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Ein altgedienter israelischer Aktivist warnt vor
‚neo-faschistischer’ Rechtssprechung.
Uri Avnery,
dessen Hoalam Hazeh-Magazin das Ziel von anti-verleumderischer Rechtssprechung
war, sagt, die augenblickliche ‚anti-demokratische’ Welle von
Gesetzesvorschlägen wird alle
Schichten der Gesellschaft treffen – und die Medien tun nicht viel, der
Situation abzuhelfen.
Von Ofra Edelman,
Haaretz, 9.12.2011
Als Israels sog
.Verleumdungsgesetz 1965 erlassen wurde, erklärte Uri Avnery, der Herausgeber
der wöchentlichen Haolam Hazeh, von Seiten seines entschieden linkslastigen
Magazins den Krieg.
„Entweder geh ich in die
Knesset oder ins Gefängnis,“ schrieb er. Wie in jedem anderen Krieg, hat dieser
redaktionelle Stab 15 Jahre lang
wie ein journalistischer Kommandotrupp gearbeitet mit Kommandotechniken, im
Geiste des Kommandos. Nun werden wir gezwungen, als politisches Kommando zu
handeln. Wir werden unsern Weg in das Wahlsystem als Angehörige eines Kommandos
machen. Wir werden als Kommandotrupp in der Knesset operieren.
Avnery, der 1923 in
Deutschland geboren wurde, entschied sich, für einen Sitz in der Knesset zu
kandidieren, in der Hoffnung, er könne damit diplomatische Immunität für sich
selbst und sein Magazin gegen
Verleumdungsklagen gewinnen.
„Das Verleumdungsgesetz ..
ist erlassen worden, weil Haolam Hazeh
die Herrschaft des Regimes bedroht“, schrieb er, „Wenn sie sagen, dass es
keinem Platz für beides gebe , für dieses Regime und Haolam Hazeh und deshalb
Haolam Hazeh liquidiert werden muss, dann müssen wir erwidern: „ Richtig, es
gibt in einem Land für dieses Regime und für Haolam Hazeh keinen Platz, also
müssen wir das Regime liquidieren. Und wir sind dabei, es zu liquidieren.“
Während wir in dieser Woche
im Wohnzimmer seiner Wohnung in Tel Aviv saßen, teilte er
seine Erinnerungen an diese Zeit mit mir..
„Das Gesetz wurde
am letzten Tag der fünften Knesset im Sommer 1965 angenommen und die
Presse, allgemein
die Medien, wachten im
letzten Augenblick auf,“ sagte er. „Sie nahmen es nicht ernst. Keiner dachte
daran, dass hier so etwas passieren könnte.“
Avnery erinnert sich, dass
„er sich im Voraus entschieden hatte, dass falls das Gesetz angenommen , er eine
Partei gründen und für die Knesset kandidieren würde. Wir lauschten den
Nachrichten und als klar wurde, dass die Knesset das Verleumdungsgesetz
angenommen hatte, sagte ich, „das ist es, ich werde in die Knesset gehen. Wir
begannen einen Krieg gegen das Gesetz.“
Die Statuten von 1965,
die über die Jahre bis zu einem gewissen Grad
durch rechtliche
Verbesserungen verändert wurden, verschärfte Forderungen auf
Medienveröffentlichungen, die wegen Diffamierungen belangt werden können. Es
musste eindeutig bewiesen werden , dass seine Veröffentlichung von öffentlichen
Interesse ist. Sie erweiterte die Definition der Verantwortlichen für die
Verleumdung, indem sie nicht nur den „verantwortlichen Redakteur“ zur
Verantwortung zog, sondern auch alle Drucker und Vertreiber. Dieser Abschnitt
des Gesetzes nannte auch „den Kopf des Redaktionsstabes“, eine Position, von der
Avnery sagt, dass sie damals nur bei Haolam Hazeh existierte.
