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Die Kinder der Steine
Uri
Avnery, 16.Dezember 2017
UM GOTT
Willen, sind die verrückt?
Sie
versammeln sich auf dem Marktplatz; die 15, 16 jährigen Jungen nehmen Steine und
werfen sie auf unsere Soldaten, die bis zu den Zähnen bewaffnet sind. Die
Soldaten schießen, manchmal über ihre Köpfe hinweg, manchmal
direkt auf sie. Jeden Tag gibt es Verletzte, alle paar Tage auch Tote.
Wofür?
Sie haben nicht die geringste Chance, die Politik der israelischen Besatzung zu
verändern. Nur sehr selten treffen die Jungs einen Soldaten und verletzen ihn
leicht.
Doch
machen sie weiter. Warum?
EINER MEINER
Freunde sandte mir von einem geachteten Palästinenser einen Artikel. Er
beschreibt seine erste Demonstration vor vielen Jahren.
Die Art,
wie er sie erzählt, beeindruckt mich: er war 15 Jahre alt, lebte in einem Dorf
unter Besatzung und hasste israelische Soldaten. Mit einer Gruppe
von gleichaltrigen Freunden ging er in die Mitte seines Dorfes, wo eine
Reihe Soldaten auf sie wartete.
Jeder
der Demonstranten hob einen Stein auf – in einem arabischen Dorf gibt es keinen
Mangel an Steinen - und warf sie in
Richtung auf die Soldaten. Die Steine flogen nicht weit genug und verursachten
kein Unheil.
Aber
- und hier wurde der erwachsene Mann ekstatisch – was für ein wunderbares
Gefühl! Das erste Mal in seinem Leben fühlte der Junge, dass er zurückgeschlagen
hat. Er ist nicht länger ein
verachteter, hilfloser Palästinenser! Er hat die Würde seines Volkes aufrecht
erhalten! Die alten Führer mögen unterwürfig sein!
Er nicht, seine Freunde auch nicht!
Es war das erste Mal in seinem Leben,
dass er stolz war, stolz, ein Palästinenser zu sein, stolz ein mutiges
menschliches Wesen zu sein.
Was für
ein wunderbares Gefühl! Für dieses Gefühl war er bereit, sein Leben zu
riskieren, noch einmal und noch
einmal, bereit ein Shaheed, ein Zeuge, ein Märtyrer zu werden.
Es gibt
viele Tausende wie ihn.
ALS ICH
diese Beschreibung las, wurde ich aufgeregt. Weil ich mich an etwas in meiner
eigenen fernen Jugend erinnerte, als ich genau im selben Alter
-nämlich 15 – war.
Es war
im Mai 1939. Die britischen Herrscher Palästinas hatten gerade ein Weißes Papier
veröffentlicht, das unserer
zionistischen Vision einen Dämpfer versetzte. Der Weltkrieg
kam näher und Großbritannien brauchte die Unterstützung der arabischen
Welt.
Einige
Monate früher hatte ich mich der Nationalen Militärorganisation (allgemein die
Irgun genannt) angeschlossen, der militantesten Untergrund-Organisation, die
sich dem Kampf gegen das britische Kolonialregime widmete. Der letzte Anstoß für
mich war ein erschütterndes Ereignis: Es war das erste Mal, dass die Britten
einen jüdischen „Terroristen“ aufgehängt hatten. Ich war dazu bestimmt, seinen
Platz einzunehmen.
Am Abend
erhielt ich eine Order: morgen
Mittag werden wir eine Demonstration gegen das Weiße Papier beginnen. Warte in
der Allenby-Straße in der Nähe vom Mugrabi-Kino.
Ich war
schon lange vorher dort und wartete mit wachsender Aufregung. Genau mittags
blies ein Horn. Ich rannte zusammen
mit Hunderten anderer Irgun-Mitglieder zum Versammlungsort. Wir wiederholten
Slogans, die jemand schrie, wir
begannen die Straße entlang zu gehen, die damals Tel Aviv Hauptstraße war.
Auf
halbem Weg stand die Große Synagoge mit ihrem äußeren Treppenaufgang. Jemand
rannt nach oben und hielt von dort
eine leidenschaftliche Rede, die mit dem biblischen Vers endete: „Falls ich dich
vergesse, oh Jerusalem/ dann möge meine rechte Hand verdorren …“
Von dort
marschierten wir zu unserem Zielort, dem Distrikt-Büro der britischen
Verwaltung. Einige kühne Kerle rannten hinauf und brachen die Türen auf
und begannen damit, Haufen von amtlichen Papieren herunterzuwerfen. Wir
verbrannten sie auf der Straße.
