Israel Palästina Nahost Konflikt Infos
Uri Avnery,
8.11. 2014
FALLS ISIS sich in dieser Woche
Israels Grenzen genähert hätte, niemand hätte es bemerkt. Israel war
von einem Justizdrama gefesselt.
Im Jerusalemer Distrikt-Gericht stand der frühere Ministerpräsident Ehud Olmert
seiner ehemaligen Sekretärin,
Schula Saken, gegenüber. Keiner konnte
seine Augen von ihnen abwenden. Es war der Stoff, aus dem die
Fernseh-Seifenopern gemacht sind.
SCHULA WAR ein 17jähriges
Jerusalemer Mädchen, als sie Ehud das erste Mal traf. Er war ein
junger Advokat, sie war eine neue Sekretärin im selben Büro.
Seitdem, seit mehr als 40 Jahren, war Schula Ehuds Schatten, eine sehr treue
Sekretärin, die ihrem ehrgeizigen
Chef von Station zu Station folgte – Bürgermeister von Jerusalem,
dann israelischer
Handelsminister und schließlich Ministerpräsident. Sie war seine engste
Mitarbeiterin, seine Vertraute, alles.
Und dann ging alles in die Luft. Olmert wurde verschiedener großer
Korruptionsaffären angeklagt und wurde gezwungen, zurückzutreten. Seit Jahren
ist er jetzt wie ein festes Inventar in den Gerichtsräumen und
beim TV Justizberichte
geworden. Schula Saken, jetzt 57 Jahre alt. eher eine
beleibte, beherzte Matrone, ist seine Mit-Angeklagte. Sie unterstützte
ihn durch dick und dünn, bis er in seiner Zeugenaussage alle Schuld auf sie
legte. Schula wurde für 11 Monate ins Gefängnis gesteckt. Ehud wurde (wieder)
entlassen.
Dies war der Wendepunkt. Es stellte sich heraus, dass die treue Sekretärin
jahrelang die privaten Gespräche ihres Chefs mit ihr aufgenommen hatte.
Sie behauptet, dass sie nicht leben könne, ohne jederzeit seine Stimme zu
hören. Andere sahen darin eine Art
Lebensversicherung.
Und tatsächlich nachdem Schula in dieser Woche ein
Abkommen mit der Anklagevertretung
gemacht hatte, hörte sich das Gericht eine ganze Menge von Aufnahmen an,
die Olmert für Jahre ins Gefängnis bringen können.
Das Drama zwischen den beiden Personen war unwiderstehlich. Es
stand vor allen anderen Nachrichten und wischte fast alles andere vom
Tisch. Aber wenige beschäftigten sich mit der realen Bedeutung der Affäre.
Die Berichte zeigten auf der höchsten Ebene der Regierung
eine völlig von Korruption durchzogene Atmosphäre.
Große Bestechungssummen
kursierten als
Selbstverständlichkeit. Die Beziehung zwischen den Magnaten und dem
Ministerpräsident war so intim, dass Olmert
jeden Magnat per Telefon bitten konnte, Zehntausende Dollar an seine
Sekretärin zu zahlen für sein
persönliches Luxusleben und dann
für ihr Schweigen.
Die Berichte zeigen nicht, was die Ultrareichen dafür bekamen. Man kann nur
raten.
Es sieht so aus, als ob dieselbe Symbiose zwischen den Spitzenpolitikern und den
„Wealthies“, (das amerikanische Synonym für „stinkreich“) in den USA
herrscht. Auch in dieser Hinsicht wächst die Ähnlichkeit der beiden Länder. Wir
haben tatsächlich gemeinsame Werte – die Werte der winzigen Gruppe von
Plutokraten, die die Spitzenpolitiker in beiden Ländern beschäftigen.
WÄHREND JEDER auf die
Gerichts-Szenen starrte, wer
beobachtete, was sich jenseits unserer Grenzen ereignete?
Vor etwa 2400 Jahren waren die
Gallier dabei, einen nächtlichen
Überraschungsangriff auf Rom zu
starten. Die Stadt wurde von den Gänsen
des Tempels auf dem Kapitolhügel gerettet; sie machten einen solchen Lärm
mit ihrem Geschnatter, dass die Bevölkerung bei Zeiten aufwachte.
Wir haben keinen Tempel und keine Gänse, die uns warnen könnten, nur einige
Nachrichtendienste mit einer gleichbleibenden
Höchstleistung von Misserfolgen.
