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Die Kissinger-Geschichte
Uri Avnery
18. Oktober 2016
ICH
SCHREIBE dies am Yom Kippur (Gott möge mir vergeben).
Genau
vor 43 Jahren, genau in diesem Augenblick,
begannen die Sirenen.
Wir
saßen in unserm Wohnzimmer und schauten auf eine der Tel Aviver Hauptstraßen.
Die Stadt war völlig ruhig. Keine Autos. Kein Verkehr irgendeiner Art. Ein paar
Kinder fuhren auf ihren Fahrrädern,
was an Yom Kippur, dem heiligsten Tag des Judentums, erlaubt war. Genau wie
jetzt.
Rachel,
meine Frau, ich und unser Gast, Professor Hans Kreitler
waren in tiefer Konversation. Der Professor, ein bekannter Psychologe,
wohnte in der Nähe – so konnte er
zu Fuß hierher kommen.
Und dann
wurde die Stille von einer Sirene durchbrochen. Einen Augenblick lang dachten
wir, dass dies durch ein Versehen
geschah, aber dann schlossen sich andere an. Wir gingen zum Fenster und sahen
einen Aufruhr. Die Straße, die vor wenigen
Minuten total leer war,
begann sich mit militärischen und
zivilen Fahrzeugen zu füllen.
Und dann
begann das Radio, das wegen Yom Kippur still gewesen war.. Der Krieg war
ausgebrochen.
VOR EIN
paar Tagen wurde ich gefragt, ob ich bereit wäre, im TV
über die Rolle von Henry
Kissinger in diesem Krieg zu sprechen. Ich stimmte zu, doch im letzten
Augenblick wurde das Programm gestrichen, weil die Funkstelle die Zeit
benötigte, um Juden an der Klagemauer (Westmauer) zu zeigen, wie sie Gott um
Vergebung baten. In diesen
Netanjahu-Zeiten kommt Gott natürlich zuerst.
Statt im
TV zu reden, werde ich jetzt meine Gedanken über das Thema hier schreiben.
Henry
Kissinger hat mich immer fasziniert. Einmal nahm mich
unsere Freundin Yael, die Tochter von
Moshe Dayan, während seiner Abwesenheit natürlich - da er mein Feind war - in
seine große Bibliothek von ungelesenen
Büchern und bat mich, ein Buch als Geschenk auszuwählen. Ich wählte ein Buch
von Kissinger und war sehr beeindruckt von ihm.
Wie
Shimon Peres und ich
wurde Kissinger 1923 geboren. Er war ein paar Monate älter als wir beide.
Seine Familie verließ Nazi-Deutschland fünf Jahre später als ich
und ging über England in die US. Wir beide mussten sehr früh mit dem
Arbeiten beginnen, aber er machte
mit seinem Studium weiter und wurde Professor,
während ich Armer nicht einmal die Grundschule beendete.
Ich war
sehr von der Weisheit seiner Bücher beeindruckt. Er näherte sich der Geschichte
ohne Gefühle und ging besonders nach Napoleons
Niederlage auf den Wiener Kongress ein, in dem eine Gruppe weiser
Staatsmänner die Grundlage für ein stabiles, absolutistisches Europa bauten.
Kissinger betonte die Bedeutung ihrer Entscheidung, den Vertreter des
besiegten Frankreichs (Talleyrand)
einzuladen. Ihnen war klar, dass Frankreich ein
Teil des neuen Systems sein muss. Um
den Frieden zu sichern, glaubten sie, keiner darf in diesem neuen System
außen vor bleiben.
Leider
hat der verantwortliche Kissinger diese Weisheit von Kissinger, dem Professor,
nicht beachtet. Er ließ die
Palästinenser außen vor.
DAS THEMA,
über das ich im TV sprechen sollte, war eine Frage, die israelische Historiker
nach dem verhängnisvollen Yom Kippur
faszinierte und beunruhigte. Wusste Kissinger über den bevorstehenden
ägyptisch-syrischen Angriff?
Enthielt sich Kissinger absichtlich vor
einer Warnung Israels, wegen seiner eigenen schändlichen Planung.
Nach dem
Krieg wurde Israel von einer Frage zerrissen: warum hat unsere Regierung, von
Ministerpräsidentin Golda Meir und dem Verteidigungsminister Moshe Dayan all die
Zeichen eines bevorstehenden Angriffes nicht beachtet?
Warum haben sie die Reserve-Armee nicht beizeiten aufgerufen. Warum haben
sie die Panzer zu unserer Festung am
Suez-Kanal nicht geschickt?
Als die
Ägypter angriffen, wurde die Linie nur von einer zweitklassischen
Truppe gehalten. Die meisten
Soldaten wurden für den hohen religiösen Feiertag nach Hause geschickt. Die
Grenzlinie wurde leicht überrannt.
