Israel Palästina Nahost Konflikt Infos
Uri Avnery
1. März 2013
ES IST
der Sommer 1941. Fünf junge Menschen – drei junge Männer und zwei junge Frauen –
treffen sich in einer Bar und verbringen einen fröhlichen Abend, flirten mit
einander, werden betrunken, tanzen verbotene ausländische Tänze. Sie sind
zusammen im selben Berliner
Stadtteil aufgewachsen.
Es ist
eine glückliche Zeit. Adolf Hitler begann vor
anderthalb Jahren einen Krieg und der ging bis dahin
unglaublich gut. In dieser kurzen Zeit eroberte Deutschland Polen,
Dänemark, Norwegen und Holland, Belgien und Frankreich. Die Wehrmacht war
unbesiegbar. Der Führer war ein Genius, „der größte Feldherr aller Zeiten“.
So
beginnt der Film, der gerade in unsern Kinos läuft – ein einzigartiges
historisches Dokument. Er läuft
fünf atemlose Stunden und
beschäftigt die Gedanken und Gefühle seiner Zuschauer noch tage- und wochenlang.
Im
Grunde ist es ein Film, der von Deutschen für Deutsche gedreht wurde. Der
deutsche Titel sagt alles „Unsere Mütter, unsere Väter“. Der Zweck ist, die
Fragen zu beantworten, die heute noch junge Deutsche beunruhigen. „Wer waren
unsere Eltern und Großeltern? Was taten sie während dieses schrecklichen
Krieges? Was empfanden sie? Waren sie an den schrecklichen Verbrechen beteiligt,
die von den Nazis begangen wurden?
Diese
Fragen werden im Film nicht deutlich beantwortet. Aber jeder deutsche Zuschauer
ist gezwungen, sie zu stellen. Es gibt keine klaren Antworten. Der Film
ergründet es nicht. Eher zeigt er ein breites Panorama des deutschen
Volkes in Kriegszeiten, die verschiedenen Teile der Gesellschaft, die
verschiedenen Typen von Kriegsverbrechern, passive Zuschauer bis zu den Opfern.
Der
Holocaust steht nicht im Mittelpunkt der Ereignisse, ist aber ständig anwesend,
nicht als ein besonderes Ereignis, sondern als Teil in die
Struktur der Realität verwoben
DER FILM
beginnt 1941 und deshalb kann die Frage, die für mich die wichtigste wäre, nicht
beantwortet werden. Wie kann eine zivilisierte, vielleicht die kultivierteste
Nation in der Welt eine Regierung wählen, deren Programm
offensichtlich kriminell war.
Es
stimmt, Hitler wurde niemals von einer absoluten Mehrheit in freien Wahlen
gewählt. Aber er kam sehr nah dran. Und er fand leicht politische Partner, die
bereit waren, ihm zu helfen, eine Regierung zu bilden.
Einige
sagten damals: es sei ein einzigartiges deutsches Phänomen gewesen, der Ausdruck
besonderer deutscher Mentalität, während Jahrhunderten der Geschichte
geformt. Diese Theorie ist bis jetzt diskreditiert worden. Aber wenn es so ist,
kann es in einem andern Land geschehen? Könnte es in unserm Land geschehen? Kann
es heute geschehen? Welches sind die Umstände, die das ermöglichen?
Der Film
gibt keine Antwort auf diese Fragen. Er überlässt die Antworten dem Zuschauer.
Die
jungen Helden des Filmes fragen nicht. Sie waren 10 Jahre alt, als die Nazis zur
Macht kamen, und für sie war das „1000-Jährige Reich“ (Wie die Nazis es nannten)
die einzige Realität, die sie kannten. Es war der natürliche Zustand der Dinge.
So beginnt die Handlung.
ZWEI DER
Jugendlichen waren Soldaten. Einer hatte den Krieg schon gesehen und trug
einen Orden für Tapferkeit. Sein
Bruder war gerade eingezogen worden. Der dritte junge Mann war ein Jude. Wie die
beiden Mädchen waren sie voll jugendlichen Überschwangs. Alles sah gut aus.
Der
Krieg? Nun, er kann nicht mehr
lange dauern, oder? Der Führer selbst hat versprochen, dass
bis Weihnachten der Endsieg gewonnen
sein wird. Die fünf jungen Leute
versprachen einander, sich an
Weihnachten wieder zu treffen. Keiner hatte die leiseste, böse Vorahnung
der schrecklichen Erfahrungen, die jedem bevorstanden.
