Israel Palästina Nahost Konflikt Infos
Uri Avnery,
12.7.14
BOMBEN
FALLEN auf Gaza und Raketen auf Israel,
Menschen sterben und Häuser werden wieder zerstört.
Immer
wieder ohne Zweck. Wieder mit der
Sicherheit, dass wenn es vorbei ist, wird alles im Wesentlichen so sein wie
vorher.
Aber ich
kann kaum auf die Sirenen hören, die vor Raketen warnen, die nach Tel Aviv
fliegen. Ich kann das Entsetzliche,
das in Jerusalem geschah, nicht aus meinem Gedächtnis reißen.
WENN
EINE Bande Neo-Nazis einen 16-Jährigen Jungen in einem Londoner jüdischen
Viertel bei Dunkelheit zum Hydepark geschleppt hätte, ihn dort geschlagen, ihm
Benzin in den Mund gegossen, ihn damit übergossen
und dann angezündet hätte – was wäre dann geschehen?
Wäre
England dann in einem Sturm von Zorn und Entrüstung geraten?
Hätte
nicht die Königin ihrem Entsetzen Ausdruck verliehen?
Wäre
nicht der Ministerpräsident zur Wohnung
der trauernden Familie geeilt, um
sich für die ganze Nation zu entschuldigen?
Wäre
nicht die Führung der Neo-Nazis, ihre aktiven Unterstützer und Gehirnwäscher,
angeklagt und verurteilt worden?
Vielleicht in England. Vielleicht in Deutschland.
Nicht
hier.
DIE
ABSCHEULICHE Gräueltat fand in Jerusalem statt. Ein palästinensischer Junge
wurde entführt und bei lebendigem Leibe verbrannt. Kein rassistisches Verbrechen
kam diesem in Israel nah.
Menschen
lebend verbrennen, ist überall eine Scheußlichkeit. In einem Staat, der
behauptet „jüdisch“ zu sein, ist dies sogar noch schlimmer.
In der
jüdischen Geschichte kommt nur ein Kapitel dem Holocaust nahe: die spanische
Inquisition. Diese katholische Institution folterte Juden und verbrannte sie
lebendig auf dem Scheiterhaufen. Später geschah dies manchmal bei russischen
Pogromen. Sogar der fanatischste Feind Israels könnte sich so eine entsetzliche
Sache nicht in Israel vorstellen.
Nach
israelischem Gesetz ist Ost-Jerusalem kein besetztes Land. Es ist ein Teil des
souveränen Israel.
DIE
REIHE der Ereignisse war folgende:
Zwei
Palästinenser, die anscheinend allein handelten, kidnappten drei israelische
Teenager, die versuchten nachts per
Anhalter, von einer Jeshivaschule nahe Hebron nach Hause in eine Siedlung zu
kommen. Das Ziel war wahrscheinlich, sie als Geiseln
zur Befreiung von palästinensischen
Gefangenen zu verwenden.
Die
Aktion ging schief, als es einem
der drei gelang, mit seinem Handy das israelische Polizei-Nottelefon anzurufen.
Die Entführer, die nun vermuteten,
dass die Polizei bald hinter ihnen her sei, gerieten in Panik und schossen die
drei gleich tot. Sie verscharrten die Leichen in einem Feld und flohen.
Tatsächlich vermasselte die Polizei
den Anruf - nahm ihn nicht ernst -
und begann ihre Jagd erst am nächsten
Morgen).
Ganz
Israel war in Aufruhr. Viele tausende Soldaten wurden drei Wochen damit
beschäftigt, auf der Suche nach den drei Jugendlichen Tausende von Wohnungen,
Höhlen und Felder zu durchsuchen.
Der
öffentliche Aufruhr war sicherlich gerechtfertigt. Aber bald
verwandelte sich dieser in eine Orgie rassistischer Aufwiegelung, die von
Tag zu Tag schlimmer wurde. Zeitungen, Radiostationen und TV-Netzwerke
wetteiferten miteinander mit dreisten rassistischen Schmähreden, wiederholten
die offizielle Linie bis zur Übelkeit und fügten ihren eigenen widerlichen
Kommentar hinzu – jeden Tag, rund um die Uhr.
