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Uri Avnery
2. Mai 2015
Ein Junge namens Bibi
ES GIBT zwei verschiedene Meinungen über Binjamin Netanyahu. Es ist schwer, zu
glauben, dass sie die selbe Person betreffen.
Eine ist, dass Netanyahu ein oberflächlicher Politiker, ohne Ideen und ohne
Überzeugungen ist, der einzig und allein von seiner Obsession geleitet wird, an
der Macht zu bleiben. Dieser Netanyahu hat eine gute Stimme und ein Talent,
geschwollene Reden im Fernsehen zu halten, Reden, die jeglichen intellektuellen
Inhalts entbehren – und das ist alles.
Dieser Netanyahu ist äußerst erpressbar (ein hebräisches Wort, das fast nur für
ihn erfunden wurde), ein Mann, der seine Ansichten ändert, je nach politischem
Kalkül abends leugnet, was er morgens gesagt hat. Keinem seiner Worte sollte man
vertrauen. Er wird jederzeit lügen und betrügen, um sein Überleben zu sichern.
Der andere Netanyahu ist fast das genaue Gegenteil. Ein prinzipiengetreuer
Patriot, ein seriöser Denker, ein Staatsmann, der die Gefahr hinter dem Horizont
sieht. Dieser Netanyahu ist ein begabter Redner, der den US-Kongress und das
UN-Plenum bewegt, was von der größten Masse der Israelis bewundert wird.
So, welche der Beschreibungen ist nun wahr?
Keine von beiden.
WENN ES wahr ist, dass der Charakter einer Person von seiner frühen Kindheit
geprägt wird, müssen wir Netanyahus Herkunft untersuchen, um ihn zu verstehen.
Er wuchs im Schatten eines strengen
Vaters auf. Benzion Millikowsky, der seinen ausländischen Namen in den
hebräischen Netanyahu geändert hat, war eine sehr dominante und sehr
unglückliche Person. In Warschau geboren, damals eine Provinzstadt im russischen
Reich, wanderte er als junger Mann nach Palästina aus, studierte Geschichte in
der neuen hebräischen Universität in Jerusalem und erwartete, ein Professor dort
zu werden. Er wurde nicht angenommen.
Benzion war der Sohn eines früheren Anhängers von Vladimir (Ze'ev) Jabotinsky,
dem extrem rechten zionistischen Führer. Er erbte von seinem Vater eine sehr
extremistische Einstellung und gab diese an seine drei Söhne weiter. Binyamin
war der zweite. Sein älterer Bruder, selbst noch ein Kind, nannte ihn Bibi und
die kindische Bezeichnung blieb haften.
Benzions Ablehnung durch die junge Prestige-Universität machte aus ihm einen
verbitterten Menschen, eine Verbitterung, die bis zu seinem Tod im Jahr 2012, im
Alter von 102, anhielt. Er war sicher, dass seine Ablehnung nichts mit seiner
akademischen Qualifikation zu tun hatte und alles mit seiner
ultra-nationalistischen Einstellung.
Sein extremer Zionismus hielt ihn nicht davon ab, Palästina zu verlassen und
sein akademisches Glück in den Vereinigten Staaten zu suchen, wo eine
zweitklassige Universität ihm eine Professur gab. Sein Lebenswerk als Historiker
betraf das Schicksal der Juden im mittelalterlichen christlichen Spanien – die
Vertreibung und die Inquisition. Das erzeugte in ihm ein sehr düsteres Weltbild:
die Überzeugung, dass die Juden immer verfolgt werden, dass alle Goyim
(Nicht-Juden) die Juden hassen, dass eine Gerade die Autodafé der spanischen
Inquisition mit dem Nazi-Holocaust verbindet.
Während der Jahre pendelte die Netanyahu-Familie zwischen der USA und Israel hin
und her. Binyamin wuchs in Amerika auf, lernte perfektes amerikanisches
Englisch, was für seine zukünftige Karriere wesentlich war, studierte und wurde
Kaufmann. Sein offensichtliches Talent für diesen Beruf zog einen
Likud-Außenminister an, der ihn als israelischen Sprecher in die UN sandte.
BENZION NETANYAHU war nicht nur eine verbitterte Person, die das zionistische
und israelische akademische Establishment beschuldigte, versagt zu haben, indem
sie sein akademisches Format nicht anerkannt haben. Er war auch ein sehr
autokratischer Familienmensch.