Während
ich diese Szene sah, konnte ich nicht anders, als an meine frühere Klasse
denken. Ein paar Wochen nach der Machtübernahme der Nazis wurde ich ein Schüler
der 1. Klasse des Gymnasiums. Meine
Mitschüler waren gerade so alt, wie
die Helden im Film, Sie sind 1941
eingezogen worden, und da es eine Eliteschule war, sind wahrscheinlich alle
Offiziere geworden.
Nach
einem halben Jahr im Gymnasium, nahm mich meine Familie mit nach Palästina.
Niemals traf ich einen meiner Klassenkameraden wieder, außer einem
(Rudolf Augstein, den Gründer des Magazins Der Spiegel; Ich traf ihn Jahre nach
dem Krieg, und er wurde wieder mein Freund) Was geschah mit allen anderen? Wie
viele überlebten den Krieg? Wie viele waren zu Krüppeln geworden?
Wie viele waren zu Kriegsverbrechern geworden?
Im
Sommer 1941 waren sie wahrscheinlich noch so glücklich wie die Jugendlichen
im Film, die hofften Weihnachten wieder zu Hause zu sein.
DIE
BEIDEN Brüder wurden an die russische Front geschickt, eine unvorstellbare
Hölle. Dem Film gelingt es, die Realitäten des Krieges zu zeigen, leicht
erkennbar von jemandem, der auch ein Soldat im Kampf war. Nur dass dieser Kampf
hier hundertmal schlimmer war, und der
Film zeigt dies brillant.
Der
ältere Bruder, ein Oberstleutnant, versuchte, den Jüngeren zu schützen. Das
Blutbad, das noch vier Jahre weiterging, Tag um Tag, Stunde um Stunde veränderte
ihren Charakter. Sie wurden brutal. Der Tod war rund um sie. Sie sahen
schreckliche Kriegsverbrechen. Sie hatten den Befehl Gefangene zu
erschießen, sie sahen wie jüdische Kinder geschlachtet wurden. Am Anfang wagten
sie, noch schwach zu protestieren, dann behielten sie ihre Zweifel für sich;
dann nahmen sie Teil an den Verbrechen, als
ob es selbstverständlich wäre.
Eine der
jungen Frauen meldete sich freiwillig an die Front in ein Militärkrankenhaus, wo
sie Zeuge schrecklicher Agonien der Verwundeten wurde, eine jüdische
Mitschwester denunzierte und
sofort ein schlechtes Gewissen hatte, am
Ende nahe Berlin von einem Sowjet-russischen Soldaten vergewaltigt wurde, wie
fast alle deutschen Frauen i in den von der rachedürstenden Sowjetarmee
eroberten Gebieten
Die
israelischen Zuschauer im Kino könnten
mehr am Schicksal des jüdischen Jungen interessiert gewesen sein, der an dem
fröhlichen Fest zu Beginn des Filmes teilnahm. Sein Vater ist ein stolzer
Deutscher, der sich nicht vorstellen konnte, dass Deutsche so schlimme von
Hitler angedrohte Dinge tun könnten. Er dachte nicht im Traum daran, sein
geliebtes Vaterland zu verlassen. Aber er warnte seinen Sohn, dass er ja keine
sexuellen Beziehungen mit einer arischen
Freundin haben solle: „es wäre gegen das Gesetz!“
Als der
Sohn ins Ausland fliehen wollte, wozu ihm ein verräterischer Gestapo-Offizier „
half“, wurde er geschnappt und in die Todeslager geschickt. Es gelang ihm,
unterwegs zu fliehen und schloss sich polnischen Partisanen an (die die Juden
noch mehr hassten als die Nazis) und überlebte schließlich.
Vielleicht ist die tragischste Figur das zweite Mädchen, eine leichtfertige,
sorglose Sängerin, die mit einem ranghohen SS-Mann schläft, um ihre Karriere zu
fördern, wird mit ihrer Gruppe an
die Front geschickt, um Soldaten zu unterhalten. So sieht sie, was dort wirklich
geschieht, spricht sich über den Krieg aus, wird ins Gefängnis geschickt und in
den letzten Stunden des Krieges
hingerichtet.
ABER DAS
Schicksal der Helden ist nur das Gerüst des Filmes. Viel wichtiger sind die
kleinen Momente des täglichen Lebens, das Portrait verschiedener Charaktere der
deutschen Gesellschaft.
Zum
Beispiel, wenn ein Freund eine
Wohnung besucht, in der die jüdische Familie
gelebt hatte.; die blonde arische Frau, die den Platz übernommen hat,
beschwert sich über den Zustand der Wohnung, aus der die Juden heraus geholt
worden waren und in den Tod geschickt wurden.
