch gibt es einen wahrscheinlichen Kandidaten? Ich bezweifle es. Wie viele
starke aber unsichere Führer hat Netanjahu keinen Nachfolger vorbereitet. Im
Gegenteil. Er hat alle möglichen Kandidaten vertrieben.
Die gegenwärtige Likud-Führung und die ganze Galerie der gegenwärtigen
Regierungsminister des Likud und seine Verbündeten bestehen aus unbedeuteten
Figuren. Nicht einen einzigen von ihnen könnte ich mir wirklich als den Mann
(oder die Frau) vorstellen, der/die verantwortlich für die Zukunft Israels sein
könnte. Gott bewahre (ob Er nun existiert oder nicht existiert).
FALLS ES
keinem gelingt, eine neue Regierung in die gegenwärtige Knesset aufzusetzen,
müsste eine neue gewählt werden.
Können neue Wahlen eine andere Mehrheit produzieren? Es ist möglich, aber nicht
sicher.
In einem normalen Land, nach einer fast unglaublichen Reihe von
Korruptions-Affären, würde die Opposition die Macht erlangen, und einer ihrer
Führer würde Ministerpräsident werden. Sehr einfach.
Aber Israel ist kein normales Land. Es gibt eine tiefe Kluft zwischen der Linken
und der Rechten mit nichts in der Mitte. Denn große Blöcke von Wählern, die sich
von Rechts nach Links bewegen, sind fast unmöglich.
Ein Professor erzählte mir einmal: „Ein britischer Ministerpräsident, der alle
führenden Regierungspositionen mit Verwandten besetzt, würde als korrupt
betrachtet werden. Ein ägyptischer Führer der das nicht tut würde als Egoistisch
angesehen werden. Was, er hat so viel Glück und würde dies nicht mit seiner
Familie teilen?“
Es scheint, dass je mehr Beweise über Netanjahus Korruption auftauchen, um so
leidenschaftlicher unterstützen ihn seine Parteimitglieder. Alles ist eine
Schmutz-Kampagne der üblen Linken. Es sind alles falsche Nachrichten. Die
Polizei steckt mit einer verräterischen Ashkenazi-Labor-Partei unter einer
Decke (Trotz der Tatsache, dass der Polizeichef, der von Netanjahu persönlich
ernannt wurde, ein jemenitischer Kippaträger und früherer Geheimdienstoffizier
ist.)
DIE NÄCHSTE
Knesset wird wahrscheinlich mehr oder weniger wie die gegenwärtige aussehen.
Wenn dies der Fall ist, was kann geschehen?
Von den 120 Mitgliedern der gegenwärtigen Knesset gehören 30 zur Likud, 10 zu
KULANU ( „alle von uns“), eine Splitterpartei eines früheren Likudmitglieds, 8
zur religiösen jüdischen Heimpartei, 7 zur orientalisch-religiösen Partei, 6
zu Avigdor Liebermans extremer rechten „Israel unser Heim“-Partei, 6 zur
orthodoxen Partei. Dies ist die Regierungs-Koalition. Zusammen 67.
Die Opposition besteht aus 24 Labor-Mitgliedern („Zionistisches Lager“ genannt),
11 Yair Lapid „es gibt eine Zukunft“-Partei, 5 Meretz-Mitglieder und die 13
arabischen Mitglieder, die kaum jemand zählt. Zusammen 53.
Nehmen wir an, dass die Ergebnisse der nächsten Wahlen mehr oder weniger
dieselben sind, ziehen diese Zahlen das Auge fast automatisch auf die 10
Mitglieder von Kulanu. Ihr unbestrittener Führer ist Moshe Kachlon, gegenwärtig
der immer lächelnde Finanzminister, der als liberal und moderat angesehen
wird. Könnte er das Lager wechseln?
Tatsächlich nimmt jeder an, dass bei den nächsten Wahlen die Labor-Partei
abwärts gehen wird. Nachdem man die Führer wie die Hemden gewechselt hat,
wurde ein orientalischer Boss, Avi Gabbai, gewählt, um den Fluch „eine
Ashkenazi-Partei" zu sein abzuschütteln. Das wirkte nicht. Unter Gabbai verliert
die Partei Stimmen bei Meinungsumfragen. (Der Likud mit seiner überwältigenden
orientalischen Mitgliedschaft wählt immer Ashkenazi-Führer wie Netanjahu.)
Falls Labor abwärts geht, geht Lapids Partei nach oben. Sie mag die größte
Partei werden. Dies würde Lapid zum wahrscheinlichen Kandidaten des
Ministerpräsidenten machen, vorausgesetzt es gelingt ihm Kachlon auf seine Seite
zu ziehen.
Doch wer ist Lapid? Er ist der perfekte Politiker. Er sieht im Fernsehen gut
aus. Er spricht gut und sagt nichts. Diese ideologische Leere ist ein großer
Vorteil: Er ist für jeden alles.
Sein Vater, den ich gut kannte, war ein Holocaust-Überlebende aus Ungarn; er
erinnert sich lebhaft an seine Kindheit im Budapester Ghetto. Er war ein
liberaler Politiker, aber mit einer extrem nationalistischen Anschauung. Der
Sohn hat dieselbe Anschauung.
Was würde Ministerpräsident Lapid um den Frieden tun? Keiner weiß das . Er würde
es psychisch schwierig finden, die Araber in seine Koalition einzuschließen, was
ihn eine Mehrheit vorenthalten würde. Die Araber könnten ihn „ von außen“
unterstützen – wie es Yitzhak Rabin geschehen ist und so das Oslo-Abkommen
möglich machte. Aber einige warnen, dass unter Lapid „ wir uns nach Netanjahu
sehnen würden“.
Viele träumen von einer völlig neuen Partei, eine Union aller liberaler,
progressiver, Frieden-liebender Elemente mit einer neuen, jungen Führung, die
die israelische Politik gründlich überholen würde. Doch da gibt es noch keine
Anzeichen-
Im Gegenteil: die jungen Leute wenden sich mit Verachtung von der Politik ab und
engagieren sich mit direkter Aktion, bekämpfen die Siedler und versuchen, die
arabische Bevölkerung zu schützen. Wunderbare Leute, bedeutende Aktionen – aber
vollkommen ohne Einfluss auf die Politik. Und – leider entscheidet die Politik
unsere Zukunft.
ICH LIEBE
Israel. Meine Kameraden und ich schufen es und zahlten dafür mit unserm Blut
(buchstäblich). Mein Herz schmerzt, wenn ich sehe, was geschehen ist.
Aber ich bleibe ein Optimist. Ich glaube weiter, dass irgendwie, irgendwo die
Rettung kommen wird. Neue politische Kräfte werden auftauchen und die Führung
übernehmen .
Unsere muslimischen Freunde würden sagen: Inshallah (wenn Allah es will).
(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)