ISIS ist weit weg. Laut Netanjahu
haben wir Feinde in Hülle und Fülle, die
viel näher sind: Hamas, Mamoud Abbas, „die Palästinenser“, „die Araber“,
Hisbollah und irgendwo
in der Ferne „die Bombe“ (d.h. im Iran).
Meiner Meinung nach, ist keiner davon eine existentielle Gefahr für uns. ISIS
ist es.
WIE ICH schon früher sagte, soll ISIS („der islamische Staat“)
keine militärische Gefahr darstellen. Die gegenwärtigen und vorherigen
Generäle, die Israels Politik gestalten, können nur lachen, wenn diese Gefahr
erwähnt wird. Ein paar zehntausend leicht bewaffnete Kämpfer gegen das riesige
israelische militärische
Establishment Israels? Lächeln,
wenn diese Gefahr erwähnt wird.
In der Tat, so ist es. In militärischer
Sprache.
Die Israelis sind wie die Amerikaner praktische Leute. Sie erkennen die Macht
der Ideen nicht an. Sie denken wie Stalin, der,
als er vor dem Papst gewarnt wurde, fragte: „Wie viele Divisionen
hat er?“
Es sind Ideen, die die Welt verändern. Wie jene des legendären Moses. Oder Jesus
von Nazareth. Oder Mohammed. Oder Karl Marx. Wie viele Divisionen hatte Lenin,
als er durch Deutschland in einem versiegelten Zug fuhr?
ISIS hat eine Idee, die über die Region hinweg sausen kann:
das tun, was Mohammed tat, das Kalifat wieder herzustellen, das von
Spanien bis Indien herrschte, die künstlichen Grenzen wegzufegen, die die
islamische Welt teilen, die erbärmlichen und korrupten arabischen Herrscher zu
vertreiben, die Ungläubigen (einschließlich uns) zu
vernichten.
Für Millionen und Aber-millionen junger Muslime in ihren kraftlosen und
verarmten erfolglosen Staaten ist
dies eine Idee, die ihren Rücken aufrichtet und ihre Brust schwellen lässt.
Ideen können nicht von Spionage-Drohnen
geknackt werden. Sie können nicht aus schweren Bombern vernichtet werden.
Die amerikanische Überzeugung, dass man historische Probleme
durch Bombenangriffe lösen könne, ist eine primitive Illusion.
ES IST eine alte israelische Beschwerde, dass,
wann immer irgendetwas in unserer Region falsch läuft, Israel die Schuld
gegeben wird. Denke an Sabra und Shatila.
Wie unser damaliger Stabschef erklärte: „Goyim töten Goyim, und den Juden
wird die Schuld gegeben“.
Noch einmal. ISIS hat nichts mit uns zu tun. Es ist eine rein islamische
Angelegenheit. Aber viele Leute
geben Israel die Schuld.
Doch dieses Mal ist die Vorwurf
nicht ohne Grund. Israel betrachtet
sich selbst als eine Insel in der Region, die berühmte „Villa im Dschungel“.
Doch das ist Wunschdenken. Israel liegt mitten in der Region – und ob wir
es akzeptieren oder nicht: alles, was wir tun oder nicht tun, hat einen riesigen
Einfluss auf alle Länder rings um
uns.
ISIS‘ erstaunliche Erfolge sind eine direkte Folge der allgemeinen Frustration
und Demütigung, der sich eine neue arabische Generation
durch unsere militärische Überlegenheit gegenüber sieht. Die
Unterdrückung der Palästinenser wird von jedem in der arabischen Welt gefühlt.
(Gestern sah ich zufällig im Fernsehen einen alten Saudi-Film über eine
Schülerin , die von ihrer Lehrerin dafür bestraft wurde, weil sie Fahrrad
gefahren ist. Die Strafe war eine Geldstrafe „für unsere palästinensischen
Brüder“. Der Film hatte absolut
nichts mit Palästina zu tun).
FALLS ISRAEL nicht existieren würde,
müsste ISIS es erfinden.
In der Tat könnte jemand mit einer Wahnvostellung für
Verschwörungstheorien zu der Überzeugung gelangen, dass Benjamin
Netanjahu und seine Lakaien geheime ISIS-Agenten seien. Gibt es eine andere
vernünftige Erklärung für ihr Tun?
Es ist eine der Hauptgrundsätze von ISIS, dass der Kampf gegen Israel ein
Religionskrieg sei, in dessen Zentrum
die Heiligen Stätten in Jerusalem sind.