Die
Sicherheitsdienste der Palästinensischen Behörde, die
mit dem israelischen Sicherheitsdienst überall zusammenarbeitete, spielte
eine große Rolle beim frühen Entdecken der Identität der beiden Entführer (ohne
sie zu fangen). Mahmood Abbas, der
PA-Präsident, stand bei einem Treffen der arabischen Länder auf und verurteilte
das Kidnapping unmissverständlich
und wurde von vielen seiner eigenen Leute als arabischer Quisling
bezeichnet. Israelische Verantwortliche
nannten ihn andrerseits
einen Heuchler.
Israels
führende Politiker ließen einen Hetzsturm los, der woanders als regelrechter
Faschismus angesehen worden wäre.
Hier eine kurze Auswahl:
Danny
Danon, vertretender Verteidigungsminister: „Falls ein russischer Junge
entführt worden wäre, hätte Putin ein Dorf nach dem anderen platt
gemacht.“
Der
„jüdisches Heim“ –Fraktionsführer Ayala Shaked: „Mit einem Volk, dessen Helden
Kindermörder sind, müssen wir entsprechend umgehen. (Jüdische Heim-Partei ist
ein Teil der Regierungskoalition)
Noam
Perl, Weltchef von Bnei Akiva, die Jugendbewegung der Siedler: „Eine ganze
Nation und Tausende von Jahren Geschichte verlangen: Rache!“
Uri
Bank, früherer Sekretär von Uri Ariel, Wohnungsbauminister, Erbauer der
Siedlungen: „Dies ist der richtige Moment. Wenn unsere Kinder verletzt werden,
fangen wir an zu toben, grenzenlos, demontieren die Palästinensische Behörde,
annektieren Judäa und Samaria, exekutieren alle Gefangenen, die wegen Mord
verurteilt wurden, vertreiben Familienmitglieder von Terroristen!“
Und
Benjamin Netanjahu selbst spricht über das ganze palästinensische Volk: „Sie
sind nicht wie wir. Wir heiligen das Leben, sie heiligen den Tod!“
Als die
Leichen der drei von
Touristenführern gefunden wurden, erreichte die Explosion einen neuen Höhepunkt.
Soldaten setzten zehntausende von Botschaften ins Internet und riefen zur Rache
auf, Politiker stachelten sie an, die Medien fügten dem noch Öl ins Feuer,
Lynchmob versammelte sich an vielen Plätzen in Jerusalem, um arabische Arbeiter
zu jagen und zusammenzuschlagen.
Außer
ein paar einsamen Stimmen, schien es, dass das ganze Israel sich in einen
Fußballmob verwandelt habe und „Tod den Arabern!“ schrie.
(Kann
sich heute irgendjemand eine europäische
oder amerikanische Menge vorstellen,
die „Tod den Juden!“ schreit?)
DIE
SECHS, die bis jetzt wegen des bestialischen Mordes
des arabischen Jungen verhaftet
wurden, waren direkt von einer dieser „Tod den Arabern!“-Demonstrationen
gekommen.
Zuerst
hatten sie versucht, einen 9Jährigen Jungen aus demselben arabischen
Viertel, Shuafat zu kidnappen. Einer von ihnen fing den Jungen auf der Straße
und zog ihn zu ihrem PKW, während der ihn gleichzeitig würgte. Glücklicherweise
gelang es dem Kind, nach seiner Mutter zu rufen. Die Mutter
begann, den Kidnapper mit
dem Handy zu schlagen. Er geriet in
Panik und floh. Die Würgemale am
Hals des Jungen konnten noch mehrere Tage gesehen werden.
Am
nächsten Tag kehrte die Gruppe zurück, fing Muhammad
Abu-Kheir, ein 16Jähriger fröhlicher Junge mit einem gewinnenden Lächeln, goss
Benzin in seinen Mund und verbrannten ihn zu Tode.