Die drei Netanyahu-Jungen lebten in ständiger Furcht vor dem Vater. Sie durften
keinen Lärm machen zu Hause, während der Große Mann in seinem verschlossenen
Arbeitszimmer arbeitete. Sie durften keine anderen Jungen mit nach Hause
bringen. Ihre Mutter war ihrem Mann völlig treu ergeben und bediente ihn in
jeder Weise, indem sie ihre eigene Persönlichkeit opferte.
In jeder Familie ist das zweite von drei Kindern in einer schwierigen Position.
Es wird nicht bewundert, so wie das älteste, noch verhätschelt, wie das jüngste.
Für Binyamin war das besonders hart, wegen der Stellung seines älteren Bruders.
Yonatan Netanyahu (beide Namen bedeuten: “Gott hat gegeben”) scheint ein
besonders begnadeter Junge gewesen zu sein. Er sah gut aus, war begabt und sehr
beliebt, wurde sogar bewundert. In der Armee wurde er Kommandeur der hoch
angesehenen Sayeret Matkal (Generalstabs-Kommandoeinheit) – der Elite der
Armee-Elite.
Als solcher war er der Kommandeur vor Ort bei dem gewagten
Entebbe-Kommando-Einsatz im Jahre 1976 in Uganda, der die gefangenen Passagiere
eines Flugzeugs, das von Palästinensern und deutschen Guerillas auf dem Weg nach
Israel entführt worden war, befreit hat. Yonatan wurde dabei getötet und zum
Nationalhelden. Er wurde von seinem Vater verehrt, der nie wirklich die
Qualitäten seines zweiten Sohnes akzeptiert hat.
Zwischen seinem Vater, dem verbitterten Denker, und seinem älteren Bruder, dem
legendären Held, wuchs Binyamin als ruhiger, aber sehr ehrgeiziger Junge, teils
Israeli, teils Amerikaner, auf. Er arbeitete einige Zeit als Möbelverkäufer, bis
er von dem extrem rechten Likud-Außenminister, Moshe Arens, entdeckt wurde.
Zwischen seinem obsessiven Bedürfnis, von seinem Vater anerkannt und als seinem
glorreichen Bruder gleichwertig angesehen zu werden, wurde Netanyahus eigener
Charakter geschmiedet. Sein Vater schätzte ihn nie. Einmal sagte er, er gäbe
einen guten Außenminister, aber keinen Premierminister, ab.
Als Sohn seines Vaters hetzte Netanyahu nach dem Oslo-Abkommen die Menschen
gegen Yitzhak Rabin auf und wurde auf dem Balkon des Sprechers bei der
Demonstration fotografiert, wo ein symbolischer Sarg mit Rabin herumgetragen
wurde. Als bald darauf Rabin ermordet wurde, bestritt er jegliche Verantwortung.
Rabins Nachfolger, Shimon Peres, versagte kläglich, und Netanyahu wurde
Premierminister. Das war eine totale Katastrophe. Am Abend nach den nächsten
Wahlen, als deutlich wurde, dass er verloren hatte, strömten Menschenmassen in
einer spontanen Demonstration der Freude, wie die bei der Befreiung von Paris,
zu Tel Avivs zentralen Platz (jetzt nach Rabin benannt).
Sein Nachfolger aus der Arbeiterpartei, Ehud Barak, hatte kaum mehr Glück. Als
ehemaliger Stabschef, von vielen bewundert, vor allem von sich selbst, zwang er
Präsident Bill Clinton, eine israelisch-palästinensische Friedenskonferenz in
Camp David einzuberufen. Barak, der palästinensische Standpunkte völlig
ignorierte, kam, um seine Konditionen zu diktieren und war schockiert, als sie
diese zurückwiesen. Nach Hause zurückgekehrt, erklärte er, die Palästinenser
wollten uns ins Meer werfen. Als die Öffentlichkeit das hörte, servierte sie ihn
ab und wählte den taffen, extrem-rechten General, Ariel Sharon, den Gründer des
Likud.
Netanyahu wurde Finanzminister. Als solcher war er ziemlich erfolgreich. Indem
er die neo-liberalen, ultra-kapitalistischen Lehren, die er in den USA
absorbiert hatte, praktizierte, machte er den Armen ärmer und den Reichen
reicher. Die Armen schienen es zu mögen.
Sharon war der Vater der Siedlungen in der Westbank. Um diese zu stärken,
beschloss er, den Gaza-Streifen mit den wenigen Siedlungen aufzugeben, die ein
unverhältnismäßiger Klotz am Bein für die Armee waren. Aber sein unilateraler
Rückzug aus dem Gaza-Streifen schockierte das rechte Lager. Der ältere Netanyahu
nannte diesen Schritt ein "Verbrechen gegen die Menschheit".