Plötzlich erschienen britische Soldaten auf der Szene. Schüsse wurden
abgefeuert, entweder über unsere Köpfe oder auf uns. Es war das erste Mal in
meinem Leben, als auf mich geschossen wurde.
Wir
rannten weg durch ein Loch im
Schutzgeländer der Eisenbahn. Nach
ein paar hundert Meter fanden wir
uns wieder zusammen. Wir waren
begeistert und überglücklich. Wir hatten jenen blutdurstigen Briten gezeigt,
dass Juden zurück kämpfen können. Wir hatten unser Leben für unser
Vaterlandriskiert. Wir hatten unser
Volk stolz auf uns gemacht.
Das war
vor 79 Jahren. Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen. Und ich
verstehe völlig die Begeisterung der palästinensischen Jungs, „die Kinder der
Steine“, die heute ihr Leben riskieren, indem sie Steine bei sinnlosen
Demonstrationen werfen.
UNSERE FÜHRER
behandeln die Kinder der Steine mit Verachtung, so wie die britischen
Behörden uns damals behandelten. Was können sie erreichen? Nichts. Unsere – und
jetzt ihre – erbärmliche Demonstrationen waren/sind lächerlich.
Aber ein
15 jähriger Junge ist eine mächtige Kraft. Sein Stolz, zurück zu kämpfen, wächst
mit den Jahren. Es ist eine Kraft, die nicht unterdrückt werden kann. Je mehr
von ihnen getötet werden, umso stärker werden sie. Je härter die Hand des
Unterdrückers wird, umso stärker wird die Entschlossenheit der Unterdrückten.
Das ist ein Naturgesetz.
Im
heutigen hebräischen Empire - vom Mittelmeer zum Jordanfluss -
gibt es schon eine geringe
palästinensische Mehrheit, etwa 8,2Millionen Araber gegenüber 7,8Millionen
Juden. Diese Tatsache wird gewöhnlich in offiziellen Statistiken verheimlicht.
Da die palästinensische Geburtsrate viel höher als die jüdische ist (mit
Ausnahme der orthodoxen Juden) wird
die arabische Mehrheit unaufhaltsam wachsen. Groß-Israel wird mehr und mehr ein
Apartheidstaat.
Wie
beantwortet Israels Rechte dies? Es gibt keine Antwort. Einige aus der Randzone
träumen von einem Massen-Exodus der Araber wie der von 1948. Aber kein Volk
macht denselben Fehler ein zweites Mal.
Was immer geschieht, die Palästinenser hängen fest an ihrem Boden. Sie
nennen diese Standhaftigkeit „Sumud“.
Ich habe
in meinem Kopf ein Gedicht von einem unserer Nationaldichter von
vor 1948: „Kein Volk zieht
sich von den Bollwerken seines Lebens zurück“. Die
Palästinenser sind wie alle andern Völker. Wie wir.
IN LETZTER ZEIT
tauchte ein neuer politischer Brauch auf, besonders unter Arabern. Sie erklären,
dass es nur eine einzige Wahl gibt: entweder Zwei Staaten oder Einen Staat.
Wenn die israelische Führung, unterstützt
vom Präsident Trump, die Zwei-Staaten-Lösung
zurückweist, wird die Ein-Staaten-Lösung an seine Stelle treten.
Juden und Araber werden in einem gemeinsamen Staat leben, vom Meer bis
zum Fluss. Ende des zionistischen
Traums.
Dies ist
Unsinn. Falls einige arabische Politiker denken, dass diese Aussicht Israelis
Angst macht, damit sie die
Zwei-Staaten-Lösung akzeptieren, irren
sie sich sehr. Es stimmt, einige Israelis vom rechten Flügel reden über diese
Möglichkeit, aber sie wissen, dass dies die Hölle sein würde.
Ein
Staat? Wie würde die Armee
aussehen? Wer würde sie
kommandieren? Wer würden die
Soldaten sein? Mit einer arabischen Mehrheit in der Knesset (die vermutlich
ihren Namen in Majlis ändern wird), die eine tägliche Schlacht gegen die
jüdischen Fraktionen kämpfen wird?
Mit einem Lebensstandard der Juden, der weit höher ist als der der arabischen
Bürger? Wer wird die Polizei
kontrollieren? Zahllose Fragen ohne
Antworten.
Die
einfache Tatsache ist, dass es keine
Wahl zwischen einer Zwei-Staaten- und
einer Ein-Staaten-Lösung gibt, weil der eine Staat überhaupt keine Lösung ist,
sondern ein Hirngespinst oder ein Alptraum.
Also
gibt es keine Wahl? Natürlich gibt es
sie. Es gibt sie.
Die Wahl
liegt zwischen der Zwei-Staaten-Lösung und keiner Lösung.
Ewiger
Krieg.
(dt.
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)