Die Klausel ließ Avnery
daran denken, dass das Gesetz besonders auf seine Publikation gerichtet war und
dass es die letzte in einer Reihe von Versuchen war, ihn zum Schweigen zu
bringen. Dies schloss einen Inseratboykott für Haolam Hazeh durch den Staat und
die Histadrut-Arbeitergewerkschaft ein. Klagen gegen die Wochenzeitschrift, die
zuweilen Nacktaufnahmen von Frauen brachte, gründeten sich auf
Obszönitäts-Gesetze; und physische Angriffe auf Redaktionsmitglieder.
Bei den Wahlen zur 6.
Knesset bekam er etwa 14 000 Stimmen zusammen – genug um über die Schwelle der
Knesset zu kommen und einen Sitz für sich zu gewinnen.
„Wettbewerb der Unvernunft“
„Äußerst gefährlich,“
beschreibt Avnery die augenblickliche Änderung am Gesetz, die von MK Meir
Sheetrit (Kadima) und Yariv Levin (Likud)
entworfen wurden, die den
Umfang von Kompensation im 1965er Gesetz von 50 000 auf 300 000 NIS gesetzt hat,
ohne dass Schaden nachgewiesen
werden muss.
Avnery sagt, die Drohung
mit finanziellem Schaden ist dann
für den Journalismus eine viel
größere Bedrohung als das Gefängnis.
„Jeder Journalist hat einen
Redakteur und jeder Redakteur einen Herausgeber und der Herausgeber einen
Besitzer,“ sagt er, „ das bedeutet dann, dass keiner mehr eine Geschichte
veröffentlichen will, an der es den leichtesten Zweifel gibt. Bitte, denken Sie
nicht, ich hätte etwas gegen Diffamierungsgesetze. Wirklich, die Presse kann
rücksichtslos sein, genau wie jede andere Körperschaft. Demokratische
Diffamierungsgesetze sind nicht unanständig – im Gegenteil,“ fügt er hinzu.
„Doch andrerseits, je geschätzter und auf je höherer Ebene man ist, um so
schwächer sollten die Diffamierungsgesetze sein. Jeder der diese Gesetzgebung
verändern will, behauptet, er tue es für den kleinen Mann. Aber seine wahren
Absichten zielen immer auf die
Großen. Keiner kümmert sich um den keinen Mann.“
Avnery sagt, das neue
Gesetz ist ein Teil dessen, was er eine
„neo-faschistisch anti-demokratische“ Welle der Rechtssprechung nennt,
die die andere Meinung unterdrückt.
Woher kommt Ihrer Meinung
nach diese Welle der Gesetzgebung ?
„Heute
soll es vor den Likudvorwahlen
die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Denn was ist das Ziel eines jeden Knessetmitglieds? Ich weiß es aus
eigener Erfahrung: in dem Augenblick, in dem man zum Knessetmitglied gewählt
wurde, hat man nur ein Lebensziel – wiedergewählt zu werden – und
man widmet die nächsten vier Jahre diesem Ziel. Deshalb ist es wichtig,
in die Medien zu kommen, und deshalb ist man zu diesem Zwecke bereit, alles und
jedes zu tun – außer seine Mutter umzubringen“.
„Da kommt eine Person und
versucht, eine total unvernünftige
Gesetzesvorlage vorzulegen, während es sein einziges Ziel ist, am nächsten Tag
mit einer Schlagzeile und einem großen Foto von sich zu bekommen. Haaretz kommt
am nächsten Tag heraus und widmet ihm eine Viertelseite mit einem strahlend
schönen Foto von ihm - und so
ermutigt man ihn, dies zu tun. Ein anderer MK sieht dies und denkt: Ich werde
noch etwas Monströseres vorschlagen …
So läuft die Art Wettbewerb
von Unvernunft.
Aber wenn eine Zeitung
über so eine Gesetzesvorlage nicht berichtet, wird man
‚verdammt noch mal!’ schreiben, dass sie ihre Funktion nicht erfüllt hat.
Doch ist es auch möglich,
eine Geschichte in anderer, nicht so grandioser Art zu bringen. Ohne ein
schmeichelhafted Foto. Die Verpflichtung
zu berichten besteht, aber ohne jemandem
einen Preis zu verleihen. So handelt ein selbstmörderisches Medium.
