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Uri Avnery,
10.12.2014
AM MONTAG
stimmte die Knesset zu, sich selbst aufzulösen, weniger als zwei Jahre nach
ihrer letzten Wahl. Für viele
ihrer Mitglieder war es ein trauriger
Tag, eine Art politischer Hara-kiri. Sie haben nicht die Chance, wieder gewählt
zu werden. Einige von ihnen sind
so, dass man sie getrost vergessen kann: ich kann mir ihre Namen und ihre
Gesichter nicht ins Gedächtnis zurückrufen.
Am Tag danach
explodierte in den TV-Nachrichten eine Bombe. Kanal 10 – etwas
liberaler als die beiden andern Kanäle
-- veröffentlichte die Ergebnisse
einer schnellen öffentlichen
Meinungsumfrage durch einen geachteten Meinungsforscher.
Sie waren
erstaunlich.
DAS ERSTE
Ergebnis war, dass die Labor-Partei nach ihrer erwarteten Vereinigung mit Zipi
Livnis „Bewegungs-Partei“ in der nächsten Knesset die größte Partei sein wird.
Die Israelis
schnappten nach Luft. Was? Labor? Eine Partei, die
viele für klinisch tot hielten?
Natürlich ist
dies nur die erste von Hunderten von Meinungsumfragen vor dem Wahltag am 17.
März 2015. (Seitdem haben andere Umfragen ihre Ergebnisse bestätigt.)
Ein zweites
Ergebnis war, dass der Likud an zweiter Stelle genau dieselbe Anzahl von Sitzen
bekäme, ob er nun von Benjamin Netanjahu geleitet würde oder von seinem
Herausforderer Gideon Sa’ar, einem
glanzlosen Parteifunktionär (und
einem früheren Angestellten von mir). Als Innenminister tat er sich
hauptsächlich dadurch hervor, dass er afrikanische Asylsuchende
verfolgte. (Er hat sich seitdem zurückgezogen.)
Ist es
möglich? Dass Netanjahu der
Große, der „freundliche Bibi“ des
Time-Magazins, nicht länger ein Stimmenmagnet ist?
Die Partei von
Yair Lapid, der Held der letzten Wahlen, schrumpft auf die Hälfte der Sitze. Wie
die Staude im Buch Jonah, „die in einer
Nacht hochwuchs (und Schatten spendete) und in einer Nacht verdorrte“).
Aber die
wirkliche Sensation der Meinungsumfrage war etwas anderes: obwohl Netanjahu noch
immer die Liste bevorzugter Kandidaten für den Minister-präsidenten anführte,
kam Jitzhak Herzog, der Führer von Labor so nah an ihn heran, um praktisch
keinen Unterschied zu machen.
Nur einen
Monat zuvor wäre solch ein Ergebnis wie ein lustiger Witz
erschienen. Zu jener Zeit hatte Netanjahu die unanfechtbare
Führung, der über allen anderen emporragte. Nach
konventioneller Weisheit
hieß es: „da gibt es keinen anderen“.
Doch jetzt
gibt es einen. Herzog! Herzog?
HERZOG IST ein
deutsches Wort. Jitzhak, allgemein Buji genannt (seine Mutter nannte ihn als
Kind so), ist tatsächlich „aristokratischen“ Ursprungs.
Sein
Großvater, Jitzhak Herzog (nach dem er- nach jüdischer Tradition genannt wurde)
war der Oberrabbiner von
Irland. Er hatte einen solch guten Ruf, dass er in den 30erJahren berufen wurde,
der Aschkenazi-Oberrabbiner von Palästina zu werden. Er wurde
(vergleichsweise) für liberal gehalten.
Sein Sohn
Chaim studierte in England und zeichnete sich als Boxer aus und schloss sich der
britischen Armee im 2. Weltkrieg an. Er diente als Nachrichtenoffizier in
Ägypten, als er dort Susan Ambash, die Tochter einer reichen lokalen jüdischen
Familie traf.
Die beiden
Ambash-Mädchen wurden
samstags in die Synagoge geschickt. An einem Schabbat trafen sie zwei jüdische
Offiziere, die sie zum Schabbat-Mahl nach Hause einladen durften. Der
eine war Chaim Herzog und der andere Aubey (Abba) Eban. Sie heirateten sie.
Im
1948er-Krieg schloss sich Chaim Herzog der neuen israelischen Armee als Offizier
des Nachrichtendienstes an; schließlich wurde er General und Chef des
Armee-Nachrichtendienstes. Nach Verlassen der Armee gründete er das, was die
größte und reichste israelische Firma der
Rechtsanwälte wurde.
Aber seine
wirklichen Ruhmestage kamen vor dem des Sechs-Tage-Krieg.
