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Ein Besenstiel kann schießen
Uri Avnery,
3. Juli 2010
EIN SIEG ist ein Sieg. Ein
großer Sieg ist besser als ein kleiner, aber ein kleiner Sieg ist besser als
eine Niederlage.
In dieser Woche haben wir
einen Sieg davongetragen.
Unmittelbar, nachdem die
Turkel-Kommission aufgestellt war, um den Vorfall mit der Flotille
zu untersuchen, reichte Gush
Shalom dem Obersten Gerichtshof ein
Gesuch ein. Wir verlangten die Ernennung einer vollqualifizierten staatlichen
Untersuchungskommission. Die Gerichtsanhörung war auf letzten Mittwoch
festgelegt. Aber am Dienstagmachmittag rief
das Büro des Justizministers unsere Anwältin, Gabi Lasky, an und
informierte sie über eine Veränderung: der Ministerpräsident habe
im letzten Augenblick entschieden, der Kommission mehr Vollmachten zu
geben, und die Regierung sei dabei, die Veränderung zu bestätigen. Deshalb bat
uns der Staatsanwalt, die Anhörung um zehn Tage zu verschieben .
Keine einzige israelische
Zeitung hatte ein Wort über unser Gesuch gebracht -
etwas Undenkbares, wäre es die Initiative einer rechten Organisation
gewesen. Aber nach der
Terminverschiebung wurde es unmöglich, dies länger zu ignorieren: fast alle
Zeitungen wiesen darauf hin, dass unser Antrag eine wichtige Rolle
bei Netanyahus Entscheidung gespielt hatte.
Jacob Turkel und sein
Freund Jacob Neeman, der Justizminister, der ihn ernannt hatte, waren zu der
Schlussfolgerung gekommen, dass sie vor Gericht verlieren würden. Deshalb
verlangte Turkel, dass die Anzahl der Kommissionsmitglieder als auch die
der Vollmachten vergrößert werden sollte.
Anfangs hatte die
Kommission überhaupt kein
juristisches Ansehen. Netanyahu hatte nur drei nette Leute darum gebeten,
festzustellen, dass die Aktion der Regierung mit dem internationalen Gesetz
nicht kollidierte – mehr nicht. Jetzt scheint es so, als würde ihr das
juristische Ansehen einer „Regierungsuntersuchungskommission“ gegeben, aber
bestimmt nicht einer „Staatlichen Untersuchungskommission“. Zwischen beiden ist
ein Riesenunterschied.
DIE INSTITUTION, die
„Staatliche Untersuchungskommission“ genannt wird, ist einzigartig israelisch.
Sie gründet sich auf ein besonderes Gesetz, auf das wir alle stolz sein können.
Sie hat einen interessanten
historischen Hintergrund. In den 60ern wurde das Land von einer Kontroverse über
die Lavon-Affäre heimgesucht, bei der es um eine Reihe
von Terrorangriffen ging, die von einem israelischen Spionagering in
Ägypten ausgeführt wurde. Die Operation misslang; die Mitglieder des Ringes
wurden gefangen genommen, zwei von
ihnen wurden gehängt. Die Frage kam auf: Wer hat den Befehl dazu gegeben? Der
Verteidigungsminister Pinchas Lavon und der Chef des Armeegeheimdienstes
Benjamin Gibli beschuldigten sich gegenseitig. (Später fragte ich
Yitzhak Rabin danach; er
sagte mir: „Wenn man es mit zwei
pathologischen Lügnern zu tun hat, wie soll man das dann wissen?“)
David Ben-Gurion verlangte
leidenschaftlich nach einer „Juristischen Untersuchungskommission“. Es wurde
fast eine Obsession von ihm. Aber zu jener Zeit kannte das israelische Gesetz so
etwas nicht. Die Emotionen gingen hoch, die Regierung stürzte, und der Anwalt
der Laborpartei Jacob Shimson Shapira klagte Ben-Gurion des Faschismus an.