(Als ob
dies noch nicht genug wäre, fingen Grenzpolizisten
während einer Protestdemonstration seinen Cousin, legte ihm Handschellen um,
warf ihn auf den Boden und begann ihn auf den Kopf und ins Gesicht zu treten.
Seine Wunden sehen schrecklich aus. Der entstellte Junge wurde verhaftet, die
Polizisten nicht.)
DIE
GRAUSAME Weise, mit der Muhammad ermordet wurde, wurde zuerst nicht erwähnt. Die
Tatsache wurde von einem arabischen Pathologe enthüllt, der bei der offiziellen
Autopsie anwesend war. Die meisten israelischen Zeitungen erwähnten die Tatsache
mit ein paar Worten auf einer inneren Seite. Die meisten TV-Sendungen
erwähnten die Tatsache überhaupt nicht.
Im
eigentlichen Israel erhoben sich die arabischen Bürger, wie sie es seit vielen
Jahren nicht getan haben. Gewalttätige Demonstrationen
dauerten mehrere Tage im ganzen Land. Gleichzeitig explodierte im
Gazastreifen die Grenzlinie mit einer neuen Raketenorgie und Luftangriffen in
einem Minikrieg, der bereits einen Namen hat: „Solid Rock“ („Solider Kliff“ –
für das Ausland wurde ein anderer Propagandaname erfunden). Der neue ägyptische
Diktator kollaboriert mit der israelischen Armee beim Ersticken des
Gazastreifens.
DIE
NAMEN der sechs Verdächtigen des
Brandmordes – einige von ihnen haben sich zu der entsetzlichen Tat bekannt –
werden noch zurückgehalten. Aber inoffizielle Berichte sagen, dass sie zur
Orthodoxen Gemeinde gehören. Anscheinend hat
diese Gemeinde, die traditionell
anti-zionistisch und moderat ist, jetzt Neo-Nazis hervorgebracht, die sogar ihre
religiös-zionistischen Konkurrenten
übertreffen.
Doch so
schrecklich die Tat selbst ist, so ist meiner Meinung nach, die öffentliche
Reaktion sogar noch schlimmer. Weil es gar keine gibt.
Stimmt,
ein paar sporadische Stimmen sind gehört worden. Viele
normale Leute äußerten ihre
Abscheu im privaten Gespräch. Aber
der ohrenbetäubende, moralische Skandal, den man erwarten konnte, kam nicht
zustande.
Es wurde
alles getan, um den Vorfall klein zu halten, verhinderte seine Publikation im
Ausland und selbst innerhalb Israel. Das Leben ging wie gewöhnlich weiter. Ein
paar Minister und andere Politiker verurteilten die Tat mit Routinephrasen,
damit sie im Ausland zitiert werden.
Die
Fußballweltmeisterschaft in Brasilien gewinnt weit mehr Interesse. Selbst auf
der Linken wurde die Grausamkeit als eine von vielen Untaten der Besatzung
behandelt.
Wo ist
der große Aufschrei, die moralische
Empörung der Nation, die einstimmige Entscheidung, den Rassismus auszurotten,
der solche Grausamkeiten möglich macht?
DAS NEUE
Aufflackern in und rund um den
Gazastreifen hat diese Gräueltat ausgelöscht.
Sirenen
tönen in Jerusalem und in Städten nördlich von Tel Aviv. Die Raketen, die auf
die israelische Bevölkerungszentren zielen, wurden (bis jetzt) erfolgreich
von Gegenraketen
abgefangen. Aber hundert Tausende von
Männern, Frauen und Kindern rennen in die Luftschutzbunker. Auf der andern Seite
machen Hunderte von täglichen
Einsätzen der israelischen Luftwaffe den Gazastreifen zur Hölle.
Wenn die
Kanone brüllt, werden die Musen
still.
Auch das
Mitleid für einen Jungen, der zu Tode verbrannte.
(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)