„Unbewusst wird der normale
Leser nicht nur von dem, was er liest, beeinflusst, sondern auch von der
Intensität der Emotionalität, die in dem Artikel steckt. Ist dies gut oder nicht
so nett oder ist es etwas Schreckliches und Tragisches, das denen dient, die
Israel zerstören wollen. Was ich hier vermisse, ist eine moralische
Emotionalität, die diese neuen Gesetze verurteilt.“
Was sollten Ihrer Meinung
nach Journalisten tun. Sollte jeder Knessetmitglied werden, um die Immunität zu
erlangen?
„Es hilft. Es ist genau
das, was ich tat.“ Es ist ein ziemlich großer Schritt, den man nehmen muss.
„Ich nützte dies nicht
häufig aus, aber wenn ich es tat, tat ich es richtig. Ich bin für persönliche
Sanktionen gegen jeden, der diese Gesetze vorschlägt: kein Foto von ihnen,
nichts Schmeichelhaftes in der Zeitung, keine Interviews in den Medien. Darüber
sollte öfter nachgedacht werden. Es sollte nicht die freie Meinungsäußerung
verletzen, aber es sollte möglich sein, Leute zu strafen.
Trotz allem sollte das
erste, was gemacht werden sollte, der Aufruf zu einem Streik sein, damit die
Öffentlichkeit zu begreifen anfängt … Die Öffentlichkeit weiß nur, dass es
Argumente gibt über einige neue Gesetze. Sie begreift nicht, und sie ist gar
nicht daran interessiert. Meistens denkt sie, das geht sie gar nichts an. Und
wenn die Presse/Medien selbst keine Maßnahmen ergreifen, um dem Leser klar zu
machen, dass dies wichtig und ernst ist, warum sollte
jemand anders denken. Das
erste, was getan werden sollte, ist ein Aufruf zu einem Streik, wie es damals
(1965) geschah.
„ Wir müssten eine
sehr breite Front organisieren, um die Demokratie zu retten. Und dieser
Kampf sollte mit der Idee beginnen, dass die
breite Öffentlichkeit nicht begreift, warum sie das angeht. Die
Öffentlichkeit denkt: Also ist
dieser Richter und nicht jener Richter ernannt worden, was macht das für einen
Unterschied? Die Medien? Sie werden etwas vorsichtiger sein – das würde
überhaupt gut sein. Die NGOs? Wer benötigt sie denn? Geld aus dem Ausland
nehmen? Ein Skandal! Sozialer Protest? OK,
der fand statt. Jetzt haben wir uns vorwärts bewegt. Die Leute verstehen
nicht, dass es ihr Leben berührt, ihr Gehalt, ihren Lohn. Die heutige Generation
Israels lebte nie unter einem undemokratischen Regime.
„Kann sich irgendjemand
vorstellen, was es bedeutet, unter einem Regime zu leben, in dem man
eine Erklärung zugunsten einer gewissen Partei unterschreiben muss, und
wenn du eine Stellung hast
z.B. Fachoberarzt einer Gehirn-OP-Abteilung – und wenn du nicht unterschreibst,
bist du am nächsten Tag
Fensterputzer? Kann sich jemand vorstellen, dass Journalisten auf der Straße
erschossen werden, wie es kürzlich in Russland geschah … Die Leute begreifen es
nicht und setzen diese Dinge nicht mit einander in Verbindung.
„Zuerst muss man der
Öffentlichkeit erklären, dass es sie betrifft. Es ist nicht nur eine Sache der
oberen Zehntausend, die unter einander streiten … Morgen kann die Polizei dich
für ein Verbrechen verhaften, das du nicht begangen hast. Und da gibt es keine
Zeitung, die das veröffentlicht, weil es den Zeitungen verboten ist, die
Verhaftung von Individuen zu veröffentlichen, und Leute beginnen, von der Straße
weg zu verschwinden und verschwinden ganz, wie es in Argentinien geschah ….
Unter dem Vorwand ‚zum Schutz der Bürger’. Dies geht jeden im Lande an. Es ist
nichts Abstraktes, keine theoretische Uneinigkeit zwischen den Parlamentariern
und den „Richtern“.