Es scheint, dass Shapira
wegen dieser Beschuldigung von schlechtem Gewissen geplagt wurde und
deshalb, als er später Justizminister wurde, eine vorbildliche
Gesetzesvorlage für eine
„Staatliche Untersuchungskommission“ ausarbeitete, die einem regulären Gericht
ähnelte. Er schlug vor, dass solch eine Kommission
die Vollmacht habe, Zeugen
vorzuladen, sie unter Eid zu nehmen ( mit
den üblichen Strafen für Meineid), sie im Kreuzverhör
verhören zu lassen, unter
Strafandrohung Dokumente zu fordern etc; auch dass die Kommission jede Person im
voraus warnen würde, dass sie vom Befund der Kommission geschädigt
werden könnte und ihr das Recht zusteht, von einem Anwalt vertreten zu
werden.
Als Mitglied der Knesset in
jener Zeit legte ich zwei
Gesetzesänderungen vor, die mir wichtig erschienen. Das vorgeschlagene Gesetz
besagte, dass das Oberste Gericht die Mitglieder der Kommission ernennen, aber
der Regierung die Entscheidung
der Aufstellung der Kommission
und ihren Zuständigkeitsbereich überlassen solle.
Ich behauptete, dass dies
Tor und Tür für politische Manipulationen öffnen würde und schlug vor,
dem Obersten Gerichtshof auch die Macht zur
Aufstellung einer Kommission und ihres Zuständigkeitsbereichs zu
übertragen. Meine vorgeschlagenen
Änderungen wurden abgelehnt. Die gegenwärtige Affäre zeigt, wie notwendig sie
waren.
Das Gesetz liefert eine
Alternative - die Ernennung einer
„Regierungsuntersuchungskommission“, die einen weit geringeren Rang hat. Sie
unterscheidet sich von einer „Staatlichen Kommission“ in einem äußerst wichtigen
Aspekt: ihre Mitglieder werden nicht vom Präsidenten des Obersten Gerichtes
ernannt, sondern von der Regierung selbst.
Das ist natürlich ein
großer Unterschied. Jeder mit einem Grundverständnis für Politik begreift, dass
derjenige, der die Mitglieder einer Kommission ernennt,
schon im voraus die Schlussfolgerungen stark beeinflusst. Wenn ein
Siedler von Kiryat-Arba als Chef einer Kommission
über die Legalität der Siedlungen ernannt wird, werden wohl die
Schlussfolgerungen nicht ganz dieselben sein wie die einer Kommission, der ein
Mitglied von Peace Now vorsteht.
Das wurde in der
Vergangenheit bewiesen. Nach dem Sabra- und Shatila-Massaker weigerte sich
Ministerpräsident Menachem Begin anfänglich, eine Staatliche
Untersuchungskommission zu ernennen. Doch unter dem starken Druck der
israelischen Öffentlichkeit wurde er gezwungen, es zu tun, und
die Kommission hat Ariel Sharon als Verteidigungsminister entlassen. Ehud
Olmert erinnerte sich daran und zog den Schluss: nach dem 2.Libanonkrieg
weigerte er sich hartnäckig, eine Staatliche Kommission aufzustellen und
stimmte nur einer „Regierungskommission“ zu, deren Mitglieder er selbst
bestimmte. Es überraschte nicht, dass er fast unbeschadet davon kam.
DIE ERNENNUNG der
Turkel-Kommission wurde von der israelischen Öffentlichkeit mit unverhohlenem
Zynismus begrüßt. Dieselben Medien, die fast einstimmig den Angriff auf die
Flotille unterstützten, waren jetzt bei ihrem Angriff auf den armen Turkel
und seine Kommission vereint. Sie machten ihre Witze über
das fortgeschrittene Alter ihrer Mitglieder, von denen sich einer nur mit
Hilfe eines philippinischen Helfers
bewegen konnte. Alle Kommentatoren waren sich darin einig, dass die Kommission
nicht aufgestellt war, um die Affäre zu klären, sondern nur, um Präsident Barack
Obama zu helfen, die Ernennung
einer internationalen Untersuchungskommission zu blockieren.
Alle stimmten darin
überein, dies sei eine lächerliche, zahnlose Kommission,
ihre Zusammensetzung sei
mitleidserregend und der Aufgabenbereich marginal. Es scheint, als ob der
Richter Turkel selbst beschämt
gewesen sei. Nachdem
er die Ernennung nach Netanyahus Bedingungen angenommen hatte, drohte er
letzte Woche, zurückzutreten, wenn seine Vollmacht nicht vergrößert werde.
Netanyahu gab nach.