„Sie haben nicht einmal sauber gemacht, bevor sie sie verließen. So sind
die Juden, ein schmutziges Volk!“
Jeder
lebt in ständiger Angst, denunziert zu werden. Es ist ein durchdringender
Terror, dem sich keiner entziehen kann. Selbst an der Front mit dem Tod vor
Augen, eine Andeutung von Zweifel über den Endsieg,
von einem Soldaten geäußert, wird sofort
von seinen Kameraden zum Schweigen gebracht. „Bist du verrückt?“
Noch
schlimmer ist die abgestumpfte
Atmosphäre der universalen Übereinstimmung. Vom höchsten Offizier bis zum
niedrigsten Dienstmädchen, wiederholt jeder endlos die Propagandaparolen des
Regimes. Nicht aus Angst, aber weil sie jedes Wort der alles durchdringenden
Propagandamaschine glauben. Sie hören nichts anderes.
Es ist
immens wichtig, dies zu verstehen. In dem totalitären Staat, faschistisch oder
kommunistisch oder sonst etwas, können nur wenige freie Geister den endlos
wiederholten Slogans der Regierung widerstehen. Alles andere klingt
irreal, anormal, verrückt. Als die sowjetische Armee schon ihren Weg
durch Polen
kämpfte und sich Berlin näherte, waren die Leute noch immer fest in ihrem
Glauben an den Endsieg. Schließlich sagte der Führer so, und der Führer hat
immer Recht. Allein die Idee ist grotesk.
Es ist
dieses Element der Situation, die für viele Leute
schwer zu begreifen ist. Ein Bürger unter einem kriminellen, totalitären
Regime wird wie ein Kind. Propaganda wird für ihn zur Realität, die einzige
Realität, die er kennt. Sie ist wirksamer als
selbst der Terror.
DIES IST
die Antwort auf die Frage, wir können
uns nicht der Stimme enthalten und
immer wieder fragen. Wie war der Holocaust möglich? Er wurde von einigen
geplant, wurde aber von hundert Tausenden Deutscher
durchgeführt, vom Lokomotivführer bis zu dem
Beamten, der die Papiere ordnete. Wie konnten sie es tun?
Sie
konnten, weil es für sie das natürlichste Ding war, es zu tun.
Schließlich waren die Juden dabei, Deutschland zu zerstören. Die
kommunistischen Horden bedrohten
das Leben jedes wahren Ariers. Deutschland benötigte mehr Lebensraum
der Führer hat das so gesagt. Deshalb
ist der Film so bedeutend, nicht nur für die Deutschen, sondern für jedes Volk,
einschließlich des unsrigen.
Die
Leute, die sorglos mit Ultra-Nationalisten, Faschisten, Rassisten oder anderen
anti-demokratischen Ideen nicht realisieren, dass sie mit dem Feuer spielen. Sie
können sich nicht einmal vorstellen, was es bedeutet, in einem Land zu leben,
das die Menschenrechte mit Füßen tritt, das die Demokratie verachtet, das ein
anderes Volk unterdrückt, das Minderheiten dämonisiert.
Der Film
zeigt wem oder was es gleicht: der Hölle.
Der Film
verbirgt nicht, dass die Juden die Hauptopfer im Nazireich waren und nichts
ihren Leiden nahe kommt. Das zweite Opfer war das deutsche Volk, Opfer seiner
selbst.
Viele
Leute bestehen darauf, dass nach diesem Trauma, die Juden sich nicht wie normale
Menschen benehmen können und dass deshalb Israel nicht
nach den Standards von normalen Staaten beurteilt werden kann. Sie sind
traumatisiert.
Dies
trifft auch für das deutsche Volk zu. Allein die Notwendigkeit, diesen
ungewöhnlichen Film zu produzieren beweist,
dass das Nazigespenst noch immer die Deutschen verfolgt, dass sie noch immer von
ihrer Vergangenheit traumatisiert
sind.
Als
Angela Merkel in dieser Woche Benjamin Netanjahu besuchte, lachte die ganze Welt
über das Foto, auf dem der Schatten des Fingers des Minister-Präsidenten
versehentlich einen Schnauzbart ins
Gesicht der Kanzlerin wirft.
Aber die
Beziehungen zwischen unsern beiden traumatisierten Völkern sind weit davon
entfernt, ein Witz zu sein.
(Aus dem
Englischen Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)