Der
israelische Geheimdienst wusste natürlich von der massiven Bewegung der
ägyptischen Einheiten zum Kanal hin. Er wertete dies aber als leeres Manöver, um
Israel zu erschrecken.
Um dies
zu verstehen, muss man sich daran erinnern, dass nach dem unglaublichen Sieg der
israelischen Armee vor nur sechs Jahren --als sie alle benachbarten Armeen
zerstörte -- unsere Armee eine
entsetzliche Verachtung für die ägyptischen
bewaffneten Kräfte hatte. Die
Idee, dass sie es wagen könnten,
solch eine folgen-schwere Operation durchzuführen schien
lächerlich.
Man füge
dieser allgemeinen Verachtung für Anwar al-Sadat, dem Mann, der ein paar
Jahre früher die Macht vom
legendären Gamal Abd-al Nasser übernommen
hat, hinzu. Die Gruppe der „freien Offiziere“, die von Nasser angeführt
wurde, hatte die unblutige Revolution von 1952
in Ägypten durchgeführt. Sadat
wurde als der am wenigsten
intelligente - und deshalb
übereinstimmend -- als Nassers Vertreter ernannt.
In
Ägypten, einem Land von unzählbaren
Scherzen, gab es auch darüber einen Scherz. Sadat hatte einen auffälligen
braunen Fleck auf seiner Stirn. Nach dem Scherz : wann immer ein Thema bei einem
Treffen des Rats der freien Offiziere
angeschnitten wurde und jeder seine Ansicht ausdrückte, würde Sadat als
letzter aufstehen und zu sprechen
anfangen. Nasser würde seinen Finger auf seine Stirne legen
und diese sanft drücken und sagen: „Setz dich hin , Anwar, setz dich
hin.“
Im Laufe
der sechs Jahre zwischen den Kriegen drückte er gegenüber Golda aus, dass er zu
Friedensverhandlungen bereit wäre, die sich auf Israels Rückzug von der
besetzten Sinai-Halbinsel gründete. Golda weigerte sich verächtlich (tatsächlich
hatte Nasser selbst, kurz vor seinem Tod, sich für solch eine Bewegung
entschieden. Ich spielte dabei eine kleine Rolle, indem ich diese Information
unserer Regierung weitersagte.)
Zurück
zum Jahr 1973: fast im letzten Augenblick wurde Israel von einem gut
situierten Spion, kein geringerer als Nassers Sohn, gewarnt. Die Botschaft gab
das exakte Datum für den bevorstehenden Angriff, aber den falschen
Zeitpunkt, statt die Mittagsstunde, nannte er den frühen Abend. Ein
Unterschied von mehreren schicksalhaften Stunden. In Israel wurde dies später
debattiert, ob der Mann ein Doppelagent war und absichtlich den falschen
Zeitpunkt gab. Es war zu spät, ihn zu fragen – er war unter mysteriösen
Umständen gestorben.
Als
Golda Kissinger über die bevorstehende ägyptische Bewegung informierte, warnte
er sie, keinen Präventiv -Angriff auszuführen, der Israel auf die falsche Seite
bringen würde. Golda vertraute Kissinger
und gehorchte ihm, im Gegensatz zu den Ansichten des israelischen Stabschef,
David Elazar, mit dem Spitznamen Dado. Kissinger verzögerte auch um zwei Stunden
seinen eigenen Boss, Präsident Nixon,
zu informieren.
WAS WAR
nun Kissingers Spiel?
Für ihn
war das amerikanische Hauptziel, die Sowjetunion aus der arabischen Welt
zu vertreiben und die US als einzige Macht in der Region zu lassen.
In
seiner Welt der „Realpolitik“ war dies das einzige Ziel, das von Bedeutung war.
Jeder
andere, einschließlich uns arme Israelis, waren nur Bauern in dem riesigen
Schachspiel.
Ein
größerer aber kontrollierter Krieg war für ihn der praktische Weg, jeden in der
Region von den US abhängig zu machen.
Als der
ägyptische und syrische Angriff zunächst gelang, war Israel in Panik. Dayan, der
in dieser Krise sich selbst ein Dummkopf nannte, der er auch wirklich war,
sprach von der „Zerstörung des dritten Tempels“ (und fügte die beiden jüdischen
Tempel der Antike hinzu, die von den Assyrern bzw. von den
Römern zerstört wurden.) Das Armee-Kommando unter Dado verhielt sich kühl
und plante seinen Gegenangriff mit bewundernswerter Präzision.
Die
Munition ging aber schnell zu Ende und Golda wandte sich verzweifelt an
Kissinger. Er setzte eine „Luft-Brücke“ für Vorräte in Gang, die Israel gerade
genug gab, um sich verteidigen zu können
- nicht mehr.