Jacob Turkel, 75, ist ein
anständiger Mensch, der im Lande geboren wurde und Sohn von Immigranten aus
Österreich war ( Turkel, eigentlich Türkel ist ein deutscher Name und bedeutet
kleiner Türke – ziemlich ironisch
für eine Person, die
beauftragt wurde, den Angriff auf ein türkisches Schiff zu untersuchen). Er ist
religiös, und seine Akte als Richter zeigt eine rechts gerichtete Orientierung.
Zum Beispiel hat er entschieden, dass das kriminelle Verhalten des
rechtsextremen Moshe Feiglin nicht „unehrenhaft“ sei, sodass er – laut
israelischem Gesetz - bei den
Wahlen kandidieren könne. Er weigerte sich, Rabbiner Ido Alba wegen Hetze zu
verurteilen, nach dem der Rabbiner verkündet hatte,
das Töten von Nicht-Juden sei nach der jüdischen Religion
erlaubt. Er entschied, Binyamin Ze’ev Kahane, den Sohn von
Meir Kahane, von einer Anklage der Hetze freizusprechen. Als Ehud Barak
Ministerpräsident war, entschied Turkel,
er habe nicht das Recht,
Friedensverhandlungen zu führen, weil sich die Wahlen näherten.
Und so weiter.
NETANYAHUS ENTSCHEIDUNG,
die Vollmacht der Kommission zu vergrößern, damit sie in der Lage sei, Zeugen
vorzuladen, ist weit von dem entfernt, was nötig ist. Die Kommission wird
nicht in der Lage sein, zu untersuchen, wie und von wem die Verhängung der
Blockade über den Gazastreifen entschieden wurde, wie beschlossen wurde, die
Flotille anzugreifen, wie die Operation geplant und wie
sie ausgeführt wurde. Deshalb sehen wir keinen Grund, unsere Petition an
den Obersten Gerichtshof - die Turkel-Kommission aufzulösen und eine offizielle
Staatliche Untersuchungskommission zu ernennen – aufzulösen. Um so mehr, als
Turkel selbst eine Woche vor seiner Ernennung ebenfalls
eine Staatliche Untersuchungskommission gefordert hatte.
Wie stehen die Chancen?
Nicht zum besten. Der Oberste Gerichtshof kann
sich bei dieser Sache nur dann einmischen, wenn wir beweisen,
die Regierungsentscheidung sei „extrem unvernünftig“. Und tatsächlich ist
die staatliche Untersuchungskommission
bei viel weniger bedeutenden Angelegenheiten als dieser Affäre ernannt
worden. Die Affäre hat das israelische öffentliche Vertrauen in die Armee und
die Regierung untergraben, die ganze Welt gegen uns erhoben und einen schweren
Schlag gegen unsere Beziehungen zur Türkei ausgeübt. Wenn dies nicht eine Sache
von „öffentlichem Interesse“ ist – wie es das Gesetz verlangt – was ist es dann?
Ein jüdischer Witz erzählt
von einer Frau, die ein
Fleischgericht in die Kloschüssel fallen ließ. Als sie den Rabbiner fragte, ob
es noch immer kosher sei, antwortete er: „ Es ist koscher
- aber stinkt“. Das Gericht
wird wohl in diesem Sinne entscheiden.
Turkel und seine Kollegen
können natürlich jene überraschen, die sie ernannt haben und
willkürlich den Umfang ihrer Untersuchung vergrößern. Solche Dinge sind
in der Vergangenheit schon passiert. Ein anderes jüdisches Sprichwort heißt:
„Wenn Gott will, dann kann auch ein Besenstiel schießen.“.
Aber die Chancen stehen schlecht.
DIESE AFFÄRE hat
eine weitere Bedeutung als
der Vorfall mit der Flotille. Es lohnt sich, sich damit zu befassen.
Die meisten Kritiker
Israels – besonders im Ausland -
sehen das Land als einen eindimensionalen Monolith. Sie sehen alle seine
(jüdischen) Bürger im Parademarsch hinter ihrer rechten Regierung marschieren,
die von einer dunklen Ideologie verzehrt, die Besatzung unterstützen, die
Siedlungen bauen und die
Kriegsverbrechen begehen. Dies ist
übrigens ein Spiegelbild der Bewunderer Israels in der Welt, die
Israel auch als eindimensionalen Monolith sehen: alle Bürger marschieren
stolz hinter ihren tapferen und entschlossenen Führern – Binjamin Netanyahu,
Ehud Barak und Avigdor Lieberman.