Unduldsam Widerspruch gegenüber, spaltete Sharon den Likud und gründete seine
eigene Kadima(“Vorwärts”)-Partei. Erneut wurde Netanyahu der Vorsitzende des
Likud.
Wie üblich, hatte er Glück. Sharon erlitt einen Schlaganfall und fiel ins Koma,
wovon er sich niemals erholte. Sein Nachfolger, Ehud Olmert, wurde der
Korruption angeklagt und musste zurücktreten. Die nächste in der Reihe, Tzipi
Livni, war inkompetent und unfähig, eine Regierung zu bilden, obwohl alle
Ingredienzien vorhanden waren.
Netanyahu, der Mann, dem die jubelnden Massen nur ein paar Jahre zuvor den
Laufpass gegeben hatten, kehrte zurück als Imperator. Wieder jubelten die
Massen. Shakespeare hätte es geliebt.
SEITDEM wurde Netanyahu immer wieder gewählt. Die letzte Zeit war ein klarer
persönlicher Sieg. Er besiegte all seine Konkurrenten der Rechten.
Also, wer ist dieser Netanyahu? Im Gegensatz zur populären Meinung ist er ein
Mensch mit sehr starken Glaubensvorstellungen – den Glaubensvorstellungen seines
extrem-rechten Vaters. Die ganze Welt trachtet danach, uns zu töten, jederzeit.
Wir brauchen einen mächtigen Staat, um uns selbst zu verteidigen. Das gesamte
Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan wurde uns von Gott gegeben (ob Er
existiert oder nicht). Alle seine anderen Aussagen sind Lügen, Ausreden,
Taktiken.
Als Netanyahu in einer berühmten Rede an der Bar-Ilan-Universität bei Tel Aviv,
den Grundsatz der “Zwei-Staaten-Lösung” akzeptierte, konnten, diejenigen, die
ihn kannten, nur schmunzeln. Es war so, als hätte er das Essen von
Schweinefleisch an Jom Kippur empfohlen.
Er ließ diese Aussage vor den Augen der naiven Amerikaner baumeln und seine
Justizministerin, Tzipi Livni, endlose Verhandlungen mit den Palästinensern
führen, die er verachtet. Wenn immer es so aussah, als ob die Verhandlungen sich
einem Ziel näherten, legte er schnell eine andere Kondition fest, wie zum
Beispiel die lächerliche Forderung, dass die Palästinenser Israel als
Nationalstaat des jüdischen Volkes anerkennen. Er dächte selbstverständlich
nicht im Traum daran, die palästinensischen Gebiete als Nationalstaat des
palästinensischen Volkes – ein Volk, dessen Existenz er gänzlich leugnet -
anzuerkennen.
Gerade erst kürzlich, am Abend der letzten Wahl, verkündete Netanyahu, dass es
keinen palästinensischen Staat geben werde, solange er an der Macht sei. Als die
Amerikaner protestierten, verleugnete er sich selbst. Warum nicht? Wie sein
Likud-Vorgänger, Yitzhak Shamir, bekanntermaßen sagte: "Für das Vaterland zu
lügen, ist erlaubt."
Netanyahu wird lügen, betrügen, sich selbst verleugnen, unter falscher Flagge
agieren – all das, um das eine, sein einzig wahres Ziel zu erreichen, den Fels
unserer Existenz (wie er es zu sagen beliebt), das Erbe seines Vaters – einen
jüdischen Staat vom Meer bis zum Fluss.
DER ÄRGER ist, dass die Araber in diesem Gebiet bereits eine kleine Mehrheit
ausmachen, aber eine, die ständig wächst.
Ein jüdischer und demokratischer Staat im ganzen Land ist unmöglich. Der
populäre Witz sagt, dies sei sogar zu viel für Gott. Also ordnet er an, dass wir
zwei von drei Attributen wählen müssen: einen jüdischen und demokratischen Staat
in einem Teil des Landes, einen jüdischen Staat im ganzen Land, der nicht
demokratisch ist, oder einen demokratischen Staat im ganzen Land, der nicht
jüdisch ist.
Netanyahus Lösung für dieses Problem ist, es zu ignorieren, einfach
weiterzumachen, Siedlungen auszudehnen und sich auf das unmittelbare Problem zu
konzentrieren: seine vierte Regierung zu errichten und seine fünfte zu planen,
in vier Jahren von heute an.
Und natürlich auch, seinem Vater, der aus dem Himmel auf ihn herabsieht, zu
zeigen, dass der kleine Bibi, sein zweiter Sohn, letztlich doch seiner Wert ist.
(Dt. Inga Gelsdorf)