Die
Sowjet-Union war hilflos, um zu unterbrechen. Kissinger war König der Situation.
MIT BEMERKENSWERTER
Ausdauer (und den von Kissinger gelieferten Waffen) drehte
die israelische Armee den
Spieß um und stieß die Syrer zurück
über ihren Punkt hinaus und näherte sich Damaskus. An der Südfront
überquerten israelische Einheiten den Suez-Kanal und konnten eine Offensive in
Richtung Kairo starten. Es war ein ziemlich konfuses Bild einer ägyptischen
Armee, die noch westlich des Kanals war, praktisch eingekreist, aber immer
noch in der Lage, sich selbst zu verteidigen, während die israelische
Armee hinter ihrem Rücken, östlich des Kanals, also praktisch in einer
gefährlichen Position war – also
von ihrer Heimat abgeschnitten war.
Ein klassischer „Kampf mit umgekehrten Fronten“.
Falls
der Krieg seinen Kurs eingehalten hätte, würde die israelische Armee die Tore
von Damaskus und Kairo erreicht haben und die ägyptischen und
syrischen Armeen würden uns um eine Feuerpause nach israelischen
Bedingungen gebeten haben.
Hier ist
es, wo Kissinger dazu kommt.
DER ISRAELISCHE
Fortschritt wurde auf Kissingers Befehl etwa 101 km vor Kairo angehalten. Dort
wurde ein Zelt aufgebaut und die permanenten Verhandlungen begannen.
Ägypten
war von einem Senior-Offizier Abd-al Rani Garnassi vertreten, der bald die
Sympathie der israelischen Journalisten gewann. Der israelische Vertreter war
Aharon Yariv, der frühere Chef des Armee-Geheimdienstes, ein Mitglied der
Regierung und ein General der Reserve.
Yariv
wurde bald zurückgerufen, um seinem Sitz im Kabinett wieder einzunehmen. Er
wurde von einem sehr beliebten regulären Armee-General, Israel Tar, mit dem
Spitznahmen Talik ersetzt, der zufällig einer meiner Freunde war.
Talik
war dem Frieden ergeben und ich drängte ihn, die Armee zu verlassen und ein
Führer des israelischen Friedenslagers zu werden. Er wies dies zurück, weil
seine vorrangige Leidenschaft
war, den Merkava- zu schaffen,
ein ursprünglich israelischer Panzer, der seiner Mannschaft die größte
Sicherheit verleihen würde.
Unmittelbar nach dem Kampf traf ich Talik regelmäßig zum Abendessen in einem
wohlbekannten Restaurant. Vorbeigehende mögen sich über diese beiden - dem
berühmten Panzer-General und dem Journalisten, der vom ganzen
Establischment gehasst wurde, plaudernd
zusammen.
Talik
sagte mir – natürlich im Vertrauen
– was sich eines Tages ereignet
hatte. Ganassy hatte ihn bei Seite genommen und ihm gesagt, dass er neue
Instruktionen erhalten habe – statt über eine Feuerpause zu reden – konnte er
über einen israelisch-ägyptischen Frieden verhandeln.
Sehr
aufgeregt flog Talik nach Tel Aviv und eröffnete die Nachrichten Golda Meir.
Aber Golda blieb kalt. Sie sagte zu Talik, er solle sich von jedem Gespräch über
Frieden enthalten. Als sie seine
äußerste Bestürzung sah, erklärte sie, dass sie Kissinger versprochen habe,
jedes Reden über Frieden werde
unter der amerikanischen Aufsicht gehalten werden.
Und so
geschah es: ein Abkommen über eine
Feuerpause wurde unterzeichnet und eine
Friedens-Konferenz wurde in Genf ausgerufen, offiziell unter der
gemeinsamen Aufsicht der US und Sowjetunion. Ich flog nach Genf, um zu sehen,
was dort geschah. Kissinger war dort, um Terms zu diktieren;
aber Andrej Gromiko, sein sowjetischer Gesprächspartner, war ein zäher
Kunde. Nach ein paar Reden wurde die Konferenz ohne
Ergebnisse verschoben. (Für mich war es ein bedeutendes Ereignis, weil ich dort
einen britischen Journalisten, Edward Mortimer,
traf, der für mich ein Treffen arrangierte, um den PLO-Vertreter, Said
Hamami, in London zu treffen. So kam das erste Israelische PLO-Treffen
zustande. Aber dies ist eine andere
Geschichte.)
Der Yom
Kippur-Krieg kostete viele Tausende Leben, israelische, ägyptische und syrische.
Kissinger hatte sein Ziel erreicht. Die Sowjets verloren die arabische Welt an
die Vereinigten Staaten von Amerika..
Bis
Vladimir Putin auftauchte.
(dt.
Ellen Rohlfs, vom Verfasser ….