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Der irre Prophet
Uri Avnery,
26.2. 2011
„ WARUM STRÖMEN die Massen
nicht auch hier auf den Platz und
werfen Bibi raus?“ fragte mein Taxifahrer, als wir am Rabin-Platz vorbeifuhren.
Der große Platz war, abgesehen von ein paar Müttern und ihren Kindern, die sich
an der milden Wintersonne erfreuten, fast leer.
Die Massen werden nicht auf
den Platz strömen, und Binyamin Netanyahu kann nur
über die Wahlurne abgesetzt werden.
Wenn dies nicht geschieht,
können die Israelis nur sich selbst die Schuld geben.
Wenn die israelische Linke
nicht in der Lage ist, eine ernst zu nehmende politische Kraft zu schaffen, die
Israel auf den Weg zu Frieden und zu sozialer Gerechtigkeit bringt, kann es nur
sich selbst die Schuld geben.
Wir haben keinen
blutdürstigen Diktator, den wir für verantwortlich halten können. Kein
verrückter Tyrann wird seiner
Luftwaffe den Befehl geben, uns zu bombardieren, wenn wir seine Absetzung
fordern.
Eine Geschichte war hier
einmal im Umlauf: Ariel Sharon – damals General in der Armee – versammelte das
Offizierskorps und sagte zu ihm: „Kameraden, heute nacht
werden wir einen Staatsstreich machen!“ alle versammelten Offiziere
brachen in lautes Gelächter aus.
DEMOKRATIE IST wie Luft –
man spürt sie nur, wenn sie nicht da ist.
Nur eine Person, die am Ersticken ist, weiß, wie wichtig sie ist.
Der Taxifahrer, der so frei
über das Hinauswerfen
von Netanyahu sprach, fürchtete sich nicht, dass ich ein Agent
der Geheimpolizei sein könnte und
in den frühen Morgenstunden ein Klopfen an seiner Tür geben wird. Ich
schreibe, was immer mir in den Sinn kommt und habe keine mich begleitenden
Leibwächter. Und wenn wir uns entscheiden würden, uns auf dem Platz zu
versammeln, würde uns keiner daran
hindern, ja, die Polizei würde uns sogar beschützen.
(Ich spreche natürlich über
Israel in seinen rechtmäßigen Grenzen. Nichts davon ist in den besetzten
Gebieten gültig.)
Wir leben in einer
Demokratie, atmen Demokratie, ohne dessen recht bewusst zu sein. Für uns ist es
natürlich und selbstverständlich. Deshalb geben Leute bei allgemeinen
Meinungsumfragen dumme Antworten, und aus den Umfragen werden dramatische
Schlussfolgerungen gezogen, dass die Mehrheit der israelischen Bürger
die Demokratie verachtet und bereit ist, sie aufzugeben. Die meisten der
Befragten haben nie unter einem Regime gelebt, in dem eine Frau fürchten muss,
dass ihr Mann nicht von der Arbeit
nach Hause kommen wird, weil er über den
obersten Führer einen Witz gemacht hatte, und dass ihr Sohn verschwinden
könnte, weil er Graffiti an eine Wand
gemalt hatte.
Die Knessetmitglieder, die
bei demokratischen Wahlen gewählt wurden, verbringen ihre Zeit mit einem Spiel:
wer kann die grauenhaftesten rassistischen Gesetzesvorlagen
entwerfen? Sie ähneln Kindern, die Fliegen die Flügel ausreißen, ohne zu
verstehen, was sie tun.
Für all diejenigen habe ich
einen Rat: seht, was in Libyen geschieht.
WÄHREND DER ganzen Woche
habe ich jeden Augenblick, den ich erübrigen konnte, Al-Jazeera gesehen.
Ein Wort über den Sender:
ausgezeichnet.
Er braucht keinen Vergleich mit irgendeiner TV-Station scheuen, einschließlich der BBC und CNN. Ganz zu schweigen von unseren eigenen Stationen, die ein trübes Gebräu aus Propaganda, Information und Unterhaltung bieten.
Viel ist schon über die
Rolle gesagt worden, die die sozialen Netzwerke
bei den Ereignissen spielten, wie Facebook und Twitter,
die jetzt die arabische Welt auf den Kopf stellen. Aber was den Einfluss
betrifft, werden sie von Al-Jazeera übertrumpft. Während des letzten Jahrzehnts
hat der Sender die arabische Welt
verändert, dass sie nicht wieder zu erkennen ist. Während der letzten zwei
Wochen hat er Wunder vollbracht.
Die Ereignisse in Tunesien,
Ägypten, Libyen und in den anderen Ländern
auf israelischen, amerikanischen oder deutschen Sendern zu sehen, ist wie
ein Kuss durch ein Taschentuch. Diese Ereignisse auf Al-Jazeera zu sehen, ist,
das Richtige zu fühlen.
Mein ganzes
Leben als Erwachsener habe
ich engagierten Journalismus befürwortet. Ich versuchte, Generationen von
Journalisten zu lehren, nicht
berichtende Roboter zu werden, sondern Menschen mit Gewissen, die ihre Mission
darin sehen, die menschlichen
Grundwerte zu bringen. Al-Jazeera tut genau dies – und wie!
Während dieser letzten
Wochen waren viele Millionen Araber
von diesem Fernsehsender abhängig, um herauszufinden, was in ihren
eigenen Ländern, ja, in ihren Städten geschieht – was
auf dem Habib Bourguiba-Boulevard in Tunis, was auf dem Tahrir-Platz in
Kairo und in den Straßen von Bengasi und Tripoli geschieht.