Die Wahrheit liegt weit von
diesen beiden Karikaturen entfernt. Es genügt, wenn ein ausländischer Besucher
ein paar Wochen in Israel verweilt und in Kontakt mit seiner Bevölkerung kommt,
um zu sehen, dass die Realität viel, viel komplexer ist. (Tatsächlich wage ich
zu sagen, dass jemand, der dies nicht getan hat, unmöglich verstehen kann, was
hier geschieht.)
Alle menschlichen
Gesellschaften sind kompliziert und vielgesichtig, und die israelische
Gesellschaft mit ihrer einzigartigen Geschichte ist
noch komplizierter als die meisten anderen.
Die Flotillen-Affäre – relativ klein, aber typisch – zeigt das noch
einmal.
Die Forderung, die Wahrheit
über die Affäre zu enthüllen, ist
ein Teil der Schlacht für die israelische Demokratie, für den Ruf des Obersten
Gerichtshofes, tatsächlich für das Wesen des Staates.
Einige sehen diesen Kampf
als eine Schlacht zwischen zwei Blöcken – auf einer Seite die nationalistische,
religiöse, militaristische, anti-demokratische Rechte und auf der andern Seite
die liberale, demokratische, säkulare, die den Frieden liebende Linke.
Jeder, der
solch eine Vorstellung in sich hat, denkt an etwas wie die Schlacht von
Waterloo, bei der zwei große Armeen
auf dem Schlachtfeld zusammenstießen und die eine die andere besiegte. Aber der
Kampf um Israel ähnelt mehr einer mittelalterlichen Schlacht, bei der
der Zusammenstoß der Armeen
sich in ein Handgemenge von Tausenden Duelle verwandelt – einer gegen einen, und
dies kann sehr lange dauern.
DIESE SCHLACHT für Israel
ist zusammengesetzt aus
hunderttausend kleiner Schlachten, die
auf tausend und einer Arena
ausgefochten werden. Alle israelischen Bürger sind darin verwickelt –
entweder aktiv oder passiv, Richter und Professoren, Armeeoffiziere und
Politiker, Wähler und Soldaten, Aktivisten und Zuschauer, Journalisten und
Jugendidole, Arbeiter und Magnaten, Rabbiner und Antireligiöse, Umweltschützer
und Aktivisten im sozialen Bereich
– jeder von uns nimmt durch seine Taten und Unterlassungen an dieser Schlacht
um den Charakter unseres Staates teil.
Der Kampf gegen die
Besatzung und gegen die Siedlungen ist ein Teil dieses Krieges. In diesem Krieg
geht es um die Gestalt der
israelischen Gesellschaft, einer Gesellschaft im Werden. Dieser Krieg ist noch
lange nicht entschieden. Jeder, der glaubt, das Ende
sei voraussehbar, dieses
oder jenes „müsse“ geschehen, so und nicht anders, irrt sich. Ein Sieg in einer
Schlacht und selbst in einer Reihe
von Schlachten wird nicht entscheidend sein, weil es noch viele Schlachten in
der Zukunft geben wird. Wenn Millionen von Menschen involviert sind – Männer und
Frauen, Junge und Alte, Juden und Araber, Westliche und Orientalen, Orthodoxe
und Säkulare, Reiche und Arme, Alteingesessene und Neueinwanderer, das ganze
breite Spektrum der israelischen Gesellschaft – dann ist nichts im voraus
sicher.
Die
Kontroverse um die Turkel-Kommission als auch der Kampf zur Befreiung von
Gilad Schalit und all die anderen Kämpfe, die in diesem Augenblick in Israel
stattfinden, müssen in diesem Licht gesehen werden. Kleine Ausschnitte eines
großen, langen und anhaltenden Kampfes, in dem unsere Handlungen von Auftrag und
Unterlassung die Zukunft unseres Staates entscheiden wird.
Dies war schließlich das
Ziel der ganzen historischen Übung, die Gründung Israels: unser Schicksal in
unsere eigenen Hände zu nehmen und verantwortlich für seine Folgen zu sein.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)