Seit Monaten hat eine Gruppe
jüdischer Zeloten in Jerusalem einen Sturm entfacht, in dem sie sich für
den Bau eines dritten Tempels an Stelle der beiden islamischen heiligen
Bauten einsetzen, den Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee. Diese Gruppe
wird toleriert und sogar von der Polizei und der Regierung gefördert – und
schafft tägliche Nachrichten.
Die heiligen Stätten (oder der „Tempelberg“) ist eine der sensibelsten Orte auf
der Welt. Welcher vernünftige Mensch würde den Status Quo umstürzen und Juden
erlauben, dort zu beten, und den politischen Konflikt in einen religiösen
verwandeln, gerade wie es ISIS wünscht?
In diesen Tagen sind im annektierten Ost-Jerusalem täglich gewalttätige
Proteste. Die Regierung hat
gerade ein Gesetz verabschiedet, das erlaubt, Steine werfende palästinensische
Teenagers müssen für neun Jahre ins Gefängnis. Das ist kein Tipfehler: Jahre,
nicht Monate.
Der letzte Gaza-Krieg hat die
Gefühle in der ganzen arabischen Welt erregt. Die menschlichen und materiellen
Verluste, an denen die palästinensische Bevölkerung litt, bleibt immens, wie
auch die Wut in der ganzen Region. Wer gewinnt? ISIS.
Und so weiter. Ein ständiger Strom von Taten und Untaten bestimmt, dass die
Palästinenser, alle Araber und die ganze muslimische Welt
sich aufregen. Nahrung für ISIS-Propaganda.
WARUM, UM Gottes willen, tun unsere Politiker dies? Weil sie
nur Politiker sind. Ihr einziges Interesse liegt
darin, die nächsten Wahlen zu gewinnen, die früher kommen könnten, als es
das Gesetz fordert. Die Araber unten zu halten, ist
gängig. Und die traditionelle Verachtung für alles Arabische macht sie
blind für die ernsten Gefahren, die
vor uns liegen.
ISIS mag der Beginn einer neuen Ära in unserer Region sein. Eine neue Ära macht
eine neue Bewertung der Realität nötig. Die gestrigen Feinde werden die Freunde
von heute und die Verbündeten von Morgen werden. Oder umgekehrt.
FALLS ISIS jetzt
die vorrangig existentielle Gefahr für uns ist, müssen wir unsere Politik
umfassend neu beurteilen.
Nehmen wir die arabische Friedensinitiative. Seit Jahren
hat sie herumgelegen, wie ein weggeworfenes
Butterbrot-Papier. Sie sagt,
dass die ganze arabische Welt bereit sei, Israel anzuerkennen und normale
Beziehungen mit ihm knüpfe, als Gegenleistung
für das Ende der Besatzung und
ein umfassendes israelisch-palästinensisches Friedensabkommen. Unsere
Regierung hat nicht einmal darauf
geantwortet. Die Besatzung und die Siedlungen sind wichtiger.
Hat das Sinn? Frieden mit Palästina
auf der Basis einer panarabischen Initiative würde viel Wind aus den ISIS-Segeln
nehmen.
Wenn ISIS jetzt unser Hauptfeind ist, werden die vorgestrigen Feinde
mögliche Verbündete. Selbst der widerwärtige Bashar al Assad. Zweifellos
der Iran, Hisbollah und die Hamas. Israel muss seine Einstellung gegenüber all
diesen neu überdenken.
Als die mongolische Invasion 1258
den Irak zerstörte und drohte, die ganze Region zu erobern, öffnete der
Kreuzfahrerstaat seine Tore
und ließ die muslimische Armee passieren und nach
Ein Jalud im Jesreeltal marschieren, wo sie die Mongolen
in einer Schlacht vernichteten, was die Geschichte veränderte.
NUR EIN Israel, das mit Palästina Frieden schließt, kann sich einer neuen
regionalen Ausrichtung anschließen, um ISIS gegenüber zu treten, bevor es die
ganze Region verschlingt. Dies ist eine Sache des Überlebens.
Ein großer israelischer Staatsmann würde die historische Herausforderung
und die historische Gelegenheit wahrnehmen – und sie ergreifen. Leider
ist kein großer israelischer Staatsmann in Sicht. Nur die kleinen Netanjahus,
die nun mit der Geschichte von Ehud und Schula vernietet sind.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)