In einer Kolumne, die Sie
schrieben, zogen Sie eine Verbindung zwischen der
gegenwärtigen Rechtssprechung und dem Kollaps der Weimarer Republik.
„Ich war neun, als die
Nazis an die Macht kamen, und als Kind in einer
politisch sehr wachen
Familie wurde mir bald bewusst, was um uns geschah. Besonders wenn ein Kind
sieht, was auf sehr visuelle Art geschieht: die Uniformen, die Paraden, die
Musik. So sah ich wie die Republik zusammenbrach. Mir war dies Schritt um
Schritt bewusst, ein kleiner Schritt folgte dem anderen kleinen Schritt – und
dann brach alles zusammen. Brach zusammen, weil die Öffentlichkeit nicht
verstand, warum dies wichtig war. Die deutsche Öffentlichkeit brachte keine
innere emotionale Stärke hervor, um zu widerstehen.“
„Als ich hier das erste
Zeichen sah, ging das erste rote Licht
für mich an. Ich wachte ein bisschen früher auf als
die anderen . Andere wachten auch auf, aber das brauchte Zeit. Am Anfang
sagte man mir: wie kannst du nur einen Vergleich mit Nazi-Deutschland ziehen,
das wirklich einzigartig in der Geschichte ist … es muss nicht ein Hitler sein –
wie ist es mit einem Mussolini? Und wenn nicht Mussolini, wie ist es mit Franco?
Oder Pinochet in Chile? Oder den
Obersten in Griechenland? Und wenn keiner von diesen, wie ist es mit Ceausescu
oder Putin jetzt?. Es gibt so viele Stufen – vom schlimmsten bis zum weniger
schlimmen, doch jede von ihnen schafft die Hölle.“
Und wo sind wir jetzt in
der Hierarchie, die Sie beschrieben haben?
„Wir haben den ersten
Schritt hinter uns. Wir sind noch weit entfernt vom letzten Schritt, aber meiner
Meinung nach ist es der erste Schritt, der die Richtung bestimmt. Die Barrikaden
sind gefallen. Dinge, die
unglaublich schienen, werden geglaubt. Dinge, die man sich unmöglich vorstellen
konnte, sind vorstellbar, und das
ist nur ein kleiner , aber sehr entscheidender Schritt. Unsere Nervenenden
werden abgestumpft. Aber die Bürgerrechte sind nicht „links“.
Sie haben nichts mit der
„Linken“ zu tun. Bürgerrechte gehen jeden einzelnen an.
„Wie übermitteln Sie dies
dem gewöhnlichen Bürger, dass der Kampf sein Kampf ist?
Dass die freie Meinungsäußerung auch seine Freiheit ist ? Dass der
Oberste Gerichtshof auch der seinige ist? Dass die Demokratie auch die seinige
ist.? Hier benötigen wir eine öffentliche Kampagne und zwar so eine, wie wir sie
bis jetzt nie hatten. Letztlich sprechen wir von Israels Zukunft, von unserer
Zukunft. Ein undemokratischer Staat ist nicht von Dauer – so einfach ist es.“
Avnery umschreibt ein
berühmtes Zitat des deutschen Friedenskämpfers Martin Niemöller: „Zuerst kamen
sie …“ über das öffentliche Schweigen angesichts des
vordringenden Faschismus, um zu beschreiben, was sich heute in Israel
abspielt.
„Dies ist eine der
tiefgründigsten Aussagen,“ erklärt er, Und man kann sie in die Realität von
heute und hier übersetzen: Zuerst kamen sie, das Gericht zu zerstören, dann
kamen sie, um die Medien zu zerstören, dann kamen sie um die NGOs zu zerstören,
ich schwieg – und am Ende, als ich protestieren wollte, war ich nicht mehr in
der Lage, weil dann keiner mehr da
war, vor dem ich dies hätte tun können. Das wird gefährlich werden.
Die Leute verstehen das nicht.“
(dt. Ellen Rohlfs, vom
Verfasser autorisiert)