Drei Wochen lang wurde Israel Opfer akuter Ängste. Einige sprachen davon,
dass ein zweiter Holocaust komme. Während dieser Zeit hatte General Herzog ein
tägliches Programm im Radio. Es gelang ihm, die öffentliche Stimmung mit seiner
nüchternen, sensiblen Analyse zu beruhigen. Weder verkleinerte noch
übertrieb er die bevorstehende Gefahr.
Die Menschen
belohnten ihn mit der Präsidentschaft des Staates. Auf diesem Posten war er mehr
Brite als Israeli. Ein Beispiel: in einer Zeit, als ich von allen leitenden
Persönlichkeiten des Establishments
boykottiert wurde, wurde ich von einer Einladung
überrascht: zu einem privaten
Essen mit ihm in die
Präsidentenresidenz.
Wir hatten ein
freundliches Gespräch ohne besondere Themen. Er wollte mich nur kennen lernen.
Ich benützte
die Gelegenheit und bat ihn inständig um seine Einmischung bei den
Sicherheitsarrangements am Ben-Gurion-Flughafen, wo arabische
Bürger routinemäßig aus der
anstehenden Reihe herausgeholt wurden (und noch werden) und in demütigender
Weise durchsucht werden. (Er
versprach es, aber nichts änderte sich.)
Ich hatte ein
ähnliches Mahl mit seinem Bruder Jakob,
der damals Generaldirektor des
Minister-Präsidentenamts war. Von den beiden Brüdern
wurde Jakob als der mit herausragendem Verstand angesehen.
Ich predigte damals wie heute die
Zwei-Staaten-Lösung, die zu jener Zeit in Israel und in aller Welt total zurück
gewiesen wurde. Während des Essens
sagte Jakob, er würde gerne meine Argumente für diese Lösung
hören und nahm mich ins Kreuzverhör -
das war wieder eine britische und keine israelische Haltung.
JITZHAK HERZOG
diente in der Armee auch im Nachrichtendienst, bevor er zum Kabinettsekretär
ernannt wurde. Als er sich wie sein Vater der Labor-Partei anschloss, wurde er
Mitglied der Knesset und Minister von verschiedenen kleineren Ministerien.
Zart gebaut,
mit blauen Augen und heller Hautfarbe sieht Herzog (54)
eher wie ein Engländer aus denn als Israeli. Er spricht sanft und drückt
sich in moderater Weise aus und hat keine Feinde. Er ist das Gegenteil eines
typisch israelischen Politikers.
Er überraschte
jeden, als er jemand von diesen
besiegte. Sheli Jachimovitch ist
schroff, offen und streitlustig, eine resolute Sozialistin, die nicht zögert,
den Leuten auf die Füße zu treten. Sie brachte zu viele Kollegen gegen sich auf
und wurde abgewählt. Buji wurde
Führer der Partei und automatisch „Führer der Opposition“, ein Titel und Status,
entsprechend dem Gesetz für den Führer der größten Oppositionspartei.
(Einer der
kleinen politischen Scherze: Herzog war dabei, diesen Titel und die
Sozialleistungen, die damit verbunden sind, zu verlieren, als Netanjahu Lapid
entließ, dessen Knesset-Fraktion größer als Labor ist. Da die Knesset sich
auflöst, erbte Lapid den Titel nicht.)
ALS HERZOG die
Parteiführung übernahm, verlor er keine Zeit, sich jetzt selbst zum Kandidaten
als Ministerpräsident zu erklären. Dies wurde allgemein mit einem toleranten
Lächeln entgegen genommen.
Jetzt scheint
dies, zum ersten Mal möglich zu
sein. Wahrscheinlich, aber das Unmögliche ist möglich
geworden. Das Undenkbare denkbar. Dies ist an sich schon eine Revolution.
Während der
letzten Jahre sind die israelischen Medien von der Idee besessen gewesen,
„Israel bewege sich zur Rechten hin“.
Dass Netanjahu – so schlecht er ist – jenen vorzuziehen ist, die
ihm unweigerlich folgen würden
- Faschisten, Kriegstreiber, Araberfresser.
Es war fast
Mode, zu erklären, dass die Linke erledigt sei, tot, verstorben. Unter den
Kommentatoren - besonders unter den Linken- ist
es unerlässlich, die restlichen Linken
zu verhöhnen. Arme
Kerle (und natürlich arme Mädels) Sie können nicht sehen, was vor sich
geht. Sie hegen Illusionen,
pfeifen in der zunehmenden Dunkelheit.
Und plötzlich
gibt es eine Chance – zwar eine entfernte, aber eine Chance,
dass die Linke wieder an die Macht kommt.
WARUM? WAS ist
geschehen?