Ich weiß, dass viele
Israelis diese Worte als ketzerisch ansehen,
und zwar wegen Al-Jazeeras unerschütterlicher Unterstützung der
palästinensischen Sache. Der Sender wird hier als Erzfeind angesehen, nicht
weniger als Osama Bin Laden oder Mahmoud Ahmadinejad. Aber man muss einfach
seine Sendungen ansehen, um zu verstehen, was in der arabischen Welt,
einschließlich der besetzten palästinensischen Gebiete, vor sich geht.
Wenn Al-Jazeera über einen
Krieg oder eine Revolution in der arabischen Welt berichtet, dann berichtet er
richtig. Nicht nur eine Stunde oder zwei, sondern 24 Stunden lang, rund um die
Uhr. Die Bilder prägen sich einem ein, die Zeugenaussagen wecken Emotionen, der
Einfluss auf den arabischen Betrachter ist fast hypnotisch.
MUAMMAR GHADDAFI wurde bei
Al-Jazeera gezeigt, wie er wirklich ist.
Ein irrer Größenwahnsinniger, der jede Verbindung zur Realität
verloren hat. Nicht in kurzen Nachrichten-ausschnitten, sondern in
stundenlangen Sendungen, in denen seine weitschweifigen Reden immer wieder
gezeigt werden : mit Hinzufügungen von Dutzenden von Zeugnissen und Meinungen
von Libyern aller
Gesellschaftsgruppen – von den Luftwaffenoffizieren, die sich nach Malta
abgesetzt haben, bis zu
gewöhnlichen Bürgern, die in Tripolis bombardiert wurden.
Zu Beginn seiner Rede
erinnert mich Gaddafi (tatsächlich wird sein Name Qasafi
ausgesprochen, daher der Slogan Ya Qasafi, Ya Qasafi, oh Lügner) an
Nicolas Ceaucescu und seine berühmte letzte Rede auf dem Balkon,
die von den Massen unterbrochen wurde. Aber als die Rede weiterging,
erinnerte mich Ghaddafi mehr noch an Adolf Hitler in seinen letzten Tagen, als
er mit seinen übrig gebliebenen Generälen vor der Landkarte stand und Armeen
bewegte, die gar nicht mehr
existierten,, während die Rote
Armee nur noch ein paar hundert
Meter vor dem Bunker stand.
Wenn Ghaddafi
keine Mordaktionen gegen sein eigenes Volk planen würde, könnte es nur
grotesk oder traurig sein. So war es nur monströs.
Während er sprach,
übernahmen Rebellen die Kontrolle der Städte, deren Namen noch im Gedächtnis
der Israelis meiner Generation sind. Im 2. Weltkrieg waren diese Orte die
Schauplätze der britischen, deutschen und italienischen Armeen, die sie
eroberten und verloren – mal so, mal so. Wir folgten ängstlich diesen
Bewegungen; denn eine britische Niederlage hätte
die Wehrmacht in unser Land gebracht mit Adolf Eichmann im Gefolge. Namen
wie Bengasi, Tobruk und Derna hallen noch in meinen Ohren nach – um so mehr, als
mein Bruder dort als Soldat in
einem britischen Kommando kämpfte, bevor er in die äthiopische Kampagne versetzt
wurde, wo er sein Leben verlor.
BEVOR GADDAFI
seinen Verstand völlig verlor, sprach er einen Gedanken aus, der
wahnsinnig klingt, der uns aber nachdenklich machen sollte.
Unter dem Einfluss des
Sieges der gewaltfreien Massen in Ägypten und bevor ihn das Erdbeben auch
erreichte, schlug er vor, die Massen palästinensischer Flüchtlinge auf Schiffe
zu nehmen und sie an die Küste Israels zu senden.
Ich würde Binyamin
Netanyahu raten, diese Möglichkeit sehr ernst zu nehmen. Was wird geschehen,
wenn Massen von Palästinensern von der Erfahrung ihrer Brüder in einem halben
Dutzend arabischer Länder lernen und beschließen, dass der „bewaffnete Kampf“
nirgendwo hinführt und dass sie stattdessen die Taktik einer gewaltfreien
Massenaktion übernehmen sollten?
Was würde geschehen, wenn
Hunderttausende Palästinenser
eines Tages an die Trennungsmauer kommen
und sie niederreißen würden?
Was, wenn eine viertel Million palästinensischer Flüchtlinge im Libanon sich an
unserer nördlichen Grenze versammeln würde? Was, wenn sich Massen am
Manara-Platz in Ramallah und am Rathausplatz in Nablus sich versammelten und
sich gegen israelische Truppen stellen? All das vor den
laufenden Kameras von Al-Jazeera, begleitet von Facebook und Twitter –
während die ganze Welt mit angehaltenem Atem zusieht?
Bis
jetzt war die Antwort
einfach: wenn notwendig, werden wir scharfe Munition, Kampfhubschrauber und
Panzerkanonen benützen. Dann wird der Spuk beendet sein..
Aber jetzt hat auch die
palästinensische Jugend gesehen, dass es möglich ist, scharfem Schießen zu
trotzen, dass Ghaddafis Kampfflugzeuge dem Aufstand
kein Ende gesetzt wird, dass der Perlenplatz in Bahrain sich nicht leert,
wenn die Soldaten des Königs das Feuer eröffnen. Diese Lektion wird nicht
vergessen werden.
Vielleicht wird dies nicht
morgen geschehen oder übermorgen.
Aber es wird gewiss geschehen – wenn wir nicht
Frieden schließen, solange wir es noch können.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)