Die einfachste
Erklärung ist, dass die Leute von „Bibi“ genug hatten. Netanjahu ist eine
Person, von der man schnell die Nase voll hatte. Tatsächlich
ist ihm dies vorher geschehen.
Sarahle, seine Frau, die allgemein unbeliebt ist, hilft auch nicht.
Aber ich
glaube, es hat noch einen tieferen Grund. Die Meinungsumfrage zeigt, der Likud
würde mit einem anderen Hauptkandidaten nicht besser fahren. Hat der Likud
seinen Kontakt verloren?
Zwei Faktoren
haben dazu beigetragen:
Zunächst
Moshe Kachlon, ein vormaliger typischer Likud-Anhänger, unter seinen
Parteigenossen sehr populär, verlässt,
ohne einen Grund anzugeben, seine Partei.
Als Minister
für das Kommunikationswesen, einem sehr kleinen Ministerium, war Kachlon
sehr beliebt geworden. Er nahm sich der
Großindustriellen der Mobil-Telefone an, brach ihr Monopol, führte einen
Wettbewerb ein und halbierte die
Preise. Es ist schwer, sich einen jungen Israeli – männlich oder weiblich – ohne
ein Mobiltelefon am Ohr vorzustellen. So
wurde er ein Held.
Jetzt hat
Kachlon, der nur zwei Monate jünger als Herzog ist, verkündet, dass er dabei
ist, eine neue Partei zu gründen.
Sie wird
„Kulanu“ (Wir alle) genannt. Obwohl sie noch keine Kandidaten hat,
tauchte sie in der Meinungsumfrage schon mit zehn Sitzen auf – meistens frühere
Likudwähler.
Dies ist aus
mehreren Gründen unglaublich bedeutsam. Erstens besteht die Grundwählerschaft
des Likud aus orientalischen Juden, auch wenn Menachem Begin, Netanjahu und die
meisten ihrer Kollegen Aschkenazim waren bzw. sind.
Kachlon ist so orientalisch wie man
sich nur denken kann: seine Eltern kommen aus Tripoli (Libyen). Sie
haben sieben Kinder und Moshe wuchs mit
ihnen in einem armen Immigrantenviertel auf.
Den Einfluss
des Likud auf die orientalische
Gemeinschaft, ist äußerst bedeutsam.
Speziell wenn Kachlon Begin als den Führer zitiert, der die ganze
Sinai-Halbinsel für Frieden mit Ägypten aufgab. Sein „moderater Likud“
könnte in der nächsten Knesset das ganze Gleichgewicht zwischen
dem rechten Flügel und Mitte-Links
verändern. Und genau dies zählt.
Der zweite
Faktor: Bennetts extrem rechte
Partei, die
religiös-nationalistische „Jüdisches Heim“ -Partei( manche sagen Faschisten)
gewinnt an Stärke – auch sie gewinnen
Stimmen vom Likud. Naftali
Bennet, glatt, liebenswürdig, mit
der kleinsten Kippa der Welt auf seinem Kopf findet auch bei säkularen Wählern
Anklang.
Er ist 12
Jahre jünger als Herzog und Kachlon.
Gewöhnlich
halten die orthodoxen Parteien den Schlüssel. Da sie sich weder um den linken
noch den rechten Flügel kümmern und nur sich selbst verbunden sind, können sie
wählen.
Lange Zeit
waren sie die Verbündeten von Labor. Während der letzten paar
Jahrzehnte waren sie automatisch Verbündete der Rechten. Nach den letzten
Wahlen ließ Netanjahu sie wegen des
ultra-säkularen Lapid fallen. Nun sind sie dabei, sich zu rächen. Da Herzog der
Enkel eines Oberrabbiners ist, ist er wählbar.
HERZOG HATTE
seinen ersten Erfolg bei der
augenblicklichen Kampagne, als er mit Zipi Livni, eine
gemeinsame Liste aufstellte. Nun ist es
an ihm, den Moment fest zu halten und
- möglicherweise - Bündnisse mit Lapid, Kachlon und Meretz zu knüpfen.
Falls er bei den Wahlen
erfolgreich ist, muss er seine Hände nur
noch nach den Orthodoxen und den Arabern ausstrecken.
In der letzten
Woche skizzierte ich diese Vision.
In dieser Woche hat sie sich einen kleinen, aber bedeutsamen Schritt
der Realisierung genähert.
Kann der
Herzog König werden? Das ist es,
was uns die Geschichtsbücher erzählen. Aus dem Herzogsgeschlecht der
Hohenzollern kamen Könige und
Kaiser.
(Aus dem
Englischen übersetzt: Ellen Rohlfs, vom Verfasserautorisiert)